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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

In Tokio mischt sich die Moderne mit Nostalgie

Konsummaschine mit Luxusnischen

Von Christian Heise

Es gibt Mäuse in der U-Bahn. Man sieht sie nur, wenn man mit starrem Blick den Beton zwischen den Gleisen fixiert. Dann erblickt man gelegentlich eine flinke
Bewegung, ein flüchtiges Huschen in Grau. Nur ihre Bewegung verrät die Tierchen, die sich völlig der Farbe von Gleisen, Steinen und Staub angepasst haben. Wer als Besucher zum ersten Mal nach Tokio
kommt, dem ist die Haltung des erstarrten Beobachters nicht fremd. Oft genug geschieht es, dass er die ganze Stadt als immensen Teilchenbeschleuniger wahrnimmt, in dem Partikel und Passanten,
Schriftzeichen, Reklametafeln, blinkende Verkaufsautomaten in immer schnellere Fahrt geraten, während er selbst sich als regloses Masseteilchen empfindet, das schwer ist und schwerer wird.
Kulturschock sagt man sich dann, das ist der berühmte Kulturschock, von dem so viele Reiseführer berichten. Aber irgendwann hält plötzlich die U-Bahn vor einem und reißt einen aus der
Erstarrung, oder ein Unbekannter, der es eilig hat, stößt einen zur Seite und drängt in das Innere des überfüllten Zuges.

Die U-Bahn ist der Ort, in dem laut Statistik ein Tokioter Angestellter durchschnittlich zwei Jahre seines Lebens stehend verbringt. Um zur Arbeit in der Metropole zu gelangen (und abends wieder nach
Hause), nehmen nicht weniger als 1,9 Millionen Pendler aus den an Tokio angrenzenden Präfekturen (Bundesländern) Chiba, Saitama und Kanagawa täglich ohne weiters Fahrzeiten von bis zu vier Stunden in
Kauf. Und die Bilder sind bekannt: Menschenfluten, darunter Schulkinder aller Altersstufen mit enormen Schultaschen, werden zu den Stoßzeiten von blauuniformierten Stationswärtern in die Waggons
gepresst, deren Türen sich nur unter Einsatz aller Kräfte und, wenn diese nicht mehr ausreichen, mit Hilfe von Schiebebrettern Zentimeter für Zentimeter schließen lassen. Wer es noch nicht selbst
erlebt hat, weiß nicht, was der Ausdruck Masse realiter bedeutet.

Doch der monströse erste Eindruck täuscht. Als Gravitationszentrum ist Tokio zwar zu Recht berühmt dafür, wie das gut geölte Räderwerk einer riesigen Maschine zu funktionieren. Als weltstädtisches
Phänomen stellt es sich durchaus anders dar. Nirgendwo wird das so deutlich wie in Kanda, jenem Stadtteil, in dem, nur wenige U-Bahn-Minuten vom Zentrum entfernt, Tokios „Kraftreserven" zuhause sind.
Wer einen Seismograph für die Dynamik der Metropole sucht, ist hier am richtigen Ort.

Wenn man die Station Jimbocho im Herzen Kandas durch den Ausgang Iwanami Hall verlässt, sieht man allerdings zunächst nicht, worum es geht. Dort erinnert alles an das normale Treiben einer
geschäftlich rücksichtslosen Großstadt. Aber schon bald ahnt auch der flüchtigste Besucher, dass sich hinter dieser Alltagswelt etwas anderes verbirgt. Er entdeckt die Eingänge zu den verwinkelten
Seitengässchen der Umgebung, spürt das zauberische Gift, das ihnen entströmt, setzt ein paar Schritte in sie hinein und erkennt schlagartig: Tokio gehört zu den zwei oder drei Städten mit den
wundervollsten Antiquariaten der Welt. Hier findet man alles, was man anderswo schon lange vergebens gesucht hat. Dies betrifft auch Österreichs Vergangenheit.

