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Sehnsucht nach Frieden

Der kleine Staat Eritrea sucht einen eigenständigen politischen Weg
1993 feierte die Bevölkerung von Eritrea die neue Unabhängigkeit von Äthiopien.  Foto: EPA

1993 feierte die Bevölkerung von Eritrea die neue Unabhängigkeit von Äthiopien. Foto: EPA

Von Alfred Mansfeld

Asmara, Mitternacht. Zwei junge Frauen gehen die Liberation Avenue der eritreischen Hauptstadt entlang und biegen sorglos kichernd in eine dunkle Seitengasse ein. Ich bin erstaunt. Würden sie ähnliches in Nairobi, Addis Abeba oder einer anderen afrikanischen Hauptstadt, die ich auf meinen Reisen durch diesen faszinierenden Kontinent kennen gelernt habe, riskieren, wäre ich um ihre Sicherheit mehr als besorgt.

Als ich dieses Erlebnis am nächsten Tag Negusse, einem Assistenten an der Universität Asmara, und anderen Freunden erzähle, ernte ich ein Lächeln, wie es nur ahnungslosen Fremden geschenkt wird. Die Kriminalitätsrate in Eritrea ist die niedrigste am ganzen Kontinent. Nach einem langen Krieg haben die Menschen genug von Gewalt und genießen den Frieden.

Dabei ist gerade "Frieden" ein relativer Begriff im Jahr 2000, der Zeit meines ersten Besuches in diesem ungewöhnlichen Land. Neun Jahre sind seit dem Ende des 30-jährigen Unabhängigkeitskrieges von Äthiopien vergangen, sieben Jahre seit der Staatswerdung. Doch schon wieder sieht sich Eritrea in Auseinandersetzungen mit dem großen Nachbarn verstrickt.

Die politische Lage

Die Gründe dafür sind undurchsichtig. Einmal hieß es, Äthiopien brauche einen freien Zugang zum Meer. Doch der Hafen Assab stand Äthiopien als Freihandelszone zur Verfügung. Keinerlei Steuern mussten entrichtet werden, lediglich die Verwaltungsgebühren, die für jeden anfallen, der die Anlagen benutzt. Dann wieder hieß es, es sei eine alte Landkarte aufgetaucht, nach der das Provinznest Badme zu Äthiopien gehöre. Ein kleiner Flecken Wüstensand – deshalb sollte ein Krieg erklärt werden?

Die strittigen Punkte wurden im Friedensvertrag von Algier und die Grenzziehung im Grenzurteil von Den Haag unter internationaler Vermittlung, Überwachung und Garantie ausgeräumt bzw. geklärt. Dennoch müssen die UNO-Friedentruppen im Land bleiben – und Äthiopien weigert sich, die selbst ausgehandelten Verträge endgültig anzuerkennen.

Bedenklich für das kleine Land an der Küste des Roten Meeres ist wohl in erster Linie der innere Zustand des riesigen Nachbarstaates. In Eritrea leben knapp vier Millionen Menschen in neun Volksgruppen. Interethnische Konflikte gibt es nicht. Die politische Lage ist stabil. Das durchschnittliche Wirtschaftswachstum von sieben Prozent vor dem Konflikt von 1998 bis 2001 ist bald wieder erreicht.

In Äthiopien leben 65 Millionen Menschen, in unzählige Volksgruppen aufgesplittert. Die größten unter ihnen, Oromos und Somalis, haben eigene politische Bewegungen, die mitunter auch durch Waffengewalt die Autonomie ihrer Gebiete durchsetzen wollen. Ein Schreckensszenario für die internationale Staatengemeinschaft. Wenn Äthiopien zerbricht, wenn auf diesem Kontinent, dessen Grenzen zum Großteil noch unter Bismark auf der Berliner Konferenz 1884/1885 gezogen wurden, die Grenzen instabil zu werden beginnen, könnte ein Kartenhaus zusammenstürzen.

Ist also Äthiopien für alle Zeiten die Hegemonialmacht am Horn von Afrika? Diese Zukunftsperspektive wird von der Realität in Frage gestellt. Allein in den vergangenen Tagen wurden in diesem Land 40 Menschen bei Demonstrationen getötet. Die Wahlen vom 15. Mai 2005 stehen unter dem massiven Verdacht des Wahlbetruges. Human Rights Watch berichtet von Folterungen und Inhaftierungen der Opposition.

Das ist eine besorgniserregende Situation für Eritrea. Wird der kranke Riese wieder versuchen, mit aggressiver Außenpolitik von der innenpolitischen Situation abzulenken? Steht Äthiopien am Rande eines Bürgerkrieges? Ist mit Flüchtlingsströmen oder Krieg zu rechnen?

Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass in Eritrea nach wie vor allgemeine Wehrpflicht herrscht. Den Luxus eines alternativen Dienstes kann sich das Land – noch – nicht erlauben. Wo irgend möglich, wird die Militärzeit jedoch als Periode der Weiterbildung und Schulung genützt. Frauen und Männer lernen in der Armee neue Fertigkeiten, wie das Reparieren von Kraftfahrzeugen, Traktoren und landwirtschaftlichen Geräten, erhalten eine Sanitätsausbildung oder werden als Administratoren eingesetzt. Ehemalige Angehörige der Marine legen den Grundstein zur Entwicklung des Tourismus im Küstengebiet. Allerdings steht Wehrdienstverweigerung unter Strafe. Besonders Angehörige der neu entstandenen Zeugen Jehowas, die prinzipiell keiner Armee beitreten, stellen dies als Christenverfolgung und als Bruch der Menschenrechte dar.

Parallel zur militärischen Vorbereitung für einen Fall, von dem alle hoffen, dass er niemals eintreten werde, werden aber auch andere friedenserhaltende Maßnahmen gesetzt. So hatte Eritrea 2001, am Höhepunkt des letzten Konfliktes, versucht, mit friedlichen Mitteln zu einer Beruhigung der Situation in Äthiopien beizutragen. Angesichts der Hungerkatastrophe im Osten Äthiopiens hatte es angeboten, seine Häfen für internationale Hilfslieferungen zollfrei zu öffnen, die Kampfhandlungen einzustellen und die Konvois über die Frontlinien passieren zu lassen.

Das Angebot wurde zurückgewiesen. Jenes Land, dessen Name mittlerweile weltweit ein Synonym für Hunger darstellt, war nicht bereit, Hilfe für seine Bevölkerung zu akzeptieren. Allerdings betraf die Hungerkatastrophe des Jahres 2001 Gebiete, in denen die ONLF, die Ogaden National Liberation Front der Somalis, aktiv war.

Die Situation am Horn von Afrika ist alles andere als einfach. Hier wird das zukünftige Schicksal des gesamten Kontinents entscheidend mitbestimmt. Umso erstaunlicher sind die Leistungen eines kleinen Landes wie Eritrea in seinem Bemühen um Entwicklung, Unabhängigkeit und Stabilität.

Die Schäden des 30-jährigen Krieges waren bereits nach wenigen Jahren kaum mehr sichtbar. Straßen wurden gebaut, Gebäude renoviert und neu errichtet, Felder entmint, ein Terrassierungs- und Wiederaufforstungsprojekt umgesetzt. In jedem der sechs Bundesländer wurde ein modernes Krankenhaus zur Versorgung der Bevölkerung errichtet. Gleichzeitig wurde Aufklärungsarbeit über die Ursachen der weitestverbreiteten Krankheiten geleistet. Daraus entstand ein erfolgreiches Projekt mit Beispielwirkung für den ganzen Kontinent: Bei der Bekämpfung von Malaria wird auch deren Urheber, die Anopheles-Mücke, bekämpft und nicht nur die Krankheit selbst. Das kann nur unter Mitwirkung der Landbevölkerung geschehen. Sie kennt die Brutstätten des Insektes und hilft mit, die meist feuchten Gebiete mit großen Planen abzudecken, damit ein geeignetes Vertilgungsmittel die Mücken noch vor dem Schlüpfen unschädlich machen kann. Das ist angewandte Selfreliance – auf Deutsch: Eigenständigkeit.

"Selfreliance"

Damit ist jenes Wort gefallen, mit dem ein Großteil der Erfolge, des Charakters und der Politik Eritreas verständlicher wird. Auf sich allein gestellt, ohne Hilfe von außen haben die Eritreer die Unabhängigkeit ihres Landes angestrebt und erreicht. Als 1962 der von den Vereinten Nationen beschlossene Föderationsstatus mit Äthiopien vom größeren Land einseitig aufgehoben und die Annexion völkerrechtswidrig durchgeführt wurde, gab es keine Wortmeldungen oder gar Proteste der internationalen Staatengemeinschaft. Bereits damals stand die Aufrechterhaltung des Status quo über den garantierten Rechten eines Kleinstaates. Es folgten lange Jahre der Selbstfindung und des Kampfes nach innen und außen. Würde Eritrea an den Herausforderungen zerbrechen, an inneren Konflikten scheitern?

Die Lösung entwickelte sich von selbst. Nur durch Zusammenhalt, durch eine überzeugende politische Führung, durch gelebte Reformen, die die gesamte Bevölkerung in der Umsetzung mit einschließen, konnte und kann der Kampf um die Zukunft des Landes gewonnen werden. Der EPLF, der Eritrean People Liberation Front , gelang es, die Bevölkerung nachhaltig zu überzeugen. Sie fasste ihren Kampf nicht "nur" als einen um die staatliche Unabhängigkeit, sondern gleichzeitig für gesellschaftliche Veränderungen auf. Reformen wurden sofort umgesetzt und täglich gelebt.

"Village committees" organisierten die Belange der Zivilbevölkerung wie öffentliche Sicherheit, Mediation und Rechtsprechung. Werkstätten wurden eingerichtet und die medizinische Betreuung der Bevölkerung gewährleistet. Ein "Landwirtschaftsministerium" kümmerte sich um Wasserversorgung, Wiederaufforstung und Terrassierung.

