Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
  Lexikon    Glossen     Bücher     Musik  

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Tunesiens Altstädte verlieren ihre historische Bedeutung

Tunesien: Das Chaos gottgewollter Ordnung

Von Thomas Veser

Golden schimmert Aladins Wunderlampe im rötlichen Widerschein des Schmiedefeuers, das die Werkstätte in ein unwirkliches Licht taucht. Aladin, der auf einem Tisch Metallteile zuschneidet,
kann sich in seinem winzigen Reich zwar kaum um die eigene Achse drehen, wie jedoch auf engstem Raum Hunderte von verschieden großen Hängelampen nach dem Verschachtelungsprinzip unterzubringen sind,
muß ihm niemand erklären. Mit bewundernswertem Geschick befördert er an der Spitze einer Holzstange die reichverzierte Wunderlampe von der Decke nach unten und präsentiert sie erwartungsvoll dem
Besucher aus dem Abendland.

Die scherzhaft gemeinte Frage, ob im stolzen Verkaufspreis von 37 tunesischen Dinaren auch ein wunscherfüllender Geist mitinbegriffen sei, läßt gerade noch ein Lächeln über das Gesicht des jungen
Mannes huschen. Dem Wunsch nach einem Preisnachlaß kann Aladin, der unversehens in die Rolle des hartgesottenen Verkäufers schlüpft, leider nicht entsprechen. Richtig feilschen will gelernt sein und
wer die Usancen in den tunesischen Basaren nicht kennt, gibt sich schnell der Lächerlichkeit preis. Während man auf dem belebten Markt von Sidi Bou Said bei Karthago zum Auftakt dieses uralten
Rituals den geforderten Preis getrost durch fünf teilen kann, ruft der gleiche Versuch im Gassengewirr der Medina von Tunis allenfalls grenzenlose Belustigung hervor. Als Gratiszugabe liefert der
junge Mann einen bissigen Kommentar in perfektem Französisch: Gewiß hat er ein Universitätsstudium absolviert und nach dem Abschluß, wie die meisten Hochschulabgänger Tunesiens, keine angemessene
Stelle finden können. Daß er als Verkäufer zumindest im Umgang mit Europäern auf dem landesuntypischen Festpreis beharrt, zeigt sich, als der Besucher mit gespieltem Bedauern langsam von dannen geht:
Er heftet sich nicht etwa an seine Fersen, um eine neue Verhandlungsrunde anzubieten. Der stolze Aladin verzichtet auf das Geschäft und wendet sich wieder seiner Arbeit zu.

Handel und Handwerk bestimmen in der Medina von Tunis, nach dem marokkanischen Fez mit 87 ha Fläche die größte und besterhaltene Altstadt des nordafrikanischen Maghreb, seit dem 15. Jahrhundert den
Lebensrhythmus. Scharf nach Gewerbe getrennt, arbeiteten und wohnten die Handwerker mit ihren Familien in Häusern, die in der Regel nur zum Innenhof hin Fenster besaßen. Jahrhundertelang bildete die
ummauerte Medina mit ihren Souks (Märkten) das verbindliche soziale Bezugssystem, in dem jeder Bewohner bis hin zu den alten Männern, die in ihrer Rolle als Nachtwächter in regelmäßigen Abständen
ihren schweren Stock auf den Boden fallen ließen, seinen festen Platz einnahm.

Feste Formen und Strukturen

Das Wort Medina ist in der arabischen Sprache schlechthin der Begriff für „Stadt", deren ideale Verkörperung das saudiarabische Medina darstellt. Ohne Bezug zum Islam, der den altarabischen
Stadtgründungen seine festen Formen und Strukturen vorgegeben hat, bleibt die Medina für den Besucher aus dem Westen ein kaum zugängliches Phänomen, ein chaotisch anmutendes Gassengewirr, in dem man
zwangsläufig die Orientierung verliert.