Wer wissen möchte, wie es im Wien der letzten Jahrhundertwende wirklich ausgesehen hat, der reiche zwei Wochen Urlaub ein, verfüge sich mit einem Billigticket nach Tokio, verkrümele sich in die
hinterste Ecke einer der Buchläden und wühle in den Regalen, um mit Kostbarkeiten, wie den vergessenen Sozialreportagen Max Winters, wieder aufzutauchen, oder klettere die Stiegen in Kitazawa's
Bookstore hinauf und grabe aus einer alten Kiste einen (fast) kompletten Jahrgang (1926) der „Arbeiter-Zeitung" hervor. In Jimbocho kann man stundenlang stöbern und sich immer weiter verlieren,
im Vertrauen auf das Gesetz der guten Nachbarschaft, das besagt, dass das eigentlich gesuchte Buch immer das Buch daneben ist. Wer nie an einem sonnigen Spätnachmittag in Jimbocho unterwegs war, weiß
nicht, wie süß das Leben sein kann.

Kunst als Weltsprache

„Ein bisschen Bildung macht die ganze Welt verwandt", behauptete Mark Twain. Dies ist die gebotene Formel, wenn es gilt, den Mythos Tokio zu erkunden. Je engere Kreise der Besucher dabei um
die kulturellen Fixpunkte dieser Stadt zieht, desto besser kann er verfolgen, wie sehr die Weltsprache Kunst die Kommunikation bereits erleichtert. Ein guter Einstieg ist z. B. die Achse Yanaka-Nezu-
Sendagi in der alten Tokioter Unterstadt (Shitamachi). Hier, in der Nachbarschaft der 1889 gegründeten Universität für Bildende Künste und Musik (Geidai), logieren seit je viele Künstler und
Literaten. Die Erinnerung an den bekanntesten Bewohner, den Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1968, Yasunari Kawabata, lebt in winzigen örtlichen Einsprengseln von Stille und Beschränkung
fort. Seit einigen Jahren kommt nun neues Leben in Gestalt von Galerien und kleinen Ausstellungshallen hinzu. Bevorzugte Standorte sind Hinterhöfe und ausgediente, aber aufwendig umgebaute
Handwerkerhäuschen und Badeanstalten.

Ohne hier den hoffnungslosen Versuch zu unternehmen, die vitale Tokioter Kunstszene ins Prokrustesbett einer Kurzbeschreibung zu zwängen, lässt sich über ihr Erscheinungsbild doch immerhin so viel
sagen, dass sie den Tokioter Erfahrungshorizont auffächert. Diese Anmerkung ist aber nur vor dem Hintergrund der jüngsten Vergangenheit verständlich.

Tokio erlebte in den Jahren 1986 bis 1991 eine asset price inflation in einer Größenordnung, die bis dahin auch international als unvorstellbar erschien. In dieser Zeit haben Unternehmen und
Private vor allem bei Aktien, Grundstücken und bei Importkunst auf immerwährende Wertsteigerungen ihrer Anlagen gesetzt und sich, um auf den rasenden Zug aufspringen zu können, dabei sozusagen über
beide Ohren verschuldet. Doch das Ende dieser überschäumenden Spekulationswelle blieb nicht aus, und nach dem Platzen der „Bubble" (1992) kam es zum unvermeidlichen und bis heute andauernden
Entschuldungsprozeß; Investitions- und Verbrauchsnachfrage werden dadurch erheblich geschmälert.

Die Folgen für die Gesamtwirtschaft sind bekannt. Tokios Banken stecken mitten in einem krampfhaften Sanierungsprozess. Insgesamt, so schätzt der Internationale Währungsfonds, liegt der aufgelaufene
Wertberichtigungsbedarf des japanischen Finanzsektors noch immer bei 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes; eine schier unvorstellbare Größenordnung, nicht zuletzt wenn man bedenkt, dass seit Mitte
der 90er Jahre ununterbrochen bereinigt und entschuldet wird.

