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1995 verbrannte in Madagaskars Hauptstadt der Palastbezirk – der Wiederaufbau ist müh sam

Ruinen vergangener Größe

Von Thomas Veser (Text und Fotos)

Während die Sonne hinter den Bergkuppen versinkt, bahnt sich in der Unterstadt das übliche Verkehrsinferno an. Stoßstange an Stoßstange quälen sich Autokolonnen durch die Straßen und Gassen der hügeligen Hauptstadt Antananarivo. Gegen das beklemmende Gefühl, hier bald zu ersticken, hilft nur der rasche Aufstieg in die Oberstadt.

Neugotische und neoromanische Kirchen aus der Kolonialzeit säumen die steile Pflasterstraße zum kuppelgekrönten Premierministerpalast, dann führt der Weg zum Scheitelpunkt des 1.462 Meter hohen Granitfelsens. Tief unten funkelt das Lichtermeer der zwei Millionen Einwohner zählenden Stadt, am Horizont zeichnen sich die Konturen der Gebirgsketten im zentralen Hochland der "Großen Insel" ab.

Madagaskars Größe und Elend liegen auf diesem Hügel eng beieinander. Wenige Meter vom Aussichtspunkt entfernt, erinnern die Überreste der ehemaligen Königsresidenz Rova an ein Drama, das vor einem Jahrzehnt weite Teile der Bevölkerung erschüttert hat. Fast drei Jahrhunderte lang hatte man an der Rova gebaut, in nur drei Stunden verbrannte am 6. November 1995 das ganze Ensemble der Bauten, und mit ihm die gesamte Ausstattung an Möbeln, Thronen, Kleidungsstücken und Gemälden. Vier junge Männer, die aus dem Flammeninferno Gegenstände bergen wollten, kamen dabei ums Leben. Durch den Brand verlor die viertgrößte Insel der Erde ihr wichtigstes Kulturgut, das in der Nationenbildung eine tragende Rolle gespielt hatte und für die Aufnahme auf die UNESCO-Welterbeliste vorgesehen war.

Königinnenpalast, Mausoleen und Holzgebäude symbolisierten nicht nur die Epoche der madagassischen Souveränität, der Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts militärisch ein Ende bereitet hatte; die aus verschiedenen Epochen stammenden Baudenkmäler zeigten beispielhaft, wie sich die einheimischen Architekten und Künstler nach und nach an Vorbildern aus Europa zu orientieren begannen.

Ein verlassener Ort

Selbst als verlassener Ruinenort übt der geheiligte Bezirk noch eine mysteriöse Anziehungskraft aus. Die Gluthitze der Brandnacht hat alle Holzbauten zu Asche verwandelt, steinerne Gräber und Teile der Fassaden an der reformierten Kirche zum Bersten gebracht. Seither bleibt der beschädigte Glockenturm, den der Schriftsteller Jean-Joseph Rabearivelo literarisch verewigt hat, stumm. "Drei langgezogene Glockenschläge, fern, fast klagend und völlig leblos, beinahe wie ein gemurmelter Nachruf, waren soeben über die Dächer der Unterstadt geirrt."

Feine Steinmetzarbeiten zieren das Eingangstor, über dem ein Falke aus Bronze seine Schwingen ausbreitet. Der Raubvogel, Symboltier für die Königsmacht, entstammt ursprünglich dem malaiisch-indonesischen Raum. Von dort stammten die Vorfahren der Rova-Erbauer, die ihre asiatische Heimat vor eineinhalb bis zwei Jahrtausenden an Bord einfacher Boote in Richtung Westen verlassen hatten. An den Ufern der fernen Insel im Indischen Ozean angekommen, zogen sie in das fruchtbare Hochland, führten den Reisbau ein und nannten ihr Reich Imerina , in Anlehnung an den Stammesnamen Merina . Von den dunkelhäutigen Bewohnern der Küstengebiete unterscheiden sich die Merina durch einen zierlicheren Körperbau, fast helle Hautfarbe und glatte Haare.

Als größte der insgesamt 18 offiziell anerkannten Ethnien erhoben sie Jahrhunderte lang den Führungsanspruch auf die gesamte Insel. Frankreichs Einmarsch vereitelte den Plan der Merina, die damals bereits zu zwei Dritteln unter ihrer Kontrolle stehende Insel militärisch zu einigen. Kein Gebäudeensemble brachte die einstige Machtfülle und Größe Imerinas besser zum Ausdruck als die vom "blauen Wald" umgebene Rova am höchsten Punkt der Stadt. Dort lebten Herrscherfamilie und Hofstaat in Harmonie mit den allgegenwärtigen Ahnen, den wahren Besitzern des Landes.

