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Die arabische Literatur steht im Mittelpunkt der Frankfurter Buchmesse

Mehr Dschungel als Wüste

Von Stefan Weidner

Die arabische Literatur boomt auf dem deutschsprachigen Buchmarkt - und keiner merkt es. Seit dem Nobelpreis für den Ägypter Nagib Machfus im Jahr 1988 weist die Zahl der aus dem Arabischen übersetzten Bücher eine jährliche Zuwachsrate von 10 bis 20 Prozent auf. Konnte man Mitte der achtziger Jahre nur eine Handvoll zeitgenössischer arabischer Autoren auf Deutsch lesen, die zudem in so kleinen Verlagen erschienen, dass sie kaum aufzufinden waren, so sind heute über 200 Werke der arabischen Literatur lieferbar - Gedichtbände, Romane, Anthologien und Klassiker. Da sind die französisch schreibenden Nordafrikaner, wie etwa Tahar Ben Jelloun oder Assia Djebbar, noch gar nicht mitgezählt, ebenso wenig Koranausgaben oder Sachbücher über die arabische Welt. Jetzt ist der vorläufige Höhepunkt dieses Trends erreicht, denn die arabische Welt ist das "Gastland" bei der derzeit laufenden Frankfurter Buchmesse.

Amts- und Literatursprache

Die arabische Welt ist geographisch und kulturgeschichtlich ein weitgehend einheitlicher Raum. Die Bevölkerungsmehrheit dieser 22 Länder ist muslimisch, die Amts- und Muttersprache des größten Teils der Bevölkerungen ist arabisch. Trotz großer dialektaler Unterschiede - vergleichbar etwa denen zwischen Deutschland und Österreich - bildet das klassische Arabisch nach wie vor in allen diesen Ländern die Literatursprache. Mit anderen Worten: Ein Iraker kann problemlos einen marokkanischen Roman lesen - sofern nicht zu viel Umgangssprache in den Dialogen vorkommt. Insofern ist es richtig, von der arabischen Literatur zu reden.

Die Zentren der arabischen Verlagswelt sind Beirut und Kairo, so wie es für die englischsprachige Welt London und New York sind. Und die großen, in London angesiedelten arabischen Tageszeitungen, wie zum Beispiel "al-Hayat" oder "al-Quds-Al-Arabi", die fast täglich Literaturbesprechungen bringen, werden überall in der arabischen Welt vertrieben - wenn sie nicht gerade verboten sind. Doch die kulturelle Homogenität wird konterkariert durch die sprichwörtliche politische Uneinigkeit der Araber. So gibt es zum Beispiel in den Golfstaaten kaum eine literarische Produktion von internationaler Bedeutung. Dafür gibt es dort das Geld. Ein Großteil der arabischen Aktivitäten auf der Buchmesse wird von den Golfstaaten finanziert - die Autoren aber kommen aus Ägypten, Syrien, Libanon und aus dem Exil.

Dies alles hat historische, politische und soziologische Gründe. Die politischen und wirtschaftlichen Umstände, unter denen die Araber innerhalb von 200 Jahren eine Entwicklung durchmachten, für die Europa fast ein Jahrtausend brauchte, waren dabei denkbar ungünstig. Es beginnt schon bei der Frage, wer überhaupt liest. Das ist keine Frage des Analphabetismus, sondern eine der aktiven Lesebereitschaft. Denn die arabische Sprache hält Schwierigkeiten bereit, die nur mit großem Zeitaufwand und Bildungseifer bezwungen werden können. Der Hauptgrund liegt darin, dass die arabische Hochsprache seit vorislamischer Zeit, also seit 1.500 Jahren, morphologisch und grammatikalisch praktisch unverändert ist.