Unter den Antworten auf die Frage: „Wie war das · wie war solch Leichtsinn · möglich?" spielt immer wieder auch der Hinweis auf die kapitalistischen Enthemmungen des Kunstmarkts eine Rolle.
Selbstverständlich trägt dieser Bereich nicht die gleiche Erklärungslast für das Unvorstellbare wie etwa die Immobilienfinanzierungen, aber er hat den „Vorteil", Spuren hinterlassen zu haben, die
einige seiner Komponenten aufdecken und sie nachvollziehbar machen. Und man erkennt das Grundmuster der „Bubble".

Denn als z. B. der Investor Yasumichi Morishita am 11. 11. 1989 bei Sotheby's in New York zuschlug und an einem Abend nicht weniger als 115,8 Mill. $ für 86 Gemälde hinlegte, da ließ er mit diesem
Auktionsrekord (für eine Einzelperson) den internationalen Kunsthandel in eine neue Dimension hinein wachsen. Doch mehr als das: Er hatte nicht nur 115,8 Mill. $ ausgegeben, er hatte zugleich seinen
Kreditrahmen bei seinen inländischen Banken um geschätzte 350 Mill. $ erhöht. Diese ließen sich in ihrer Kreditvergabepolitik nämlich von der Vorstellung leiten, dass Kunstwerke mehr der monetären
als der ästhetischen Sphäre zuzuordnen seien und im Endeffekt zu behandeln wären wie Finanzderivate ohne (oder wenn dann nur mit äußerst geringen) „Zins- oder Wechselkursschwankungen". In der
Kalkulationsgrundlage der Banken waren somit nur sehr geringe Absicherungskosten zu berücksichtigen. Für Japans Banken und Nichtbanken, die Ende der 80er Jahre besonders großes Interesse an der
Ausweitung ihres bilanzunwirksamen Geschäftes hatten, ergaben sich hier verlockende Möglichkeiten. Der internationale Kunsthandel benötigte seinerseits nicht lang, um enorme Verkaufschancen zu
wittern.

Finanzbeziehungen

Die Nutzung von importierter Kunst aus den USA und Europa (wer erinnert sich nicht an die Sensationsverkäufe nach Japan von Bildern wie Van Goghs „Porträt des Dr. Gachet", Renoirs „Au
Moulin de la Galette" oder Picassos „Pierrettes Hochzeit") trug wiederum dazu bei, die japanische Importstatistik deutlich zu verbessern, ein Nebeneffekt, welcher der Regierung, die damals
(wie heute) unter erheblichem Erklärungsbedarf gegenüber den USA wegen der hohen Handelsbilanzüberschüsse Japans stand, sehr gelegen kam. Für dieses Umgehungsinstrument wurden folglich keine
administrativen Beschränkungen auferlegt. In Japans Einfuhrstatistik tauchen für die Jahre 1989 und 1990 Kunst, Kunsthandwerk und Antiquitäten als zweitgrößte Position auf. Insgesamt hat der
fernöstliche Inselstaat zwischen 1986 und 1992 in dieser Importkategorie Waren im Wert von 9,7 Mrd. $ eingeführt. Die Auslagen für Kunst überstiegen allein im Jahr 1991 diejenigen für ausländische
Kfz um das 1,5-fache.

Kunst wurde bei Tokios Entscheidungsträgern als ein Medium für den Ausbau von Finanzbeziehungen gesehen. Nach dem Kollaps der Hyperspekulation waren viele Galeristen und Anleger plötzlich zu
tragikomischen Helden ihrer selbst und zu vermeintlichen Opfern des weltweiten Kunstmarktes geworden. Bis heute wissen viele Händler nicht, was sie mit den vielen Gemälden und Skulpturen machen
sollen, die sie während der „Bubble-Jahre" zu teilweise grotesk überhöhten Preisen im Westen gekauft haben und für die sie jetzt, trotz hoher und höchster Abschläge, im In- und Ausland keine Abnehmer
mehr finden.

