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In Marrakesch werden alte Wohnformen neu belebt

Das Geheimnis des Riad

Von Silvia Matras

Mit 250.000 Einwohnern auf 600 Hektar ist die Medina von Marrakesch die größte und dichtbesiedeltste im Maghreb. Während Meknès oder Fès langsam vor sich hinbröckeln und zusammenfallen, starteten in Marrakesch Private schon vor Jahren eine Rettungsaktion.

Am Anfang war die Erde, staubig, rosenfarbig und sandgelb. Dann kamen die Männer aus dem Süden. Sie vermischten die Erde mit Wasser und bauten Mauern. Die ersten "enclos" (Gehege) für Mensch und Vieh entstanden. Alles noch spontan. Im Augenblick der Gefahr wurden die Häuser mit einer neun Meter hohen und neun Kilometern langen Mauer umgeben.

Die versteckte Ordnung

In der scheinbaren Unordnung der Gehöfte und kleinen Gassen ist bis heute eine innere Ordnung erkennbar. Die Medina besteht aus vielen kleinen Vierteln. Zu jedem gehört eine Moschee, ein gemeinsamer Backofen, ein Hamamm, ein Brunnen und eine Schule. Die Häuser gruppieren sich um diese Gebäude herum. Da Marrakesch über reichlich Wasser aus dem Hohen Atlas verfügt, pflanzte man in den Innenhöfen kleine Gärten, die Riads. Später ging die Bezeichnung Riad vom Garten auf das ganze Haus über.

Jedes dieser Viertel war eine Gemeinschaft für sich, ein Dorf in der Medina. Zusammengehalten wurden und werden diese verschiedenen enclos durch den Souk. Er war Zentrum der Produktion und des Handels. In kleinen Einraumwerkstätten wurde gearbeitet und gleichzeitig verkauft. Es gab die Färber, die Schuhmacher, die Töpfer, die Schmiede, die Kesselmacher, die Schneider und im Norden der Medina, wegen der Geruchsbelästigung etwas abseits gelegen, die Gerber. Heute ist die Produktion fast zur Gänze ausgelagert und der Souk zu einer riesigen Verkaufsstätte geworden, wo man Unterhosen, Aphrodisiaka, Plastikbernstein und falsche Rolex bekommt. Natürlich auch Teppiche, Schmuck der Tuareg und Berber zu horrenden Preisen, Gewürze und andere Geheimnisse des Orients.

Einige Produktionsnischen sind noch geblieben: In einer Ecke arbeiten die Kessel- und Lampenmacher. Hier schwingen schon die Zehnjährigen ganz ordentlich den Hammer. Es herrscht der dazu passende Höllenlärm: Die Schweißgeräte kreischen, Rockmusik dröhnt aus dem Dunkel der Werkstatt und die hellen Klänge der Hämmer geben den Takt an. Manchmal gibt es ein paar Sekunden Pause, so als ob alle Atem holen wollten, als hätte jemand alle Geräte auf einmal abgeschaltet, als würde man eine Theaterpause einlegen.

Eine Ahnung, wie hart das Leben der Handwerker im Souk war und ist, bekommt man im Gerberviertel. Hier geht es nicht um Showeffekte für Touristen. In riesigen Bottichen, die mit lila, blauer oder brauner Färbeflüssigkeit gefüllt sind, werden die Häute eingetaucht, geschwenkt, herausgehoben und zum Trocknen ausgebreitet. Stundenlang stehen die Männer in dieser Brühe. Hier halten nur die Härtesten durch, und das auch nicht allzu lange. Ärztliche Kontrollen gibt es keine. Wer krank wird, muss aufhören.

Einer inneren Ordnung unterworfen ist auch der berühmte Platz Djemaa-El-Fna, auf dem einst angeblich die Köpfe der Hingerichteten aufgespießt und ausgestellt wurden.

Das riesige Rondeau, eingerahmt von Terrassencafés auf der einen Seite und nach Süden hin offen zur Kutubiya-Moschee, unterliegt einer geheimnisvollen zeitlichen und räumlichen Choreografie. Am Morgen kommen die "Conteurs", die Erzähler. Der Alte mit der dicken Hornbrille und dem bunten Flickenmantel ist einer der ganz Berühmten. Wenn er erzählt, dann versammeln sich an die fünfzig und mehr Zuhörer, meist Kinder und Männer. Sie stehen in einem dichten Kreis um ihn herum. Er läuft im Innenkreis auf und ab, schreit, gestikuliert und schwingt bedrohlich seinen Stock. Plötzlich hält er inne, schaut in die Runde und wartet auf ein Geldstück, das er voller Verachtung seinem auf dem Boden hockenden Falken zuwirft. Dann erzählt er ein Stück weiter. Unweit von ihm sitzen unter Schirmen die "Lebensberater". Sie helfen, natürlich gegen Bezahlung, mit Ratschlägen, selbstgemixten Arzneien, Potenzmitteln, Schönheitscremen. Der Vormittag gehört den Ratsuchenden, den Wundergläubigen.

Leben fast bis Mitternacht

Zu Mittag leert sich der Platz. Erst gegen den späten Nachmittag beginnt ein neuer Akt, diesmal für die Touristen. Die Gaukler, Akrobaten, Wasserverkäufer und Schlangenbeschwörer kommen. In der Mitte des Platzes bauen weißgekleidete Köche ihre Garküchen und Saftbars auf. Bald legt sich blauer Rauch über den Platz, und die weißen Figuren erscheinen wie Krankenpfleger. Dazwischen hüpfen und turnen rote Männer, lassen zu einer wilden Trommelmusik ihre Köpfe kreisen, und die Touristen schießen ihre Fotos.