In Wirklichkeit ist jede Medina, von der Freitagsmoschee aus, nach unumstößlichen Prinzipien organisiert. Obwohl die Freitagsmoschee in jedem Fall den religiösen Mittelpunkt einer jeden Altstadt
markiert, muß das größte Gebetshaus nicht unbedingt im Zentrum der Altstadt liegen. Die verschiedenen Stadtviertel, durch bisweilen gewundene Hauptstraßen miteinander verbunden, schließen sich rund
um die dominierende Freitagsmoschee an. Die Viertel selbst sind in mehrere Gebäudegruppen eingeteilt, häufig endet der Zugang zu den Wohnungseingängen in einer Sackgasse, die genaugenommen nur die
jeweiligen Bewohner betreten dürfen.

Jedes Wohnquartier, dessen Haushalte jeweils eine Infrastruktur aus Backofen, Hammam (Bad), Koranschule und Lebensmittelgeschäft gemeinsam benutzen, ist getreu dem Heiligen Buch der Moslems einer
bestimmten Gruppe der Gesellschaft vorbehalten. Bei den „Chéchouachis", wie die Hersteller der Chéchias genannten roten Filzhüte in der Altstadt von Tunis heißen, vererbte der Vater das Metier
üblicherweise auf den Sohn, der im gleichen Wohnviertel die Tradition fortführte. Als Protokollchef der Medina wacht der unbestechliche „Bach M'harek" noch heute streng über die Qualität der
Produkte.

Die vornehmeren Stadtbewohner lebten einst nahe der Freitagsmoschee, wobei die ranghöchste Familie in der Regel das Gebäude am Ende der Sackgasse bewohnte. Je mehr man sich der Stadtummauerung
nähert, desto spärlicher wird der Häuserbau; vom Wohnquartier der Stadttore (Bab) aus sind es dann nur wenige Schritte bis zum traditionellen Bauern-Souk, dessen Händler seit jeher ihre Waren
außerhalb der Mauern feilbieten müssen.

Wie auch in anderen Ländern des nordafrikanischen Maghreb sind Tunesiens Medinas seit einem Jahrhundert einem zunehmend rasanter ablaufenden Wandel unterworfen. Immer mehr kleinere Medinas nahe der
unaufhaltsam vordringenden Wüste im Süden des Landes sind in den vergangenen Jahrzehnten · häufig wegen Wassermangels · aufgegeben worden. Wenn diese Entwicklung anhält, so wird die Medina in
absehbarer Zeit ihre Rolle als zentrales Bezugssystem der maghrebinischen Gesellschaft wohl völlig einbüßen. Indem die UNESCO in Tunesien die drei repräsentativsten Medinas · Tunis, Kairouan und
Sousse · auf die Liste des Weltkulturguts aufnahm, bleiben der Nachwelt immerhin drei Paradebeispiele.

Übereifrige Modernisierer

Bereits ein Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit Tunesiens schienen die Tage der alten Medina von Tunis gezählt zu sein; nach Art des französischen Stadtplaners Haussmann sollte sie einem breiten
Boulevard weichen. Die übereifrigen Modernisierer, die ihr Studium in Frankreich absolviert hatten, machten ihre Rechnung allerdings ohne die Bewohner: Die Medina gab jedem Menschen seinen festen
Platz in einer gottgewollten städtischen Ordnung, wer immer sie bedrohte, mußte seit jeher mit Widerstand rechnen: Die folgenreichsten Aufstände in den maghrebinischen Ländern gingen stets von den
Medinas aus. Um einer blutigen Konfrontation im Viertel Sidi Bachir zu vermeiden, zogen die Behörden ihre Planierraupen 1967 wohlweislich schnell wieder ab.

Ein Jahr darauf begann die neugegründete „Vereinigung zum Schutz des alten Tunis", eine Art Denkmalschutzbehörde, erstmals herausragende Gebäude zu renovieren. Das repräsentative
Regierungsgebäude Dar Lasram, im 18. Jahrhundert während der Türkenzeit erbaut, erstrahlte bald in neuem Glanz. Hinter seinen Mauern befindet sich der Club Tahar Haddad, in dem seither Lesungen,
Konzerte und Ausstellungen stattfinden. Daß sich der Club zum wichtigsten Treffpunkt der tunesischen Frauenbewegung entwickelt hat, beweist, daß die neuzeitlichen Umwälzungen der Neuzeit am
Sozialgefüge der Medina nicht spurlos vorübergegangen sind: Gemäß der Scharia · dem altislamischen Recht · waren die weiblichen Bewohner der Medina traditionell gehalten, das Wohnhaus nur in
begründeten Ausnahmefällen zu verlassen.