Das macht es zwar für jeden gebildeten Araber leicht, die ältesten Texte zu lesen. Für einfache Leute jedoch ist Hocharabisch zunächst einmal eine Fremdsprache, da ihre Muttersprache der lokale Dialekt ist, der zwar in der Regel auf das Arabische zurückgeht (wenn es sich nicht um Berber- oder Minderheitensprachen wie Kurdisch, Assyrisch, Armenisch handelt), jedoch so weit davon entfernt ist wie ein zünftiges Schwyzerdütsch vom Hochdeutschen. Das hat zur Folge, dass man selbst bei etablierten arabischen Schriftstellern nicht selten grammatikalische Fehler findet, die man hierzulande keinem Studenten durchgehen lassen würde, die aber von den Schreibern selbst oft durchaus als korrekt empfunden werden. Das Gefühl dafür, was sprachlich gut und richtig ist, geht in der arabischen Welt mehr und mehr verloren, und die Streitigkeiten unter den arabischen Schriftstellern, die sich gegenseitig vorwerfen, ihre Sprache nicht zu beherrschen, sind legendär.

Dies alles ist aber nicht nur als Verlust zu sehen, sondern auch als ein Symptom der Befreiung vom Gängelband einer überalterten, von vielen für heilig erachteten Sprache, der Sprache des Korans. Vielleicht ist die Befreiung von der absoluten Autorität der klassischen arabischen Sprache sogar das wichtigste Charakteristikum der neuen Literaturströmungen in der arabischen Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Dazu kommt, dass in den meisten arabischen Verlagen aus wirtschaftlichen Gründen ein funktionsfähiges Lektorat fehlt. Deshalb ziehen es viele arabische Schriftsteller

vor - sofern sie dazu in der Lage sind -, in anderen Sprachen zu schreiben, besonders auf Französisch (meist Nordafrikaner oder christliche Libanesen). Die europäischen Sprachen sind einfacher zu handhaben - und bieten dem, der in diesen Sprachen schreibt, sogleich Zugang zu einem zuverlässigen und finanzkräftigen Buchmarkt.

Kein arabischer Buchmarkt

Das ist nämlich das andere große Problem der gegenwärtigen arabischen Literatur: Sie hat keinen Markt, der so perfekt organisiert ist wie etwa jener in den deutschsprachigen Ländern. Es gibt kein Bestellsystem, kein zuverlässiges Verzeichnis lieferbarer Bücher, und außerhalb des Exils und der Golfstaaten auch keinen bedeutenden Internet-Buchhandel. Die Verlage, die sich auf moderne arabische Literatur spezialisiert haben, überleben häufig nur dadurch, dass sie jüngere und weniger bekannte Autoren für die Publikation ihrer Bücher zahlen lassen. Das ist nicht nur für den einzelnen Autor verheerend, sondern auch für das Bild dieser Literatur an sich, denn so wird der ohnedies schwache Markt mit einer Flut unreifer Werke überschwemmt, zwischen denen man die wirklich empfehlenswerten suchen muss wie die berüchtigte Nadel im Heuhaufen.

Selbst ein bekannter belletristischer Autor kann in der arabischen Welt mit seinen Büchern nicht ausreichend Geld verdienen, da es schlicht an Lesern fehlt. 3.000 verkaufte Exemplare sind für die meisten ein Wunschtraum, und wer mehr absetzt, gilt schon als Star - und kann doch nicht davon leben. Fast alle Schriftsteller sind darauf angewiesen, in einer staatlichen Kulturbehörde, als festangestellter Journalist oder als Dozent und Lehrer unterzukommen - Jobs, die in der arabischen Welt zwar äußerst schlecht bezahlt sind, dafür aber genug Zeit fürs Schreiben lassen, wenn man bescheiden lebt.

Hinzu kommt das Problem der Zensur, das in der arabischen Welt sehr komplex ist. Eine Direktzensur, also den Zwang, die für den Druck vorgesehenen Bücher einer Zensurbehörde vorzulegen, gibt es kaum noch. Stattdessen gibt es zahlreiche Varianten einer nachträglichen Zensurpraxis, wobei bereits erschienene belletristische Bücher entweder vom Staat oder von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, meist radikalen Muslimen, für zensurwürdig befunden und danach verboten werden. In der Folge werden manchmal auch Verleger oder Autoren zur Rechenschaft gezogen und müssen mit Prozessen oder Drohungen aller Art rechnen.