Am anderen Ende des Platzes warten die Busse und Taxis, denn gleich nach Sonnenuntergang werden die Besucher in ihre Hotels gekarrt. Dann wird es ruhig. Ein letztes Licht färbt die Hausmauern rosé-rot. Die Magie des Ortes breitet sich aus.

In den Straßen von Marrakesch herrscht Leben fast bis Mitternacht. Kinder toben, spielen, Bettler stehen an den Ecken und leiern ihren Singsang herunter, Männer schieben Handwagen durch die Menge. Fremde werden gebeten, ins Geschäft hineinzuschauen, werden neugierig nach dem Woher gefragt. Aber der Eintritt ins Haus, ins Riad, wird ihnen verwehrt. Man schließt die Häuser, man schließt die Moscheen vor ihren Blicken.

So war es immer. Das Haus, das Riad, ist eine Burg: Keine Fenster gehen auf die Straße. Das Eingangstor, meist ohne Namen und Nummer, ist fest versperrt. Es wird nur eingelassen, wer eingeladen ist. Durch einen dunklen Gang gelangt man ins Innere, ins Herz des Hauses: das eigentliche Riad. Und steht still vor Überraschung. Der Kontrast zur lärmenden, lebensprallen Straße trifft voll alle Sinne: Hier drinnen herrscht Ruhe, ja mehr noch: weihevolle Stille.

Betritt man ein Riad am Abend, dann meint man, den Palast der Sheherezade gefunden zu haben: Der Patio ist von Dutzenden Kerzen sanft beleuchtet. In der Mitte plätschert der Brunnen, dessen kleingewürfelte Kacheln matt im Wasserbecken schimmern. Der Duft der Orangenbäume betört die Sinne. Man sinkt auf weiche Polster, bekommt thé à la menthe serviert und darf träumen. Im offenen Himmelsviereck stehen die Sterne, und wenn es spät in der Nacht ist, zieht die Sichel des Mondes über den Dachrand und bescheint den Garten.

Die Form der Riads ist seit Jahrhunderten gleich geblieben. Der große Städteeroberer und Städtebauer Ali Ben Joussef zog bis Andalusien, wo er die Paläste mit Patio und Innengarten kennen lernte und nach Marrakesch brachte. Nach seinem Tod wurde die Stadt noch oft erobert, zerstört und neu aufgebaut.

Die Architektur der Riads änderte sich jedoch nicht. Immer ist das Zentrum ein quadratischer oder rechteckiger, nach oben hin offener Innenhof, in dessen Mitte ein Brunnen steht, der mit Marmor oder bunten Kacheln verziert ist. An den Enden der Hauptachse des Patio liegen die beiden großen Salons, in denen sich die Familie trifft und Gäste empfängt. Arkaden mit reichdekorierten Säulen und geschnitzten Plafonds führen rund um den Patio. Jeder Raum wird von hohen, buntbemalten und feingeschnitzten Holzportalen verschlossen. Es herrscht das Stilprinzip des Überflusses, nach dem Motto: Dekor ist keine Schande. In den Ecken führen schmale Treppen zu den Räumen des Obergeschoßes und weiter hinauf auf die Dachterrasse.

Das Riad war der Lebensraum der Familie: Die Kinder wuchsen hier auf und spielten im Patio, denn die Straße war ihnen verboten. Dorthin schickte man die Bediensteten, die den Alltag solch einer reichen Großfamilie managten.

Eines Tages vor ungefähr fünfzig Jahren zogen die Reichen aus der Medina weg in die Neustadt. Die schönen Herrschaftshäuser verfielen oder verkamen zu Massenquartieren für die Menschen, die vom Land zugezogen waren.

Das Ende der Medina von Marrakesch war absehbar. Da nützte es auch nicht viel, dass die UNESCO sie zum Weltkulturerbe erklärte. Ohne Geld keine Restaurierung und daher auch keine Wiederbelebung der Medina.

Die Rettung der Medina

Das schmerzte einen jungen Möbelverkäufer vom Land: Abdellatif Ait Ben Abdallah hatte schon als Schuljunge immer gern in den Ruinen herumgestöbert und davon geträumt, den Häusern ihre Schönheit und Würde zurückzugeben. Eines Tages vor zehn Jahren, traf er einen zweiten Träumer, den belgischen Architekten Quentin Wilbaux. Gemeinsam unterbreiteten sie der Regierung den Plan, einige Riads zu restaurieren und sie als Gästehäuser zu vermieten. Aber sie ernteten nur Unverständnis. Touristen in der Medina? Unmöglich! Also gingen die beiden daran, aus eigener Tasche ein verfallenes Riad zu kaufen und zu restaurieren.

Was die beiden vorausgesagt hatten, traf ein: Reiche aus Europa fanden Gefallen an dieser Art des Wohnens. Bald wurde es schick, ein Riad in Marrakesch zu restaurieren und entweder selbst darin zu wohnen oder es zu vermieten. Heute sind weit über hundert solcher Märchenpaläste restauriert und der Boom hält weiter an. Langsam kehren auch die alteingesessenen Familien wieder in die Medina zurück.

Abdellatif Ait Ben Abdallah hat inzwischen Dutzende Riads restauriert, viele davon verkauft und fünf selbst behalten. Eines hat er in ein "Café litteraire" umgewandelt, wo sich Künstler, werdende Riadbesitzer, Architekten und interessierte Touristen treffen, in Büchern schmökern, Tee trinken und Riaderfahrungen austauschen. Am Abend lädt Abdellatif gern zu einer Soirée bei Kerzenlicht und marokkanischer Musik ein. Dann begrüßt er seine Gäste in der traditionellen Djellabah, ein typischer "homo riaticus".

Freitag, 24. Jänner 2003

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