Mit der Eröffnung des renovierten „Hauses der Poesie", in seiner Art in der arabischen Welt einzigartig, krönte die Vereinigung ihr Werk, dem in ganz Tunesien Vorbildfunktion zukommt. Damit künftige
Generationen „die Geschichte besser begreifen und lesen können" rettete man das Kulturerbe, das heute über einen vorzüglich ausgeschilderten Pfad von der Kasbah (Stadtburg) aus zu Fuß bewundert
werden kann. Gleichzeitig gab man den Bewohnern zu verstehen, daß sich die Medina, will sie überleben, nach außen hin öffnen muß: Um die anhaltende Abwanderung in Neubauviertel zu stoppen, benötigt
sie vor allem bequeme Wohnungen und Schulen in angemessenen Gebäuden. Da diese nicht immer vorhanden sind, müssen sich die Denkmalschützer künftig wohl oder übel damit abfinden, daß sich nicht jedes
Bauwerk in der Altstadt retten läßt.

Im ehemaligen Judenviertel Al Hafsia entstand ein neues Wohnquartier, dessen modellhafter Charakter von der Aga-Khan-Stiftung mit dem Architekturpreis 1995 honoriert wurde. Nicht etwa aus
Ziegelsteinen, sondern aus weißverputztem Beton konstruierte man die Hauswände, deren Eingänge dafür mit traditionellen Fayence-Einfassungen geschmückt wurden. Autos gibt es in den
kandelaberbestandenen, neuen Altstadtgassen kaum, da man für die finanziell überwiegend gutsituierten Bewohner, inzwischen zu 80 Prozent Wohnungseigentümer, Tiefgaragen gebaut hatte.

Die bisherige Entwicklung gibt Anlaß zu einem gewissen Optimismus: Wohnen in der Medina von Tunis ist neuerdings wieder en vogue, jetzt fehlen eigentlich nur noch die direkt vor der Haustür liegenden
Arbeitsplätze, die man sich durch den Tourismus verspricht.

Der Fremdenverkehr bleibt Tunesiens wichtigste Einnahmequelle, um sie nicht zu gefährden, hält Staatspräsident Ben Ali die tunesischen Fundamentalisten an der kurzen Leine. So ließen die Behörden die
Geistlichen und Studenten der Zitouna-Moschee, früher eine der renommiertesten Theologiehochschulen des Landes, kurzerhand ausquartieren. Im Innenhof der nun für die Touristen zur Besichtigung
freigegebenen Ölbaum-Moschee, so ihre deutsche Übersetzung, nisten heute Scharen von Tauben, die für Tunesier den Zerfall symbolisieren.

Das gleiche Los traf die Große Moschee in der UNESCO-Welterbestätte Kairouan. Angesichts der gewaltigen Besucherströme im ältesten Gebetshaus des Maghreb, von den Aghlabiden im 9. Jahrhundert aus
Trümmern des zerstörten Karthago neu errichtet, wirkt der 1.000jährige Übername „Heilige Stadt" heute wie bittere Ironie. Daß die Stadt am Rande der Wüste Aufnahme auf der Welterbeliste fand, hat
allerdings ihre Berechtigung: Das Zentrum Kairouan behielt bis heute das authentischste Erscheinungsbild einer nordafrikanischen Medina. Von Kairouan aus eroberten die Glaubenskämpfer Marokko und
Andalusien, dort gründete sie Fez und Cordoba, bis heute „Töchter Kairouans" genannt. Auf einer Fläche von 54 ha kreuzen und verschlingen sich in Kairouan Gassen zu einem faszinierenden Labyrinth, wo
dem Besucher alle Wohlgerüche Arabiens · Gewürze, gebratener Fisch oder · etwas weniger wohlriechend · verrottende Küchenabfälle entgegenwehen.