Seit dem Großfeuer, das mit hoher Wahrscheinlichkeit vorsätzlich gelegt wurde, halten Zaundrähte die Besucher auf Distanz. Was dort vor einem halben Jahrzehnt genau vorgefallen ist, ließ sich nie zweifelsfrei ermitteln. Womöglich war der Anschlag als Warnsignal an die politische Klasse gedacht. Die hatte ihre Versprechen, die desolaten Verhältnisse im Land nach dem erzwungenen Rücktritt des langjährigen Staatspräsidenten Didier Ratsiraka zu ändern, nicht gehalten.

Am selben Tag, als die Rova zu Asche wurde, hatte zuvor ein Feuer das Archiv des Finanzministeriums vernichtet. Als abends die ersten Flammen aus den Palästen loderten, suchten Angestellte fieberhaft nach Feuerlöschern, die sich aber hinter verschlossenen Türen befanden. Endlich traf die chronisch schlecht ausgerüstete Feuerwehr am Brandort ein. Und musste kapitulieren: Ihre Wasserschläuche erwiesen sich als zu kurz für die beiden einzigen Hydranten, die rund hundert Meter vom Brandherd entfernt waren.

Völlig schleierhaft bleibt, warum Einheiten der Gendarmerie und der Armee, die auf dem Rova-Hügel die schönsten Plätze und Gebäude bewohnten, der Katastrophe tatenlos zusahen. Auch der damalige Staatspräsident Albert Safy – wie alle bisherigen Präsidenten seit 1960 kein Angehöriger der Merina – hüllte sich in Schweigen. Viele Hauptstädter, die auf den Hügel geeilt waren, brachen damals in Tränen aus. Auf dem Hochland ist der 6. November noch immer Tag der kollektiven Trauer. Angebliche Schuldige wurden bald darauf verhaftet und Zeitungsberichten zufolge hat eine Gerichtsverhandlung stattgefunden, bei der Gefängnisstrafen verhängt worden sind.

Heute liefert das tragische Ereignis kaum noch Gesprächsstoff; gut drei Viertel der Madagassen lebt unterhalb der Armutsgrenze und kämpft um das tägliche Überleben.

Frondienst für den König

Ursprünglich durfte für den Bau der königlichen Paläste und Grablegen nur Holz verwendet werden. König Andrianjaka ließ 1610 das erste Bauwerk errichten, dessen Dach bestand aus Stroh, das später durch hölzerne Dachziegel ersetzt wurde. Für sämtliche Bauarbeiten ließen die Monarchen die freien Bürger des Königreiches zum Frondienst aufbieten, auch Frauen und Kinder mussten sich daran beteiligen. Nicht einmal Verpflegung wurde den Unglücklichen zugeteilt, die mussten sie selbst mitbringen.

Auch in anderen Städten entstanden ähnliche Residenzen, der Königshügel der rund 40 Kilometer von Antananarivo liegenden Stadt Ambohimanga wurde 2001 auf die UNESCO-Weltkulturerbeliste gesetzt. Er kann freilich mit der Rova von Antananarivo kaum konkurrieren.

Vom zweistöckigen, mit vier Ecktürmen versehenen Palast der Königin Ranavalona I. (1826 bis 1861), der als bestimmendes Bauwerk gedacht war, sind lediglich die wuchtigen Granitfassaden geblieben. Die hatte der Schotte James Cameron 1872 in italienischem Stil hinzugefügt.

Wie der 1839 vollendete Holzbau entstand und wie er aussah, wissen wir von der Österreicherin Ida Pfeiffer, die Madagaskar im Mai 1857 bereiste: "Allein der Bau ihres hölzernen Palastes in Antananarivo hat 15.000 Menschen das Leben gekostet. Rings um das Gebäude erheben sich 80 Fuß (ca. 24 Meter) hohe Säulen, die ein zeltartiges Dach tragen, dessen Spitze 120 Fuß (ca. 40 Meter) misst. Alle diese Säulen mussten aus bis 60 Meilen entfernten Wäldern herbeigeschafft werden. Da die Wege ungebahnt und teilweise ungangbar waren, muss man den Bau dieses Palastes zu den Wundern der Welt zählen. "

Ida Pfeiffers Beschreibung ist eines der raren zeitgenössischen Dokumente, die aus dem damals völlig abgeschotteten Madagaskar in die Außenwelt gelangten. Insbesondere beeindruckte sie die Größe des dreigeschoßigen Gebäudes, dessen tragende Konstruktion vollständig aus Holz bestand und eine Zentralsäule aus Palisander hatte . Allerdings durfte Ida Pfeiffer das Gebäude nicht betreten. Deswegen hat sie die drei großen Säle von je 360 Quadratmeter Grundfläche nie zu Gesicht bekommen.

