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Wohlfühlen mit Montaigne

Von Evelyne Polt-Heinzl

Zuerst ist die neue Übersetzung der Essais 1998 in Hans Magnus Enzensbergers "Anderer Bibliothek" erschienen, die etwas verloren in der Spaßkultur-Programmsuppe des Eichborn Verlages herumschwimmt. Zwar nach wie vor hochpreisig, hat "Die Andere Bibliothek" in punkto ästhetischer Ausstattung mittlerweile einiges an Treffsicherheit eingebüßt. Wer ausgerechnet Montaignes leichtfüßige Gedankenspaziergänge als feudale Familienbibel präsentiert, mit Ornamentik in Gold außen und himmelblau innen, hat den Elementarsatz der Buchkunst vergessen, dass Ausstattung und Gehalt einander entsprechen sollen. Der programmatische Untertitel "Erste moderne Gesamtübersetzung" in geprägten Goldlettern hat einfach eine groteske Note.

Aber nun geht's auch wohlfeiler - statt um 77 Euro sind die "Essais" seit kurzem um 30 Euro als dreibändige Taschenbuch-Kassette bei Goldmann erhältlich. Selbst die gnadenlose Bebilderung des gesamten Buchkörpers, die heute bei Publikumsverlagen kaum zu vermeiden ist, stört nach dem ästhetischen Fauxpas bei Eichborn kaum mehr. Der in Blautönen gehaltene Blick in ein Buchregal voll alter Folianten mit prächtigen Buchschnitten wirkt einladend. Im eigenen Buchregal sollte man auf Montaignes Essais auf keinen Fall verzichten, denn sie gehören zu jenen Büchern, die sich nie auslesen lassen. Das hat nichts mit dem beeindruckenden Umfang von insgesamt 1.721 Seiten zu tun, sondern damit, dass man in diese Bände immer wieder hineinblättern und -lesen kann und jedes Mal Neues entdecken wird.

Philologisch mag die Neuübersetzung von Hans Stilett problematisch sein. Wolfgang Manz hat sich über Inkonsequenzen, Schlampereien und auch Übersetzungsfehler vor einiger Zeit in der "Neuen Rundschau" kluge und überzeugende Gedanken gemacht. Als Leseausgabe genommen ist die überwiegend dem heutigen Gebrauch angepasste Sprache und vor allem der Verzicht auf Originalzitate, Nachweise und Kommentare jeglicher Art durchaus funktional und räumt Hürden und Barrieren weg, die vom Griff zu Klassikern früherer Jahrhunderte oft abhalten.

Mit dem Lesevergnügen kann man an jeder beliebigen Stelle beginnen. Zum Beispiel mit dem Kapitel "Über die Hinkenden". Um die geht es allerdings nicht wirklich, sondern darum, "ein wie ungenau arbeitendes, unzuverlässiges Instrument doch der menschliche Verstand ist", der ständig Gründe und Ursachen von Dingen sucht und auch findet, die es gar nie gegeben hat. Fortwährend biege sich die menschliche Erfindungskraft Begründungen für jede Art von Hirngespinsten zurecht. Sei es die zu Montaignes Lebenszeit akute Frage, warum es "Hexen" gibt und wie mit ihnen zu verfahren sei, oder warum Hinkende über eine besondere Libido verfügten.

Das sind heilsame Relativierungen für ein wissenschaftsgläubiges Zeitalter, dessen Heraufdämmern Montaigne erlebte und kommentierte. Oft sind seine Überlegungen auch verstörend. Zum Beispiel der kurze Text "Alles zu seiner Zeit!". Dass Cato noch als Greis mit großem Eifer daran ging, Griechisch zu lernen, sieht Montaigne nicht als Leistung, sondern als "Rückfall in die Kindheit". Jedes Lebensalter habe die ihm zugehörige Tätigkeit: Der junge Mensch müsse lernen, der alte aber das Gelernte anwenden, und der größte Makel des Menschen sei, dass sich seine Wünsche "ohne Unterlass verjüngen".

Das trifft mitten in unser schönes Konzept vom "lebenslangen Lernen", das recht stimmig in aktuelle Träume von ewiger Jugend und Schönheit passt. Bekenntnisse zum biologischen Lebensalter stehen hingegen zur Zeit nicht besonders hoch im Kurs. Der erbitterte Abwehrkampf gegen den natürlichen Ablauf der Lebensphasen hat auch mit der Tabuisierung des Todes zu tun, gegen die Montaigne sein Leben lang anschrieb. Die Frage nach Möglichkeiten erfüllter Lebensführung mit dem bewussten Blick gerade auf die eigene Endlichkeit ist eines der Hauptthemen der Essais, wie immer das jeweilige Überthema auch lauten mag.

Montaigne, der große Wiederentdecker der Philosophie antiker Lebenskunst, kann durchaus als kostengünstige Therapie-Variante betrachtet werden: jeden Tag einen seiner Essais lesen, vor dem Frühstück oder nach dem Nachtmahl, dann lässt sich dem medialen Dauerbeschuss mit Sprach- und Denkhülsen vielleicht besser standhalten. Bei längerer Dauer der Anwendung könnte dies sogar dazu führen, dass wir wieder entdecken, was Wörter wie "Gelassenheit" wirklich bedeuten.

Freitag, 28. Februar 2003

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