Zugleich bestätigt sich aber für Tokio das, was man früher als theoretisch nahezu selbstverständlich bezeichnet hat: dass nämlich eine ökonomische Bruchlandung die Tendenz habe, dem künstlerischen
Potential einer Stadt ungeahnte Auftriebskräfte zu verleihen. Für Kunstliebhaber ist daher ein Besuch in Yanaka/Nezu heute extrem reizvoll. So, stellt man sich vor, muss es im Paris der 20er Jahre
ausgesehen haben oder im Greenwich Village der Nachkriegszeit. Noch kann man das Leben der Bohème leben, noch ist der künstlerdarstellende, narzisstische Jahrmarkt der Eitelkeiten ein Produkt der
ferneren Zukunft und nicht der Gegenwart.

Tokios Kunstszene gleicht dieser Tage einem mit hoher Drehzahl schnurrenden Verbrennungsmotor. Als Treibstoff dient diesem Aggregat ein Gemisch aus raffinierter Tradition, das von einer Form der
Kreativität gezündet wird, die ungemein energisch der Zukunft zustrebt. Die Tradition, die in der jungen Kunst hoch verdichtet zur Explosion gebracht wird, ist selbst eine Mischung aus der Solidität
der Action Art Bewegung und der Kurzlebigkeit vergötternden Ära des Pop. Der Streetstyle von Crossover sowie der sich anschließende, vergleichsweise harmlose Lifestyle
scheinen kaum eine Rolle zu spielen.

Wer allerdings glaubt, die zeitgenössische Kunst sei ob ihres beginnenden internationalen Erfolges auch außerhalb Tokios hoch angesehen, der irrt. Hier gilt es noch immer, den Kampf mit dem
Konservativismus aufzunehmen, der sich beim Durchschnittsjapaner wie eh und je an der Ehrerbietung für das Kaiserhaus und der Vorliebe für Antiquitäten zeigt. In einer Gesellschaft, deren
Establishment nie einen Hehl aus seiner ambivalenten Einstellung zu „westlicher" Kunst gemacht hat, sind bestenfalls Yoga, also japanische Kunstwerke im westlichen Stil, akzeptabel. Das mag erklären,
weshalb Tokios Künstler stets das Wort Zukunft wie eine Beschwörungsformel gebrauchen, die unablässig wiederholt werden muss, soll sie ihre Wirkung tun. Das Tokio des Jahres 2000 flirtet jedenfalls
unablässig mit dem postindustriellen Zeitalter.

Im Gegensatz etwa zu New York, das sich in seiner Selbstverliebtheit noch immer selbst exportiert, gibt man sich in Tokio hauptsächlich rational, solide und technikverliebt. Letztlich aber besagen
diese Charakteristika nicht viel. Vergleiche sind so sinnlos wie zwischen den „B"-Komponisten: Bach, Beethoven, Brahms, Bruckner.

Im großen Maßstab betrachtet bleibt Tokio eines der weltweit wichtigsten Wirtschafts- und Finanzzentren. Der Großraum gleicht mit 20 Millionen Menschen (nur in den 23 Tokioter Stadtbezirken lebten am
1. 1. 2000 nach der jüngsten Statistik exakt 11,95 Millionen) einer riesigen Konsummaschinerie. Wer seinen Weg hierher gefunden hat, sieht sich einer ungefilterten Wirklichkeit schutzlos ausgesetzt,
denn nichts scheint für seine Ohren gesprochen, nichts kommt ihm entgegen, und nichts hilft ihm zu verstehen. Man beginnt zu schauen, und alles ist ganz nah und zugleich ganz unverständlich. Und doch
ist Tokio wie eine riesige Exemplifizierung eines Satzes von Adorno, der sagte, große Zusammenhänge in der modernen Welt verstehe, wer imstande sei, ein Nanometer abzulesen.

Freitag, 07. April 2000

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