Eine besondere Aufgabe lag im Bildungsbereich, und das ist bis heute so geblieben. Ausgehend von der Annahme, dass für die Übernahme von Selbstverantwortung ein Mindestmaß an Bildung notwendig ist und steigendes Bildungsniveau auch ein Mehr an Verantwortung für die Gemeinschaft bedeutet, wurden Unterricht und Weiterbildung für Angehörige der EPLF obligatorisch. Parallel dazu wurde auch der Aufbau des öffentlichen Schulwesens in Angriff genommen.

Eines der revolutionärsten Vorhaben war die Durchsetzung der Gleichberechtigung der Frau in einer patriarchalen Gesellschaft, die zuvor das weibliche Verhalten durch eindeutige Kriterien festgelegt hatte. Beschneidungen von Mädchen wurden bei der EPLF nicht vorgenommen. Frauen hatten das Recht, als vollberechtigte Mitglieder in die Bewegung – auch in die kämpfenden Verbände – aufgenommen zu werden, wenn sie die dafür notwendigen Voraussetzungen erfüllten. Das Ansuchen um Aufnahme in die EPLF musste freiwillig erfolgen – und es gab genügend Bewerber und Bewerberinnen. Sie mussten, wie alle anderen Aspiranten auch, 18 Jahre alt sein, zumindest lesen und schreiben können und über die notwendige militärische Ausbildung verfügen. Trainiert wurden Frauen allerdings in eigenen Einheiten und nicht mit Männern gemeinsam. Auch Herkunft, Religion oder ethnische Zugehörigkeit spielten keine Rolle mehr.

Unterschiede wurden relativiert. Keine der insgesamt neun Bevölkerungsgruppen gab ihre Identität auf, doch entwickelte sich in der Vielfalt ein Bewusstsein der Einheit, des aufeinander Angewiesenseins ohne Hilfe von außen. Dadurch wird auch der selbstbewusste Umgang mit Hilfsorganisationen und selbst mit anderen Staaten begreifbar. Hilfe und Partnerschaft "ja", doch Einmischung in innere Angelegenheiten "nein". Die amerikanische Hilfsorganisation CARE musste dies schmerzhaft feststellen, als ihr verboten wurde, ihren eritreischen Mitarbeitern eklatant höhere Gehälter auszubezahlen als sie Regierungsmitglieder erhielten. Ein "braindrain" musste verhindert werden.

Was Beobachtern von außen oft als autoritäre Regierungsentscheidung erscheint, wird jedoch intern heftig diskutiert. "Intern" bedeutet in diesem Zusammenhang "eritreisch". Mit der Bevölkerung im eigenen Land und mit der eritreischen Diaspora, also jenen Tausenden von Eritreern, die während des Krieges in andere Staaten geflüchtet sind. Durch ihre finanzielle Unterstützung des Heimatlandes und ihrer zu Hause gebliebenen Familien stellen sie einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar. Selbstbewusst fordern sie daher auch Mitsprache. Selbst die kleine Gemeinschaft in Österreich zitiert regelmäßig ihre Diplomaten nach Wien, um die Vorgänge in Eritrea zu diskutieren.

Offener Weg in die Zukunft

In Eritrea wird Demokratie gelebt. Nicht immer nach den Vorstellungen der westlichen Welt, also durch die Abhaltung von Wahlen. Doch in Form von Dorf- und Provinzparlamenten sowie Gewerkschaften, die Mitsprachen auf nationaler Ebene haben. Die Einführung eines Mehrparteiensystems ist absehbar, doch setzt sie einen Reifungsprozess, eine Demokratisierung von unten, voraus. Formalismen werden übernommen, wenn sie nützlich sind, sonst wird ein eigener Weg gesucht.

Diese Einstellung löst bei manchen internationalen Beobachtern Irritationen aus. Zudem bemängeln insbesondere religiös dominierte Oppositionsgruppen das Fehlen einer Parteienlandschaft. Eritrea versteht sich als laizistischer Staat. Die Bildung religiöser Parteien ist durch die Verfassung ausgeschlossen. Eine mehr als verständliche Trennung von Religion und Politik, angesichts des islamisch dominierten Sudan und des traditionell christlichen Äthiopien in unmittelbarer Nachbarschaft.

Die aus der EPLF hervorgegangene Regierungspartei "Peoples Front for Democracy and Justice" (PFDC) bemüht sich gemeinsam mit der politisch starken Frauenbewegung und den Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Gruppierungen in den Prozess der politischen Willensbildung zu integrieren. Es bleibt abzuwarten, wie dieses politische Experiment sich in Zukunft entwickeln wird und welche Strukturen aus dem eritreischen Prinzip der Selfreliance hervorgehen.

Alfred Mansfeld ist Historiker, Afrikanist und Judaist in Wien. Er beschäftigt sich seit 15 Jahren mit Afrika, insbesondere mit dem Horn von Afrika und Eritrea.

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Freitag, 01. Juli 2005

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