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Eine postume Würdigung

Burroughs, William: Eine Art Heiliger

Von Manfred Maurer

"Seit einem Jahr hatte ich nicht mehr gebadet oder die Kleider gewechselt, nur alle Stunde kurz Hemd oder Hose ausgezogen, um mir eine Nadel ins Fleisch zu bohren, das im Endstadium der Sucht faserig und grau und hölzern geworden war... Ich tat absolut nichts. Ich konnte acht Stunden lang meine Schuhspitzen anstarren."


Das war in den fünfziger Jahren in Tanger. Vor kurzem ist der Mann, dem es damals so dreckig ging, im Alter von 83 Jahren in Lawrence, Kansas, gestorben. Dem intelligenteren Teil der Menschheit gilt er als eine Art Heiliger und ist unbestritten eine Ikone der Popkultur.


Laurie Anderson: "Er ist dort oben, gleich neben dem Papst." Die Zeitschrift "Rolling Stone" nannte ihn den "Paten des Beat" und den "Großpaten des Punk". Die Bezeichnung für die Musikrichtung "Heavy Metal" geht auf ihn zurück. Ohne ihn wäre die postmoderne Literaturgattung des "Cyberpunk" eines William Gibson nicht denkbar. Die Avantgarde-Bands "The Soft Machine" und "Steely Dan" schöpften ihre Namen und Inspirationen aus seinem Werk. David Bowie pinselte sein Porträt. Sein Foto befindet sich auf dem berühmten Beatles-Cover von "Sergeant Pepper's Lonely Hearts Club Band" in illustrer Umgebung. Und obwohl er sich zeitlebens nur sehr oberflächlich mit Pop- und Rockmusik befaßt hat, nahm er selbst mehr als 20 Platten auf. Auf der 1990 erschienenen CD "Dead Radio City" sang er sogar auf deutsch "Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt". Bereits Ende der fünfziger Jahre stellte er mit dem englischen Avantgardefilmer Antony Balch mehrere Experimentalfilme her. 1990 trat er mit viel Erfolg als "Drogenpriester" in "Drugstore Cowboy" von Gus van Sant auf, einem vielbeachteten Spielfilm, der unsentimental und schonungslos die Drogensucht thematisierte und auf dem gleichnamigen Roman von James Fogle basierte, der von seinen 53 Jahren 35 hinter Gittern verbracht hatte. 1991 verfilmte der Horrorspezialist David Cronenberg, wenn auch nicht restlos überzeugend, eines seiner Hauptwerke mit dem Titel "Naked Lunch." In "Home of the Brave" tanzte er mit Laurie Anderson Tango, obwohl er bis zu seinem Lebensende nicht wußte, wie das geht.


Shotgun Art Im Dezember 1987 zelebrierte er in der "Tony Shafrazi Gallery" in New York seine erste Vernissage. Seine Bilder, die vorwiegend dadurch entstanden, daß er mit einem Gewehr auf vor Preßspannplatten postierte Farbdosen schoß, fanden reißenden Absatz. Es folgten zahlreiche Ausstellungen in aller Welt, und die Preise für seine "Shotgun Art" kletterten rapide in die Höhe. Seine "Scrapbooks" genannten Faksimiles von Kalligraphien und Collagen sind begehrte Sammelobjekte.


Am 31. März 1990 hatte am Hamburger Thalia Theater "The Black Rider" Premiere, eine Oper nach Motiven des Textes "Der Freischütz" von August Apel und Friedrich Laun, der schon Carl Maria von Weber inspiriert hatte. Für das Libretto zeichnete unser Mann verantwortlich, während Musik und Regie von den hochverehrten Amerikanern Tom Waits und Robert Wilson beigesteuert wurden. Das umjubelte Ereignis wurde im Juni des selben Jahres im Rahmen der "Wiener Festwochen" wiederholt und vom ORF aufgezeichnet und ausgestrahlt.


