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Die "Live Aid"-Aktion von 1985 hatte in dem afrikanischen Land katastrophale Folgen

Tödliches Mitleid für Äthiopien

 Plakat von einem der Live-Aid-Konzerte.

Plakat von einem der Live-Aid-Konzerte.

Bob Geldof bei einem seiner Besuche in Äthiopien. Die von ihm und der

Bob Geldof bei einem seiner Besuche in Äthiopien. Die von ihm und der "Live Aid"-Aktion lukrierten Gelder und Transporthilfen, die die Hungersnot im Land lindern sollten, wurden für den Kampf gegen Rebellen eingesetzt. Foto: EPA

Von Robert Dempfer

Am Tag danach wagte nur einer zu fragen: "Was passiert mit dem Geld? Jeden, der gerade zehn Stunden in Wembley verbracht hat, sollte das interessieren!" Terry Coleman von der englischen Tageszeitung "The Guardian" war dabei gewesen, als am 13. Juli 1985 die größten Rockstars der damaligen Zeit länger als zehn Stunden für die Hungernden in Äthiopien spielten. Organisiert vom britischen Sänger Bob Geldof ("Boomtown Rats"), ging "Live Aid", das Konzert des Jahrzehnts, zeitgleich im Londoner Wembley-Stadion und in Philadelphia (USA) über die Bühne. Anders als bei den meisten Großereignissen braucht eine ganze Generation nicht lange nachzudenken, wo sie damals war: vor dem Fernseher! 1,5 Milliarden Menschen auf der ganzen Welt sahen zu.

Bis sie eine Antwort auf Colemans Frage bekamen, mussten sich alle ein wenig gedulden. Als sie dann gegeben wurde, war sie zu hässlich, um wahr sein zu können. Die äthiopische Hungerkatastrophe von 1984/85 hätte die Ursache für überwältigende Solidarität der westlichen Welt mit den Hungernden in Afrika sein sollen, inklusive Happy End. Tatsächlich aber zeigte sie, wie tödlich Mitleid sein kann.

Erst knapp ein Jahr zuvor hatten Fernsehbilder aus Äthiopien Schockwellen um den Erdball gesandt. Zur besten Sendezeit zeigte die BBC Bilder von einer Hungersnot, die von der äthiopischen Regierung monatelang geheim gehalten worden war. "Morgengrauen" , sprach BBC-Reporter Michael Burke in die Kamera, "die ersten Sonnenstrahlen vertreiben die klirrende Kälte hier auf der Hochebene von Korem. Und sie beleuchten eine biblische Hungersnot. Heute, mitten im 20. Jahrhundert."

Die Bilder von sterbenden Müttern und Kindern überwältigten zuerst die Fernsehzuschauer in Großbritannien, dann den Rest der westlichen Welt. Eine Welle der Hilfsbereitschaft setzte ein, sowohl bei Regierungen als auch bei privaten Spendern. Von den Bildern bewegt, machte sich auch Bob Geldof daran, "den Hunger in Mode zu bringen" . Unter dem Namen "Band Aid" brachten er und 40 weitere Rockstars zu Weihnachten 1984 die Single "Do they know it‘s Christmas?" heraus – in der Absicht, 70.000 Pfund (105.000 Euro) für die Hilfsorganisation in Äthiopien einzuspielen. Es wurden schließlich 8 Millionen (rund 12 Millionen Euro).

Die Single wurde zur bestverkauften in den britischen Charts. Der Erfolg inspirierte Geldof, "Live Aid" zu organisieren. Diesmal flossen 50 Millionen Dollar nach Äthiopien, um die Hungernden zu retten. Zehntausende Helfer strömten ins Land. Unter ihnen war auch der französische Arzt Rony Brauman von der Organisation "Ärzte ohne Grenzen". Brauman ist einer der wenigen Intellektuellen in einem Gewerbe, das schon 1985 ein knallhartes Milliardengeschäft war.

"Ärzte ohne Grenzen" waren damals die einzigen Helfer in Korem, und Brauman sah, was Michael Burkes BBC-Bericht nicht zeigte: etwa die kreischenden Kampfjets der äthiopischen Regierung auf ihrem Weg in den Norden des Landes. Und hätte der BBC-Kameramann so wie Brauman seinen Blick seitwärts gerichtet, dann wären auch die Raketenwerfer und Militärkonvois der äthiopischen Regierung auf der Hochebene im Fernsehen zu sehen gewesen. Der Bericht hätte dann auch von der Regierungsarmee auf ihrem Weg in die nordäthiopischen Provinzen Eritrea, Tigray und Gondar erzählen können, und von ihrem Auftrag, die Guerilla dort auszurotten.