Legenden und Mythen

Keine Stadt ist reicher an Legenden und Mythen als Kairouan, hinter dessen schmucklosen Gebäudefassaden zahllose Schätze der islamischen und maghrebinisch-andalusischen Baukunst schlummern.
Während der hellseherische Schmied Amor Abbada im Mausoleum der Säbelmoschee beigesetzt wurde, ruht im Grabmal der Barbiermoschee Abu Zamaa al Balawi, der Legende nach Barbier des Propheten Mohammed.
In traditionelle „Sefsaris" gekleidet, bieten Frauen am Eingang zum langgestreckten, überdachten Souk el Jaraba „Haiks" genannte Teppiche an. Im Gegensatz zu den Erzeugnissen in den
Basaren von Sousse und Tunis sind ihre Teppiche in der Tat handgefertigt. Schon bei Ankunft der Franzosen war das einstige politisch-religiöse Zentrum des sunnitischen Islam nur noch ein Schatten
seiner selbst. Beharrlich blieb Kairouan seinen Traditionen verhaftet, Industrie besitzt die Stadt bis heute nicht. Den schwersten Schlag versetzten ihr ausgerechnet die höchsten Glaubensautoritäten:
Anfang der achtziger Jahre erklärten sie die 1.000jährige Regelung, wonach sieben Wallfahrten nach Kairouan einer großen Mekka-Wallfahrt entsprachen, für hinfällig. Als Motor für eine neue
Wirtschaftsentwicklung erwies sich der Tourismus in Kairoun, das nur wenige bescheidene Hotels anbieten kann, bisher als zu schwach.

Wie sich eine Medina unter dem Einfluß des Fremdenverkehrs gründlich verändert hat, beweist eindrücklich das Tourismuszentrum Sousse. Als Hafenort einst von den Phöniziern gegründet, wurde Sousse
während der römischen und byzantinische Zeit erweitert. Nachdem die Vandalen den blühenden Ort in Schutt und Asche gelegt hatten, entstand im 7. Jahrhundert das neue Zentrum auf regelmäßigem
Grundriß: Sousse ist als dritte Medina auf der UNESCO-Liste das früheste Beispiel für eine planmäßige islamische Stadtgründung.

Drohend erhebt sich über den Stadtmauern der wuchtige Ksar el Ribat, um 820 gegen die sizilianischen Normannen aufgetürmt. Seitdem allmählich gewachsene Erdhügel und störende Anbauten der Neuzeit
beseitigt wurden, wirkt die wuchtige Festung der Glaubenskämpfer, der „Mourabitin", noch eine Spur abschreckender.

Die gänzlich auf die Bedürfnisse ausländischer Souvenirjäger zugeschnittene Medina zieht am sonntäglichen Markttag dennoch gewaltige Besucherhorden an. Echte Kamele gibt es auf dem Kamelmarkt schon
lange nicht mehr, dafür ist das Angebot an Miniatur-Wüstenschiffen aus Holz oder Plüsch riesengroß. Männer mit Stößel und kleinem Hammer bearbeiten fleißig Messingschalen, in Wirklichkeit gilt die
Aufmerksamkeit dieser Pseudo-Handwerker den Vorbeiflanierenden, die anders als in Tunis mit vielen Worten, bisweilen mit sanfter Gewalt in die Boutiquen gezogen werden. Die aufgehäuften Waren stammen
nur zu einem geringen Teil aus den Werkstätten von Sousse, daß sie in einem Industriegroßbetrieb am Fließband entstanden sind, sieht man ihnen sofort an.

Sousse, dessen Besucher in den neomaurischen Hotelneubauten am Meer ihren Urlaub verbringen, verdankt dem Tourismus fraglos den Aufschwung; die einseitige Ausrichtung hat der etwas künstlich
wirkenden Medina nicht nur viel von ihrem maghrebinischen Charme genommen, sondern das traditionelle Sozialgefüge gründlich ruiniert.

Freitag, 14. August 1998

Aktuell

Erlebniswohnen in "G-Town"
Alles unter einem Dach: Die neue Lebensqualität in den Gasometern ist relativ
Drei Mädchen aus zwei Welten
Ceija, Sonja und Elvira – die Geschichte einer ungewöhnlichen Frauenfreundschaft
Kein "Lügner des Guten" sein
Der Präsident des "Internationalen Komitees vom Roten Kreuz" (IKRK) im Gespräch

1 2 3

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum