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Über die stolze Vergangenheit und die traurige Gegenwart der Tuareg-Frauen in Niger / Von Sabine Schaller

Herrinnen der Zelte

Früher besaßen wir Frauen unsere Streitmilch (akh n akanas). Wenn wir mit unseren Ehemännern nicht mehr einverstanden waren, dann tranken wir einfach unsere eigene Milch.

Früher, das war in der Diktion dieser Tuareg-Frau aus In Gall (Niger) vor 20 und mehr Jahren, als die Tuareg-Frau eine Königin in ihrem Heim war, eine "Herrin der Zelte", um ein abgenutztes Klischeebild zu verwenden. Mussten und müssen europäische Frauen ihre finanzielle Unabhängigkeit erst erkämpfen, war der Besitz von eigenen Tieren - ein wesentlicher Besitzstand - immer schon eine Selbstverständlichkeit für die Tuareg-Frau. Die Ethnologin Saskia Walentowitz forschte über die Lebensbedingungen der Tuareg-Frau in Niger und analysierte, wie sie sich verändert: Die süße Milch der wirtschaftlichen Autonomie und Unabhängigkeit bekam sukzessive den bitteren Beigeschmack von Abhängigkeit und Armut.

Von Geburt an begann früher ein Tuareg-Mädchen ihre persönliche Herde aufzubauen. "Ajif" nennt man das Geschenk von einigen Tieren, das nahe Verwandte den Neugeborenen am Tag ihrer Namensgebung überreichen. Je nach Gegend und Status der Familie sind dies unter anderem Ziegen, eine Kuh oder auch ein Kamel. Im Laufe ihrer Kindheit vermehren sich diese Tiere unter der Obhut des Vaters oder Onkels. Will ein Mann eine Frau heiraten, so muss er ihr die sogenannte "taggalt" - eine Art von Brautgabe - in Form von Tieren ausbezahlen. Bei einer Hochzeit gehört es auf Seiten der Eltern der Frau zur Pflicht, neben Zelt, Mobiliar und Haushaltsutensilien auch genügend Milchtiere zur Verfügung zu stellen, damit die junge Frau in der Familie des Mannes jederzeit unabhängig ist und auf ihren eigenen Besitzstand verweisen kann.

Am Tag der Trennung von ihrer Familie wechselt die Frau mit ihrem Zelt und ihrer Habe in das Lager ihres Mannes in der Gestalt, dass sie mit allem, was sie zum Leben braucht, bei ihren Schwiegereltern Einzug hält. Wie die Tuareg-Frau ihren Mann frei wählen kann, kann die wirtschaftlich unnabhängige Frau jederzeit ihre "Zelte abbrechen", ihren Mann buchstäblich in den Sand setzen, da der Mann keine eigene Behausung besitzt. "Die Frau ist der Gürtel der Hose des Mannes" sagt ein Sprichwort. Will sagen, ohne Frau ist der Mann entblößt und hat weder Schutz noch Ehre. Selbstverständlich galten diese ungeschriebenen Ehrenkodices auf der Basis einer intakten, soziokulturellen Gemeinschaft.

Als Nomaden in der Sahara

Das Volk der Tuareg zählte ursprünglich zu den Berbern, wich im 11. Jahrhundert vor den Invasionen arabischer Beduinen in die Sahara aus und sicherte sich den Lebensunterhalt mit einer hirtennomadischen Lebensweise. Als am Ende des 19. Jahrhunderts Frankreich von Algerien aus seine Kolonialansprüche Richtung Süden zu erweitern begann, leisteten die Tuareg erbitterten Widerstand gegen die beabsichtigte Kolonialisierung. Gleichwohl erreichte die französische Verwaltung die Anpassung des Tuareg-Volkes sowohl mit Waffen als auch durch koloniale Verwaltung.

Nach 70 Jahren kolonialer Verwaltung sahen sich die Tuareg durch die willkürlich gezogenen Grenzen der neuen Nationalstaaten erheblich in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Als Bürger verschiedener Staaten waren sie ihrer jahrhundertealten Weidewege beraubt. Beruhte das nomadische Hirtenleben auf der Möglichkeit, weitläufig und großräumig nomadisierend auszuweichen und Weideland zu erschließen, wurden die Tuareg im Niger mit der Tatsache konfrontiert, vom möglichen fruchtbaren Weideland durch einen Grenzzaun getrennt zu sein, ohne Möglichkeiten zur Nutzung des nachbarstaatlichen Territoriums. Diese Einschränkung und dazu noch die Dürrekatastrophen in den 70er- und 80er-Jahren führten zu einer Auflösung der traditionellen, eingespielten sozialen Rollen- und Arbeitsteilung.