Als umstrittene Herrscherin, die den Merina-Machtanspruch gegenüber den anderen Ethnien mit Brachialgewalt durchsetzte, erhielt Ranavalona I. in der stark von der französischen Kirche beeinflussten Geschichtsschreibung den Beinamen "die Grausame". Mit unbeugsamem Willen wehrte sie sich gegen die Europäer, vor allem die christlichen Missionare, die ihren Einfluss zunehmend ausweiteten. Schließlich ging sie als Christenverfolgerin in die Annalen ein. Charakteristisches Merkmal ihrer Gewaltherrschaft war die Einführung des Gottesurteils, Tangena genannt: Verdächtige mussten einen Becher mit Gift leeren. Starben sie, war ihre Schuld erwiesen, und ihr Hab und Gut ging in königlichen Besitz über.

Allmählich entwickelte sich ein Kastensystem, in dem streng nach Adeligen, Bürgerlichen und Sklaven unterschieden wurde. Als öffentlicher Platz im Palastbezirk diente die Kianja , dort fanden Audienzen und Gerichtsverhandlungen statt. Dort erhob sich auch der aufrecht stehende Opferstein Vatomasina .

Die Einteilung in Kasten lebt in abgemilderter Form bis heute in den Köpfen vieler Merina weiter. Dass den "Côtiers", wie die Küstenbewohner genannt werden, dabei stets die Rolle der Diener zukam, sorgt bei den Nachgeborenen selbst heute noch für Verbitterung und ruft gelegentlich Spannungen hervor. Es mag deshalb kaum überraschen, dass viele Merina den Brandanschlag spontan den in der Hauptstadt lebenden Küstenbewohnern in die Schuhe geschoben haben.

Nach dem Tod der schrecklichen Königin ließen sich ihre Nachfolgerin und der Premierminister bekehren. Sie schlugen Europäern gegenüber einen freundlicheren Ton an. Königin Ranavalona II. erließ 1868 ein Gesetz, wonach auch Stein als Baumaterial für die Rova benutzt werden durfte, und seither hielten auch europäische Architekturelemente in den Monarchenbezirk Einzug.

Französische Kontrolle

Madagaskars erster Generalgouverneur, der gefürchtete General Joseph Simon Galliéni, setzte 1897 die letzte Königin Ranavalona III. ab und verbannte sie zunächst auf die Nachbarinsel Réunion, dann ins Exil nach Algerien. Mehr als zwei Jahrzehnte nach ihrem Tod durften ihre sterblichen Überreste 1938 in die Heimat überführt und in der Rova feierlich beigesetzt werden.

Frankreich hatte die Symbolkraft des Königsbezirks schnell erkannt und dort die Kolonialverwaltung untergebracht. Nach dem Vorbild des Louvre bauten die neuen Herren einen Teil des Palastbezirks zu einem Museum um.

Im Königinnenpalast ließ der Generalgouverneur Kopien von Werken der großen Maler Frankreichs ausstellen, um den madagassischen Schutzbefohlenen die Augen für Glanz und Größe der französischen Kultur zu öffnen.

Heute herrscht in Madagaskar Einigkeit darüber, dass der königliche Bezirk wieder aufgebaut werden soll. Experten schätzen die Gesamtkosten auf annähernd 26 Millionen Euro. Westliche Spender haben bereits mehrfach ihre Bereitschaft signalisiert, einen Teil der Kosten zu übernehmen. Bisher haben die UNESCO, Frankreich, Großbritannien und Indonesien 6,6 Millionen US-Dollar gespendet. Damit konnten einige kleinere Baudenkmäler aus Holz rekonstruiert werden, die wichtigsten Gebäude, darunter der 1798 errichtete Palast Mahitsielafanjaka und der berühmte Silberne Palast von 1820 warten noch immer auf den Wiederaufbau.

Weitere Spender halten sich bisher aber vorsichtig zurück, denn sie argwöhnen – leider nicht ohne Grund! –, dass ihr Spendengeld in dunklen Kanälen versickern könnte.

Thomas Veser , geboren 1957, lebt als Journalist in Konstanz. Er ist Mitglied der Schweizer Journalistenarbeitsgemeinschaft "Pressebüro Seegrund".

Freitag, 01. Juli 2005

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