Diese Art der Zensur ist vor allem wegen ihrer Unberechenbarkeit und Willkür gefährlich. Andererseits entgehen ihr zahlreiche rein literarische Werke, die im Rahmen der üblichen geringen Auflagenhöhen bleiben - so dass es manchmal verwunderlich ist, was es alles in arabischen Buchläden zu kaufen gibt, während es oft seltsam erscheint, was verboten wird, etwa seit Jahrzehnten lieferbare Klassiker. Im Übrigen können fast alle bei uns bekannten arabischen Exilschriftsteller derzeit in ihre Heimatländer einreisen.

So schwierig die Bedingungen für die gegenwärtige arabische Literatur sind, so groß ist aber der Druck, sich auszudrücken und die Stimme zu erheben - zumal das geschriebene Wort traditionell größte Wertschätzung genießt. Und die kulturellen Strömungen, an die man als Autor anschließen kann, sind äußerst vielfältig. So wie die alten levantinischen Hafenstädte der Umschlagplatz für den Warenaustausch zwischen Ost und West waren, ist der arabische Autor heute eine Art Umschlagplatz für Ideen und Traditionen. Insbesondere die neunziger Jahre haben eine explosionsartige Vervielfältigung der literarischen Möglichkeiten gebracht. Heute bietet die arabische Literatur buchstäblich alles: Spitzenliteratur und kitschige Banalitäten, Hermetisches und Oriental-Romantisches, Experimentelles und Klassisches, Blasphemisches und Restauratives. Die Literaturszene in der arabischen Welt ist keine Wüste, sondern ein Dschungel.

Wie aber steht es um die arabische Literatur in deutscher Übersetzung? Gewissermaßen außer Konkurrenz in Sachen arabische Literatur steht der Basler Lenos Verlag. Rund fünfzig zeitgenössische arabische Romane und Erzählungssammlungen hat er bisher publiziert, darunter viele der großen Autoren der arabischen Welt. Als hervorragende Einführung ist eine repräsentative Anthologie mit Erzählungen der wichtigsten Lenos-Autoren unter dem Titel "Auf Besuch" erschienen. Seit dem Frühjahr liegt mit "Sains Hochzeit", dem vierten Buch des Sudanesen Tajjib Salich (geb. 1929), das Gesamtwerk eines der größten, auch auf Deutsch ohne Abstriche lesenswerten arabischen Autors vor. Unübertroffen und uneingeschränkt zu empfehlen ist Salichs Hauptwerk, "Zeit der Nordwanderung", das seit seinem Erscheinen im Original 1966 eines der wenigen unumstrittenen Kultbücher der arabischen Literatur ist.

Die Erfolge des aus Libyen stammenden Tuareg-Autors Ibrahim al-Koni, mit mittlerweile sieben Büchern einer der Schwerpunkt-Autoren des Basler Verlages, werden soeben mit al-Konis Sahara-Erzählungen fortgesetzt werden ("Die steinerne Herrin"). Al-Konis Werk beschreibt eine Welt, die eigentlich gar keine arabische ist: jene der Tuareg, der Saharanomaden. Darin wird das Leben dieser Nomaden mit ihren aktuellen Problemen nicht in realistischer Weise geschildert, sondern als mythisch aufgeladener Gegenentwurf zur Moderne inszeniert. In der archaischen Welt al-Konis kämpfen die ewigen Antipoden Geld und Moral, Exzess und Askese, Mann und Frau, Tradition und Erneuerung gegeneinander, so etwa in seinem 800-seitigen Opus magnum "Die Magier".

Eine der wenigen Satiren

Auch die surreal-makabren, erfrischend tabulosen Kurzgeschichten des 1931 geborenen Syrers Sakarija Tamer sind besonders empfehlenswert. In dem Erzählband "Die Hinrichtung des Todes" schickt der im Londoner Exil lebende Autor berühmte Persönlichkeiten der arabischen Geschichte immer in die falsche Zeit - eine der wenigen Satiren in der heutigen arabischen Literatur. Mitten in die Gegenwart, ins Herz des israelisch-palästinensischen Konflikts, entführt hingegen die bedeutendste palästinensische Autorin, Sahar Khalifa (geb. 1941), mit ihrem sechsten auf Deutsch vorliegenden Werk, "Die Verheißung" (Unionsverlag, siehe dazu Seite 4). Eine glaubwürdigere Botschafterin als die ebenso charmante wie lebhafte Palästinenserin können sich ihre Landsleute kaum wünschen. Auch ein in Deutschland lebender Iraker ist in Frankfurt mit einem großen Roman vertreten: Najem Walis "Ein Berg aus Fleisch" berichtet von den Irrungen und Wirrungen arabischer Intellektueller der 68er-Generation.