Vom Genius besessen Das alles sind nun aber bloß die Nebenaktivitäten eines Schriftstellers, dessen umfangreiches Werk zum bedeutendsten in den USA seit 1945 erklärt wurde, dem Norman Mailer bescheinigte, daß er "vom Genius besessen" sei, und dessen formale Neuerungen eine kleine Revolution auslösten. Und als wären diese Verdienste nicht genug, verdiente er sich auch noch Sporen als Kleinkrimineller und unabsichtlicher Mörder, als radikaler Wortführer der Studentenrevolte der sechziger Jahre und als Drogenexperte, der selbst ein halbes Leben lang kompromißlos an der Nadel hing. Seine Biographie ist demnach nicht minder aufregend als seine Werkgeschichte.


William Seward Burroughs II. wurde am 5. Februar 1914 in St. Louis, Missouri, geboren. Sein Großvater war Erfinder der Addiermaschine und Begründer der mächtigen "Burroughs Corporation", die noch heute in der Kommunikationstechnik satte Umsätze erzielt. Im hochherrschaftlichen Elternhaus am Mississippi fühlte er sich aber von Anfang an nicht wohl, und so setzte er alles daran, um sein dreckiges Image als geisterhafte Persönlichkeit und homosexueller Junkie-Pornograph zu kultivieren. Zu diesem Image gehörte auch seine Begeisterung für Schußwaffen, die fatale Folgen haben sollte. Anfang der fünfziger Jahre bat er in Mexico City seine schwer benzedrinsüchtige Ehefrau Joan, sich ein Glas auf den Kopf zu stellen, daß er ihr vor Publikum in einer lässigen Wilhelm-Tell-Nummer herunterschießen wollte. Er jagte ihr die Kugel direkt in die Schläfe, so daß sie auf der Stelle starb. Von diesem Augenblick an fühlte er sich, obwohl er strafrechtlich nie belangt wurde, von einem bösen Geist besessen. Und auch der gemeinsame Sohn William Seward Burroughs III., der schon speedsüchtig auf die Welt gekommen war, hatte nichts zu lachen. Nach einem grauenhaften, wie den literarischen Horrorszenarien des Vaters entsprungenem Leben wurde er mit knapp über 30, von Alkohol und Drogen zerfressen, tot in einem Straßengraben aufgefunden.


Die formale Ausbildung des William S. Burroughs beschränkte sich auf ein abgebrochenes Studium der englischen Literatur in Harvard und zwei Semester Medizin im Wien der Jahre 1936/37. Seine wirkliche Universität war die Straße, wo er sich am liebsten in der kriminellen Subkultur herumtrieb. In Chikago war er kurzfristig als Detektiv und Kammerjäger tätig. In New York kam er erstmals mit harten Drogen in Berührung und finanzierte seine Sucht, indem er in der U-Bahn Betrunkene ausraubte. Die diesbezüglichen Erfahrungen hat er unsentimental und ohne falsche Scham in seinem ersten Roman "Junkie" dargestellt, den er 1953 unter dem Pseudonym William Lee veröffentlichte.


El Hombre Invisible In Texas versuchte er sich mit einem Kompagnon kurzfristig als Baumwollfarmer, dann folgten Abstürze in New Orleans und Mexico City sowie mehrere Entziehungskuren in Lexington, Kentucky. In Guatemala hatte er, auf der Suche nach der sagenumwobenen Droge Yage, zahlreiche Abenteuer im Dschungel zu bestehen. Und schließlich verließ er, da ihm die immer rigider werdenden Drogengesetze mehr und mehr zusetzten, den amerikanischen Doppelkontinent und ging für 25 Jahre ins freiwillige Exil nach Nordafrika und Europa.


In Tanger, das als internationale Zone viele Künstler und Glücksritter anzog, starrte er, wie schon gehört, fünf Jahre lang seine Schuhspitzen an. Die Strichjungen nannten ihn, wenn er, auf der Suche nach einem Schuß, wie ein Geist durch die schmalen Gassen schlich, "El Hombre Invisible" , den Unsichtbaren. Doch auch in seinen schwärzesten Zeiten hörte er niemals mit dem Schreiben auf.


