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Model und UN-Sonderbotschafterin -Ein Gespräch mit Waris Dirie

Bewohnerin zweier Welten

Von Eugen-Maria Schulak

Aufgewachsen bei den Nomaden in der Wüste Somalias, sollte Waris Dirie im Alter von

13 Jahren zum Gegenwert von fünf Kamelen an einen alten Mann verkauft werden. Was folgte, war eine spektakuläre Flucht nach Mogadishu - und weiter nach London, wo sie als Haushaltshilfe des somalischen Botschafters vorübergehend Arbeit und Unterkunft fand. In den folgenden Jahren lernte sie selbsttätig lesen und schreiben, kämpfte mit Hilfe von Scheinehen um ihren Verbleib in Europa und wurde als Fotomodell entdeckt. Eine spektakuläre Karriere in der Mode- und Werbebranche brachte sie schließlich als erstes schwarzes Model auf die Titelseite der "Vogue".

1997 rief Waris Dirie mit ihrem

Outing in Sachen FGM (Female Genital Mutilation) eine viel beachtete internationale Aufklärungskampagne ins Leben, im Zuge derer sie zur UN-Sonderbotschafterin ernannt wurde. Unermüdlich - auch mit Hilfe ihrer Bücher "Wüstenblume" und "Nomadentochter", die weltweit zweistellige Millionenauflagen erreichten - informiert sie seitdem die Öffentlichkeit über das, was so gut wie alle Somalierinnen und Millionen anderer Frauen in afrikanischen Ländern durchleiden müssen: die "pharaonische Beschneidung", bei der die inneren Schamlippen und die Klitoris entfernt werden und die Scheide, bis auf eine kleine Öffnung, zugenäht wird. Geschätzte 6.000 Mädchen weltweit sind diesem Ritual täglich ausgesetzt. Nach Wien kam Waris Dirie kürzlich auf Einladung der "Siemens Academy of Life" - in ihrer Rolle als eine der mutigsten und auch erfolgreichsten politischen Aufklärerinnen der Welt.

Wiener Zeitung: Sehen Sie sich selbst auch als Bewohnerin zweier Welten, als welche Sie gerne beschrieben werden?

Waris Dirie: Ja, ich hatte Glück, dass ich von diesen zwei Welten das Beste kennen lernen konnte und immer noch kennen lernen darf. Der Unterschied zwischen diesen Welten ist so groß, dass es einen ganzen Abend brauchen würde, um darüber zu sprechen. Ich liebe beide und nehme aus beiden das Beste.

Wie hat Sie das Nomadenleben in der Wildnis geprägt?

Ich hatte die schönste Kindheit am schönsten Ort, den man sich als Kind nur wünschen kann. Ich wuchs in der Natur auf und lernte die ganz einfachen Dinge, wie etwa Wasser, elementar schätzen. Abgesehen von kleinen Details würde ich meine Kindheit nicht verändert haben wollen.

In Ihren Büchern beschreiben Sie den Zauber Ihrer Kindheit sehr eindringlich, aber auch Ihre eigene Beschneidung. Sie waren damals fünf Jahre alt. Warum werden diese Beschneidungen durchgeführt, vor welchem kulturellen Hintergund finden sie statt?

Die "Female Genital Mutilation" wird nicht nur in Somalia, sondern in 28 Ländern weltweit durchgeführt. Der Hintergrund besteht darin, dass Familien in diesen Gesellschaften Frauen, die nicht genitalverstümmelt sind, als wertlos ansehen. Das hat seinen Grund auch darin, dass Mädchen in diesen Gesellschaften nicht aus Liebe heiraten, sondern im wahrsten Sinne des Wortes auf den Markt gebracht und verkauft werden. Es liegt also im Interesse der Familien, sicher zu stellen, dass Mädchen als Jungfrauen in die Ehe gehen. Davon abgesehen werden Mädchen, die nicht genitalverstümmelt sind, als unsau-ber angesehen. Jede Familie glaubt, für ihre Mädchen das Beste zu tun. Wann genau die Genitalverstümmelung entstanden ist und wo sie ihren Ursprung hat, weiß man heute nicht mehr genau. Sie ist auf jeden Fall Tausende Jahre alt. Meiner Meinung nach ist der wahre Hintergrund, dass Männer den Frauen einfach zu wenig vertrauten - und immer noch zu wenig vertrauen.

Eines Tages haben Sie sich dazu entschlossen, der Öffentlichkeit von Ihrer Beschneidung zu berichten.