Die schwarze Militärdiktatur des jungen Staates Niger hungerte die nomadisierenden unangepassten Tuareg aus und schikanierten das stolze Volk. Viele Tuareg exilierten und verließen den Niger. 1990 eskalierten die Auseinandersetzungen in einem grausamen Massaker an Hungerflüchtlingen, ein langer Wüstenkrieg folgte. 1995 einigten sich die Tuareg und ein junges demokratisches Regime auf einen friedlichen Minimalkonsens. Seither hält ein brüchiger Frieden in dieser Region, allerdings ist der Preis hoch, denn die Staatskassen sind leer - und heute 10-jährige Kinder haben noch kaum jemals einen Tag lang die Schule besucht.

Der Norden des westafrikanischen Staates Niger liegt mit dem Zentrum Agadez (50.000 Einwohner) inmitten der Sahara. Im Département Agadez leben rund 300.000 Menschen von Viehzucht (Ziegen, Kamele, Schafe). Die größten Oasen des Berglandes sind Iferouane (4.000 Einwohner), Timia und Tidine. Das Air-Bergland im Norden der Wüstenstadt Agadez wurde traditionellerweise nomadiserend bewitschaftet und gilt als eine der letzten Regionen der Welt, wo diese Bewirtschaftungsform noch gepflogen wird; gleichwohl wird gerade diese Region um das Air-Gebirge besonders von einer starken Abwanderung vor allem der Männer in die Städte des Landes betroffen. Hunger und die aussichtslose politische Situation treiben viele junge Männer in den Söldnerdienst der libyschen Armee oder auf die Erdölfelder der arabischen Nachbarländer. Sehr viele Frauen müssen alleine für den Lebensunterhalt ihrer Kinder und für deren Erziehung sorgen. Auch die Männer, die geblieben sind, lassen ihre Frauen zunehmend im Stich. Sie entdecken den orthodoxen Islam, die Vielehe und sehen sich als Eigentümer von festgebauten Behausungen - selbst wenn diese nur Hütten in den Slums sind.

Der Reichtum der Tuareg-Frauen konnte in früheren Zeiten durchaus größer sein als jener der Männer. Waren die Männer zum Unterhalt der Frauen und Kinder verpflichtet, musste die Frau aus eigenem Besitz nichts dazu beitragen. Ein Tier aus der Herde der Frau anzurühren, ohne dafür das Einverständnis eingeholt zu haben, galt als ausgesprochene Schande. "Er steckt seine Hände in den Kochtopf der Schwiegermutter" heißt es, wobei wichtig ist zu wissen, dass Tuareg-Männer aus kulturellen Gründen jeglichen direkten Kontakt mit der Schwiegermutter meiden. Während die Männer mit ihren Salzkarawanen durch die Wüste zogen, blieben die Frauen als "Herrinnen der Zelte" zurück, sie waren als Hüterinnen und Verteilerinnen der Nahrung in einer unangefochtenen Position, besaßen die Zelte und Ziegenherden und konnten ihren Partner frei wählen. Auch die Dichtkunst war Sache der Frauen sowie die Vermittlung der Schriftzeichen "Tifinagh".

Neben individuellen Besitzgütern gab es auch verschiedene Formen von Gemeinschafsgütern, die nur in weiblicher Linie vererbt wurden. Je nach Gegend wird dieses Kapital "Milch des abatol oder ebawel" genannt, was "Milch der Mulde" bedeutet. Die Tuareg assoziieren mit abatol/ebawel die Idee von Schutz - wie das Feuer in einer Sandmulde geschützt wird. Diese Güter, ob Tiere, Dattelpalmen oder der Familienschmuck, waren die Grundsubstanz für den Weiterbestand der Gesellschaft. Dieses Kapital, "lebende Milch" genannt, durfte nicht schwinden oder angetastet werden. Nur die Nebenprodukte wie männliche Tiere, Datteln oder die tägliche Milch wurden konsumiert und verkauft. An diesen Produkten durften freilich auch die Söhne, Männer und Brüder teilhaben. "Ebawel" wird aber auch die kleine Nische im Uterus genannt, in der laut Tuareg neues Leben entsteht, die Gebärmutter hingegen wird als kleines, den Fötus bergendes Zelt verstanden. Die Milch der Unabhängigkeit ist eingebettet in ein komplexes weibliches System von Fruchtbarkeit und Entwicklung.