Paul Bowles: "Alles lag über den gesamten Boden verstreut. Hunderte von Blättern gelben Kanzleipapiers, Monat um Monat auf den Boden geworfen, mit Abdrücken von Schuhabsätzen, Rattenkot, Sandwichkrümeln, Ölsardinen. Es starrte von Schmutz. Ich sagte: ,Bill, was ist das alles?` Er antwortete: ,Daran arbeite ich gerade.` ,Hast du einen Durchschlag?' ,Nein`, sagte er. ,Warum hebst du's dann nicht auf?` Und er sagte, mit einem Schokoriegel in der Hand: ,Hm, eines Tages wird's schon aufgehoben werden.`"


Bei dem Manuskript handelte es sich um den Roman "Naked Lunch", einer wüsten Aneinanderreihung fieberhafter Drogenfantasien, der ihm nicht nur einen Prozeß wegen Pornographie einbringen, sondern auch seinen Ruhm begründen sollte und in 16 Sprachen übersetzt wurde.


Bereits in New York hatte er Jack Kerouac, Allen Ginsburg und Gregory Corso kennengelernt, die, wenn sie auch keine literarischen Gemeinsamkeiten aufwiesen, später der Einfachheit halber zur "Beat Generation" zusammengefaßt wurden, die einen entscheidenden Einfluß auf die Hippie-Bewegung ausübte. Im älteren Burroughs sahen sie eine Art Lehrer, zu dem man aufblicken konnte, und Ginsburg war sein zeitweiliger Geliebter, bevor er sich mehr zum jungen Peter Orlovsky hingezogen fühlte. Mit der von der "Beat Generation" propagierten Love & Peace-Mentalität konnte sich der Autor von "Junkie" und "Naked Lunch" aber überhaupt nicht anfreunden. Zu Ginsburgs Unart, Polizisten Blumen in die Hand zu drücken, äußerte er sich folgendermaßen: "Ich kenne nur eine gute Methode, einem Bullen Blumen zu überreichen: im Blumentopf, und aus einem möglichst hoch gelegenen Fenster."


Die "Beat Generation", zu der nun auch noch andere Autoren und Künstler gestoßen waren, bezog in Paris Quartier in einem kleinen Hotel in der Rue Git-le-Coeur 9, einer Absteige der Kategorie 13, die folglich "Beat Hotel" genannt wurde. Burroughs freundete sich mit dem englischen Maler Brion Gysin an, einem glühenden Verehrer des Adels, und entwickelte mit ihm zusammen die Cut-up- und Fold-in-Methoden, subversive Tonbandtechniken und die psychedelische "Flackermaschine", eine Vorläuferin der heutigen "Brain-Machines".


Cut-up Bei den Cut-ups, auf die sie zufällig gestoßen waren, ging es darum, eigene oder fremde Texte zu zerschneiden und nach dem Zufallsprinzip neu zu arrangieren, was im günstigen Fall völlig neue Sinnzusammenhänge ergab. Das war eine ideale Möglichkeit, nicht lineare Drogenerfahrungen widerzuspiegeln, irrationales, unlogisches Material entstehen zu lassen, anstatt in Wörtern in Assoziationsblöcken zu denken, den Schriftsteller aus der Tyrannei von Syntax und Grammatik zu befreien und sein Bewußtsein, das ja auch nicht nach den Gesetzen einer traditionellen "Story" funktioniert, direkt und ungefiltert abzubilden. Burroughs maß dem Verfahren eine immense subversive Sprengkraft bei und machte sich mit Feuereifer an die Arbeit.


In seiner Cut-up-Trilogie, bestehend aus "Nova-Express", "The Ticket that Exploded" und "The Soft Machine", entwarf er seine ureigene Privatmythologie und -kosmologie und schreckte dabei auch vor paranoid anmutenden Vorstellungen nicht zurück. Überall wimmelte es von Agenten, von mörderischen Insekten aus anderen Galaxien, und die allerschlimmsten Feinde waren die Frauen. "Ich glaube", sagte er, "die Frauen waren ein grundlegender Irrtum, und die ganze dualistische Welt entwickelte sich aus diesem Irrtum." Und: "Liebe ist ein vom weiblichen Geschlecht verübter Schwindel." Allerdings revidierte er später diese krasse Meinung und pflegte mit Frauen wie Laurie Anderson, Kathy Acker oder Tama Janowitz, die nicht dem amerikanischen Klischee von der Hausfrau und Mutter entsprachen, innigen Umgang.


Und er erzielte durchaus auch prophetische Treffer. So sah er schon in den sechziger Jahren den Zusammenbruch der Sowjetunion, den Aidsvirus und die ökologischen Probleme voraus. Und wie die hellsten Geister von heute, etwa ein Ken Wilber, lehnte er schon damals vehement die von Aristoteles eingeführte dualistische Weltsicht ab, was uns ja auf eine höhere Evolutionsstufe beamen soll.


Sein Generalthema aber waren die Kontrollsysteme, mit deren Hilfe die Machthaber die Individuen beherrschen und unterdrücken. Seine Gesellschaftskritik war im wesentlichen eine semantische, und er wurde nicht müde, darauf hinzuweisen, daß die Begriffe nicht die Dinge sind, die sie bezeichnen. Durch Verwendung abstrakter Worthülsen und undurchsichtiger Formeln seitens der Politik und der ihr angeschlossenen reaktionären Medien werden die Menschen jeglicher Individualität beraubt und zu willenlosen Befehlsempfängern konditioniert. Demnach muß man erst, will man einen revolutionären Prozeß einleiten, die Hegemonie von Wort und Bild im westlichen Verständnis brechen und auf Zeichensysteme nach dem Vorbild der Mayas und Ägypter zurückgreifen, die einen direkten Zugriff auf die Realität erlauben. Er sympathisierte mit den Dekonditionierungsmethoden der "Scientology"-Sekte, namentlich dem E-Meter, wandte sich aber wegen ihrer hierarchischen Strukturen und der offensichtlichen Machtgier bald wieder davon ab.


In ausführlichen Interviews, die der Schweizer Daniel Odier für das Buch "The Job" mit ihm führte, in zahllosen Beiträgen für die Underground-Presse und in seiner "Akademie-Serie" entwarf er unermüdlich scheinbar brauchbare Guerilla-Strategien zur Ausschaltung des kapitalistischen Systems, obwohl er dem kommunistischen genausowenig abgewinnen konnte. Die Begriffe der "Nation" und der "Familie", die er als Grundübel ansah, sollten z. B. untergraben werden, indem sich gleichgesinnte Individuen in Gemeinschaften zusammenschlossen, sich international vernetzten und mit den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt kooperierten. Sie sollten simulierte Autoritätseinheiten schaffen, Simultanregierungen, eigene Polizei- und Militärstaffeln, fingierte Zollstationen und schließlich ganze Städte übernehmen. Revolutionäre Gewalt, davon war Burroughs wie viele andere zu seiner Zeit felsenfest überzeugt, sei die einzige Möglichkeit, um den dritten Weltkrieg und die damit verbundene atomare Auslöschung zu verhindern.


Wie all diese Utopien geendet haben, wissen wir. Und so ist es vielleicht nur folgerichtig, daß William Seward Burroughs II. am Ende seines Erdenlebens Veränderungen ausschließlich mit seiner Kunst und magischen Mitteln herbeiführen wollte. Sein böser Geist wurde ihm im Rahmen einer schamanistischen Schwitzhütten-Zeremonie ausgetrieben, und sein unter so vielen Schmerzen entstandenes Werk ist heute lesenswerter denn je.

Donnerstag, 07. August 1997

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