Der Schritt, mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu treten, war schwer. Lange davor schon trug ich mich mit diesem Gedanken. Ich wusste, dass einmal der passende Zeitpunkt kommen würde, um meine Geschichte zu erzählen. Als ich dann besagtes Interview für "Marie Claire" gab, ging ich davon aus, dass das Magazin ohnehin nicht den Mut haben würde, es abzudrucken. Es wurde aber sehr wohl gebracht, über drei Seiten lang, und hat einen ernormen Prozess in Gang gebracht, der mich immer wieder in Angstzustände versetzt hat, denn ich wusste nicht, wohin mich dies führen würde. Einerseits handelt es sich bei diesem Thema um eine sehr delikate Angelegenheit, andererseits ist es in der Kultur, aus der ich stamme, verboten, über solche Dinge zu sprechen. Doch ich habe alles überstanden, sitze nun hier und werde weiterhin darüber sprechen.

Sie haben eine Karriere gemacht, von der viele junge Mädchen träumen. Sie wurden berühmt und verdienen toll. Welchen Stellenwert haben Ruhm und Reichtum in Ihrem Leben?

Im Grunde lebe ich immer noch so, als ob ich jeden Tag Wasser finden müsste. So bin ich einfach aufgewachsen. Freilich genieße ich es heute, über Geld zu verfügen, vor allem, um anderen Menschen helfen zu können. Von Anfang an war es eines meiner größten Ziele, meine Mutter finanziell unterstützen zu können. Geld zu erwirtschaften ist für mich prinzipiell etwas, das man nicht bloß für sich alleine tut.

1997 wurden Sie zur Sonderbotschafterin der UNO ernannt. Sie kämpfen seither gegen die Genitalverstümmelung von Frauen und haben auch eine diesbezügliche Stiftung ins Leben gerufen. Welche Ziele verfolgt diese Stiftung?

Unsere Stiftung ist derzeit in fünf Ländern aktiv. Es ist aber unser Ziel, in allen 28 Ländern, in denen FGM praktiziert wird, aktiv zu werden. Im Moment gründen wir gerade Spitäler, die speziell als Geburtshilfestationen dienen sollen. In Somalia sind hundert Prozent aller Frauen genitalverstümmelt, noch dazu in der schlimmsten Art, nämlich durch die komplette Beschneidung der Klitoris und der inneren Schamlippen und das anschließende Zunähen der Scheide. Sie können sich gar nicht vorstellen, was das für eine Frau, die gebären wird, bedeutet. Die Geburt ist überaus schwierig und sehr gefährlich. Es gibt sehr viele Frauen, aber auch Kinder, die eine solche Geburt nicht überleben. Wir bemühen uns aber auch um verbesserte Infrastrukturen in Dörfern, in denen es keine Ärzte, keine Schulen und keine Wasserversorgung gibt.

Das Herzstück unserer Arbeit ist freilich die Aufklärung. Es handelt sich um Basisarbeit. So arbeiten wir etwa mit Koran-Predigern zusammen, die den Menschen erklären, dass der Koran FGM nicht vorschreibt - und dass FGM auch eine Gefahr für die Gesundheit bedeutet. Diese Maßnahmen wirken vielleicht unbedeutend, sind aber aus unserer Sicht das einzig Wirksame, um an die Menschen heranzukommen. Wir haben uns das realistische Ziel gesteckt, FGM innerhalb von zwei Generationen zu besiegen. Schneller wird es nicht gehen.

Sie schreiben, dass es für Sie relativ einfach ist, im Westen über FGM zu sprechen, aber deutlich schwieriger, dies in Somalia zu tun. Welche Erfahrungen haben sie diesbezüglich gemacht? Können Sie mit den Menschen Ihrer Heimat über FGM reden?

Ich musste erst lernen, über dieses Thema in meiner Heimat zu sprechen. Nach einiger Zeit war es dann viel einfacher, als ich es mir ursprünglich vorgestellt hatte. Anfangs konnte ich vor Frauen leichter sprechen als vor Männern. Im Zuge dieser Gespräche wurde mir erstmals klar, dass für die somalischen Frauen die Option, ihre Töchter nicht verstümmeln zu lassen, gar nicht existierte. In erster Linie waren die Frauen schockiert, dass jemand über dieses Thema so frei sprechen konnte. Die Frauen stehen meiner Aufklärungsarbeit prinzipiell misstrauisch gegenüber. Aber es sind vor allem die Beschneiderinnen, bei denen man, was Erziehungs- und Bildungsarbeit betrifft, einen langen Atem braucht. Gerade diese Frauen haben ein großes Interesse daran, FGM aufrecht zu erhalten, da sie damit ihren Lebensunterhalt verdienen. Es geht also auch darum, diese Frauen für andere Berufe auszubilden.