Denn Äthiopien befand sich zur Zeit der Hungerkatastrophe mitten in einem Bürgerkrieg. Die Rebellen der Tigray People’s Liberation Front (TPLF) kämpften um die Abspaltung ihrer Provinz von der äthiopischen Zentralregierung unter Staatschef Oberst Mengistu in Addis Abeba. In diesem Krieg kamen nicht nur Waffen zum Einsatz. Die kollektive Form der Landwirtschaft hatte zu einer merklichen Ertragsschwäche geführt. Trotzdem wurde das Besteuerungssystem für die Bauern aufrecht erhalten. Die kommunistische Misswirtschaft war verantwortlich dafür, dass ein moderater Ernteausfall eine Hungersnot auslöste.

Hunger als Waffe

Dahinter steckte Methode. Die Regierung hatte beschlossen, Hunger als Waffe gegen die Rebellen einzusetzen. Nach außen wurden die Ursachen als Naturereignis dargestellt: "Äthiopien leidet im Moment unter den Folgen einer Dürre, welche die meisten afrikanischen Länder betrifft" , erklärte Staatschef Mengistu. "Die revolutionäre Regierung hat bereits Sofortmaßnahmen getroffen, um den Opfern dieser abnormalen Erscheinung des Weltklimas zu helfen." Das wahre Ausmaß der Katastrophe bekanntzugeben, hätte einen Schatten auf die Zehnjahresfeier des kommunistischen Regimes geworfen – undenkbar in einer Diktatur.

Die Medien hatten die Hungersnot aufgedeckt. Aber deren Ursachen blieben im Dunkeln. Das eben anlaufende Hilfsspektakel half, die wahren Absichten des Regimes zu verbergen. Staatschef Mengistu selbst muss am meisten überrascht darüber gewesen sein, wie leicht er dank des nun beginnenden Wettrennens der Helfer mit einem Schlag aus der Verantwortung für die Hungersnot entlassen wurde. Er ging deshalb noch einen Schritt weiter und begann, den Westen wegen seiner Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern anzuklagen. Außerdem nahm er die Chance wahr, die Opfer in Form von Milliarden-Hilfsgeldern zu barer Münze zu machen. Gleichzeitig nutzte die Regierung die humanitäre Logistik, die ins Land geschafft wurde, um ein bereits geplantes Umsiedlungsprogramm rascher voranzutreiben.

Auch die humanitäre Hilfe wurde jetzt zur Waffe gegen jene, die gerettet werden sollten: die Bevölkerung in den Rebellengebieten im Norden. Die Hungernden strömten in die riesigen Versorgungszentren der Helfer in der Hoffnung auf Wasser, Nahrung und ärztliche Hilfe. Doch dort wurden sie von Soldaten auf Lastwagen verfrachtet und in die "neuen Wirtschaftszonen" des Südens – mit anderen Worten: in Arbeitslager – gebracht. Schließlich wurden sogar Fahr- und Flugzeuge der Hilfsorganisationen für diese Transporte verwendet.

"Man kann sagen, dass ein Teil der logistischen Kapazitäten, welche die Hilfsorganisationen ins Land brachten, dafür eingesetzt wurden, das Umsiedlungsprogramm durchzuführen" , erinnert sich der Rotkreuz-Arzt Jean-David Chappuis. Rony Brauman formuliert es weniger zurückhaltend: "Unsere Autos, unsere Lastwagen, sogar unsere Flugzeuge – und natürlich die anderer Hilfsorganisationen – wurden verwendet, um Leute umzusiedeln."

Die Helfer standen vor einem ungeheuren Dilemma: Die Versorgungszentren weiter betreiben und so an den Deportationen mit schuldsein? Oder die Arbeit beenden und die Menschen verhungern lassen? Tony Vaux, damals für das britische Hilfswerk Oxfam in Äthiopien, beschreibt die Stimmung so: "Angesichts der gewaltigen Hungersnot empfanden wir es als Zeitverschwendung, uns über die abstrakten politischen Verhältnisse zu beklagen, die sie verursacht hatten."

Zwei kleinere Hilfswerke beschlossen trotzdem, die Hintergründe der Hungersnot genauer unter die Lupe zu nehmen. Unabhängig voneinander beauftragte das Berliner Missionswerk den Schweizer Journalisten Peter Niggli und die amerikanische NGO "Cultural Survival" den Anthropologen Jason Clay, die Ursachen der Katastrophe zu untersuchen. Deren Berichte bestätigten die schlimmsten Befürchtungen.

Das World Food Programme der Vereinten Nationen und mehrere Hilfsorganisationen registrierten die so genannten "Umsiedler" in Transitlagern auf dem Weg vom Norden in den Süden. Der französische Arzt Rony Brauman hat die Register genauer angeschaut: "Rund 15 Prozent der Umgesiedelten", sagt er, "haben die Transit-Lager im Norden erst gar nicht verlassen. Sie starben an Auszehrung, an Krankheiten, oder sind einfach verhungert." Brauman fand auch heraus, dass die Register der "Aussiedler" im Norden weitaus mehr Namen enthielten als die Register derjenigen, die tatsächlich im Süden angekommen waren.