Für die Araber ist die angesehenste Literaturgattung übrigens nicht der Roman, sondern seit vorislamischer Zeit die Versdichtung. Wer die arabische Literatur wirklich kennen lernen will, kommt daher um die Lyrik nicht herum. Ein Leckerbissen für Poesie-Fans ist der 1930 geborene Adonis. Seine Dichtung ist keineswegs so hermetisch, wie man auf den ersten Blick denken mag. Einleuchtend beschreibt er den Einbruch der Moderne in die alte arabische Welt: "Das Minarett weinte / Als der Fremde kam / Er kaufte es ohne Not / Er baute darauf einen Schlot." Besonders brisant ist sein aus dem Jahr 1971 stammendes, endlich jetzt übersetztes Langgedicht "Ein Grab für New York", das von vielen Interpreten als dichterische Vorausahnung des 11. September gedeutet wird.

Lyrik besonders angesehen

Wer einen sanfteren Einstieg in die arabische Lyrik sucht, ist mit Fuad Rifka am besten beraten. Der Libanese, der in Deutschland über Heidegger promoviert hat und deutsche Lyrik übersetzt, schreibt genau so, wie er es in dem Gedicht "Sprache" aus dem Band "Das Tal der Rituale" formuliert hat: "Nackt, / einfach und arm, / Kindersprache / in des Sprechens Anfang / ist seine Sprache: / Die Sprache der Tiefen." Neben diesen beiden Lyrikern darf der 1942 geborene Palästinenser Mahmoud Darwish nicht übersehen werden. Von ihm liegt im Ammann Verlag ein Band mit dem Titel "Wir haben ein Land aus Worten" vor. Wie der Titel schon sagt, gibt Darwish den Palästinensern eine friedliche Heimat - in der Dichtung. Er dürfte unter den Palästinensern populärer sein als Arafat.

Das Problem der arabischen Literatur im deutschsprachigen Raum liegt nicht darin, dass es keine Übersetzungen gäbe. Das Problem ist vielmehr, dass die Vermittler fehlen. Aber das könnte sich bald ändern. Mit dem heurigen Buchmessenschwerpunkt wird ein neuer literarischer Kontinent entdeckt, der die Leser noch lange beschäftigen und auch in Zukunft viele Überraschungen für sie bereithalten wird.

Stefan Weidner lebt als Autor, Übersetzer und Literaturkritiker in Köln. Zu seinen Büchern über arabische Literatur siehe Seite 4 dieser Beilage. Stefan Weidner liest am 21. Oktober im Antiquariat Buch & Wein, Schäffergasse 13a, 1040 Wien, aus seinen Büchern (19.30 Uhr).

Empfohlene Literatur:

Adonis: Ein Grab für New York. Gedichte, arabisch und deutsch. Ammann Verlag.

Ibrahim al-Koni: Die Magier. Roman. Lenos.

Mahmoud Darwish: Wir haben ein Land aus Worten. Ammann.

Elias Khoury: Das Tor zur Sonne. Klett-Cotta.

Najem Wali: Die Reise nach Tell Lahm. Hanser.

Sahar Khalifa: Die Verheißung. Roman. Unionsverlag.

Nagib Machfus: Die Reise des Ibn Fattuma. Unionsverlag.

Fuad Rifka: Das Tal der Rituale. Gedichte, arabisch und deutsch. Straelener Manuskripte.

Tajjib Salich. Zeit der Nordwanderung. Lenos.

Sakarija Tamer: Die Hinrichtung des Todes. Geschichten. Lenos.

Freitag, 08. Oktober 2004

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