Und wie reagieren die somalischen Männer auf Ihr Anliegen?

In Somalia hatte ich ein Gespräch mit einem mir bekannten Mann. Ich fragte ihn, ob seine Frau genitalverstümmelt sei. Er nickte, dann fragte ich ihn weiter, ob dies für ihn in Ordnung sei. Er meinte,

dies sei ganz und gar nicht in

Ordnung. Auf Grund vieler Gespräche bin ich davon überzeugt, dass auch die Männer in Somalia über FGM nicht glücklich sind. Das Wichtigste ist, dass überhaupt einmal über FGM gesprochen wird. Erst wenn es ein Problembewusstsein gibt, kann auf eine mögliche Lösung des Problems zugesteuert werden.

Haben Sie der somalischen Gesellschaft oder Ihren Eltern gegenüber jemals Hass empfunden?

Hass habe ich niemals verspürt. Ich habe meine Mutter immer geliebt. Die Beschneidung war für meine Mutter die normalste Sache der Welt. Auch sie selbst musste sie erleiden und war daher der Meinung, dass auch ich dies alles über mich ergehen lassen müsse. So gab es für mich nichts zu vergeben. Es ist alles eine Frage der Erziehung und des jeweiligen Wissensstandes.

Wie verlief Ihr erstes Treffen mit Ihrem Vater, als Sie nach vielen Jahren wieder nach Somalia kamen? Und wie beurteilt er Ihre Rolle als Botschafterin in Sachen FGM?

Bei meinem ersten Besuch in Somalia konnte ich meinen Vater nicht finden, weil er nach wie vor als Nomade lebte. Ich traf ihn erstmals vor zwei Jahren wieder, nach über 20 Jahren Trennung. Er war am Erblinden; ich holte ihn aus dem Spital und nahm ihn mit nach Hause in die Hütte meiner Mutter. Neben meiner politischen Arbeit konnte ich ihn dort pflegen. Einmal lud ich die Frauen der Umgebung ein, kochte für sie Kaffee, versammelte alle unter einem Baum und sprach mit ihnen über FGM. Mein Vater konnte alles durch die Graswände der Hütte hören, ließ mich zu sich rufen und erklärte mir, dass ich mich kein bisschen gebessert oder verändert - und offensichtlich gar nichts dazugelernt hätte. Mit meinem Status als UNO-Botschafterin oder als weltberühmtes Model wusste er nichts anzufangen, weil er sich darunter nichts vorstellen konnte. Als ich Somalia wieder verlassen musste, bemerkte ich aber sehr wohl, dass mein Vater stolz auf mich war, eben weil ich Charakterstärke gezeigt hatte. Zum Abschied weinte er, was in unserer Kultur wirklich etwas Besonderes ist. Ich bin mir sicher, dass meine Eltern sehr stolz auf mich sind.

Sie schreiben in Ihren Büchern über die Hektik und den Stress, der im Westen herrscht. Wie finden Sie zu Gelassenheit und Ruhe?

So, wie es, glaube ich, viele tun, sperre auch ich dann und wann die Türe zu, gehe nicht ans Telefon, nehme keinerlei Anrufe von Managern und Agenten entgegen, schalte einfach ab. Was mir wirklich Auftrieb und Kraft gibt, was mich auch beruhigt, wenn ich nervös bin, ist mein Sohn. Er ist mein Wundermittel. Wenn ich ihn in meinen Armen halte, wenn ich mit ihm spazieren oder schwimmen gehe, ihm Geschichten aus Afrika erzähle, dann kann ich mich wirklich entspannen, vergesse alle Sorgen und alles, was mich in Stress versetzen könnte. Erst heute habe ich mit ihm telefoniert - und er hat mich zum Lachen gebracht.

Ihren Büchern konnte ich entnehmen, dass Sie sich als Kind sehnlichst ein paar Schuhe wünschten. Sie baten damals Ihren Onkel um ein paar Schuhe als Bezahlung dafür, dass Sie seine Ziegen hüteten. Was ist heute Ihr sehnlichster Wunsch?

Mein größter Wunsch ist es, das Leid von dieser Erde zu entfernen. Ich weiß, dass ich ihn mir zu meinen Lebzeiten nicht werde erfüllen können, doch ich möchte mein Bestes dazu beitragen, dass er eines Tages in Erfüllung geht.

Freitag, 09. Jänner 2004

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