Die für die Menschen aus dem Norden ungewohnten Lebensbedingungen im südlichen Tiefland besorgten den Rest. "Malaria, Bronchitis wegen der hohen Feuchtigkeit, Infektionskrankheiten und solche, die durch Parasiten hervorgerufen werden, die fehlende Immunisierung dagegen, die Trennung der Familien und ihre allgemeine Erschöpfung" waren für die ausgezehrten Bergbewohner zu viel, bestätigt auch Jean-David Chappuis.

Brauman hat auch dort nachgezählt: "Ein Viertel der Menschen, die den Transport überstanden hatten, überlebten die ersten Monate in den neuen Siedlungsgebieten nicht." Zwischen 150.000 und 200.000 Menschenleben, schätzen Brauman sowie Peter Niggli und Jason Clay, forderte die erzwungene Umsiedlung 1985. "Mehr als der Hunger im selben Jahr" , wie Brauman in seinem leider wenig beachteten Film "La pitié dangereuse" ("Das gefährliche Mitleid") dargelegt hat. Die Umsiedlung fand, wenn nicht unter der vorsätzlichen, so doch unter der aktiven Beteiligung der Hilfsorganisationen und der Vereinten Nationen statt.

Vergebliche Proteste

Als das "Rote Kreuz" und "Ärzte ohne Grenzen" das wahre Ausmaß der Hintergründe erkannten, protestierten sie. Das "Rote Kreuz" hinter verschlossenen Türen vor Regierungsvertretern in Addis Abeba. "Ärzte ohne Grenzen" versuchte, die internationalen Medien zu mobilisieren, um die Deportationen zu stoppen. Vergeblich. Beide Organisationen wurden von der Regierung des Landes verwiesen. Die anderen machten weiter. Es stand auch einiges auf dem Spiel: "Visibility" – also die "Sichtbarkeit" der Organisationen im Fernsehen. Denn die ließ sich in Spenden umsetzen.

Was tat jener Mann, der die meiste Aufmerksamkeit der internationalen Medien auf sich zog? Geoff Loane vom "Roten Kreuz" war bei einigen Treffen zwischen Bob Geldof und der äthiopischen Regierung dabei, bevor die Organisation des Landes verwiesen wurde. Er erinnert sich: "Geldof hat dabei die Regierungspolitik mehrmals kritisiert. Alleine das war unter den damaligen Umständen schon eine mutige Tat."

Rony Braumann hat andere Erfahrungen gemacht. Er und seine Mitarbeiter hatten damals versucht, Geldof auf den Missbrauch der Hilfsorganisationen aufmerksam zu machen: "But Geldof didn’t give a shit." Auch für ihn stand einiges auf dem Spiel: "Er brauchte dieses Konzert" , so Brauman. "Das war so wichtig, dass es alle anderen Schwierigkeiten verdrängte."

Neuauflage für "Live 8"

Für die Organisation des Konzerts wiederum benötigte Geldof "field legitimacy": Die Glaubwürdigkeit, vor Ort bei den Opfern gewesen zu sein. So entwickelte sich der Popstar durch seine Reisen ins Katastrophengebiet in der Öffentlichkeit "zum Sprecher und Botschafter der äthiopischen Regierung" , sagt Brauman. "Und das war’s dann auch schon. Deshalb wollte er nicht, dass ihm irgendjemand mit Schwierigkeiten in den Ohren lag."

Die Arbeit aller Beteiligten beschränkte sich weiterhin auf reine Überlebenshilfe. Der Vorhang der Hilfslogistik fiel über die Ursachen für die Deportationen. Rony Brauman leitet heute das Forschungszentrum der Stiftung Ärzte ohne Grenzen in Paris. Jason Clay steht dem Worldwide Fund for Nature in Washington vor, und Peter Niggli arbeitet für Swissaid, eine Arbeitsgemeinschaft schweizerischer Hilfsorganisationen. Ihre Berichte über die Hungerkatastrophe in Äthiopien vor 20 Jahren schlummern unbeachtet in nicht leicht zugänglichen Archiven.

Das Rock-Spektakel von 1985 erfährt am Samstag, den 2. Juli, unter dem Namen "Live 8" eine Neuauflage. Die inhaltlichen Ziele sind bescheidener geworden: Es gehe darum, im Vorfeld des G8-Gipfeltreffens in Edinburgh "das Bewusstsein für die Probleme der armen Länder zu schärfen. Denn Spenden alleine" , so der mittlerweile längst zum Sir geadelte Bob Geldof, "lösen keine Probleme" .

Robert Dempfer , geboren 1967, Journalist und langjähriger Mitarbeiter von internationalen Hilfsorganisationen, lebt in Wien und Adelaide.

Freitag, 01. Juli 2005

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