Ein Tuareg in Paris, Hawad, zeitlebens ein Sprecher für sein Volk, fokussiert das Dilemma der Tuareg-Gesellschaft zwischen Tradition und Aufbruch: "Die Europäer halten bis heute an ihrem Mythos von den Männern und Frauen der Wüste fest. Sie haben sich ein Bild geschaffen und nähren ihre Fantasie. Man könnte sagen, dass sie die Tuareg unter denselben Bedingungen wie vom Aussterben bedrohte Tierarten schützen wollen, um ihren Traum von uns weiter zu träumen."

Heute ist besonders die Situation der Frauen sehr prekär. Die "süße Milch der Unabhängigkeit" ist beinahe versiegt, die überkommene matriarchale Ordnung steht häufig in Konkurrenz zum islamischen Erbschaftsrecht. Mehrere Dürrekatastrophen dezimierten die Milchtiere - der Wiederaufbau einer Herde ist unter diesen Bedingungen fast unmöglich: der wirtschaftlichen Unabhängigkeit beraubt und ohne Entwicklungschancen flüchten die Frauen in die Stadt Agadez. Dort ist aufgrund des Futtermangels die Haltung einer Milchkuh oft teurer als der Konsum der ohnehin schon sehr teuren Trockenmilch aus Europa oder Nordafrika.

Verschiedene Entwicklungsprogramme versuchen die Situation für die Frauen zu verbessern. So werden in den Oasen gemeinschaftlich Gärten von Frauengruppen bewirtschaftet, diese Arbeit ist für Frauen unter den erschwerten Bedingungen einer Wüstenlandschaft aber eine immense körperliche Anstrengung, sodass sich manchmal Frauen zusammenschließen und einen Mann für die harte Arbeit anheuern. Frauen in größerem Stil zu Gärtnerinnen zu konvertieren, scheint langfristig nicht sinnvoll zu sein, denn im Gegensatz zum Anbau von Pflanzen ist die Kamel- oder Ziegentierhaltung auch in Zeiten der Dürre immer noch effizienter.

Hilfe zur Selbsthilfe

Die Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen in den Städten Agadez und Niamey sind äußerst gering, die tatsächliche Situation spottet dem einstigen Mythos von der wirtschaftlich unabhängigen Frau. So wichtig Hilfsprojekte von außen sind, für die Frauen ist Hilfe zur Selbsthilfe der einzig vernünftige Weg. Ein großes Potenzial an Kreativität und Fantasie ist trotz der aussichtslosen Situation vorhanden und zeugt vom Selbstbewusstsein der Frauen.

Unter der beherzten Führung von Azahra Mohamed Attayeb und Mariama Alkabous wurde die NGO "TIDAWT" - "Gehen wir gemeinsam" - gegründet, eine Plattform zur Selbsthilfe, welche die Umsetzung von Ideen zur Selbstständigkeit unterstützt. Mithilfe von Kleinkrediten wird die Infrastruktur gefördert, um einen Gemüsehandel treiben zu können, Computer- und Bürokurse zu besuchen oder die Fertigung und Distribution von Korbwaren zu organisieren. Derzeit wird besonders ein Projekt voran- getrieben, Frauen zur Selbstverwaltung von Mühlen zu befähigen.

Im Frühjahr dieses Jahres bereiste die Fotografin Christine de Grancy im Rahmen eines Ausstellungsprojektes die Sahara und das Air-Bergland und reportierte die Lebenssituation der Frauen. Diese Bilder aus dem Alltag der Tuareg-Frauen sind ein Teil der Ausstellung "Die Tuareg. Frauen-Bilder aus der Sahara". Die Auswahl der Motive wurde von den Frauen selbst bestimmt, die Fotos werden anschließend an die Ausstellung im Schloss Goldegg (siehe Kasten) nach Agadez zurückkehren und im Erwachsenenbildungszentrum CEFOR ausgestellt werden.

Freitag, 29. September 2000

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