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Zum 40. Todestag des Romanciers George Saiko

Saiko: Unzeitgemäß und unbequem

Von Michael Hansel

Freiheit, das ist manchmal nur die Möglichkeit, gerade was man sich im tiefsten Grunde wünscht, so lange hinauszuschieben, bis es zu spät ist, heißt es an einer Stelle in George Saikos vielleicht bekanntestem Werk, dem Roman "Der Mann im Schilf". Und müsste ich den Schriftsteller und Kunsthistoriker Saiko in einem einzigen Satz charakterisieren, fiele mir kaum ein geeigneteres Zitat ein, das das schriftstellerische Leben des Dichters besser beschreiben könnte. Als Saiko 1948 seinen ersten Roman, "Auf dem Floß", veröffentlichte, war er bereits 56 Jahre alt. 1955 folgte "Der Mann im Schilf", und in Saikos Todesjahr 1962 erschienen zwei Novellenbände, "Giraffen unter Palmen" und "Der Opferblock". Der Umstand, dass der Dichter nicht gerade viel geschrieben hat, mag mit ein Grund sein, weshalb er schon bei seinem Tod weitgehend unbekannt war und es bis heute geblieben ist. Auch erschwerte der enorme Umfang seiner Romane schon aus verlagskalkulatorischer Sicht ihre Veröffentlichung. Und bei der Auswahl seiner Verleger stand Saiko das Glück nicht oft zur Seite. Gleichermaßen scheint es, als sei dem Schriftsteller, der sich sein ganzes Leben abweisend gegen jeden Literaturbetrieb zeigte, ein Kampf um die Drucklegung seiner Texte eben erst mit zunehmendem Alter wichtig geworden. So erschien beispielsweise sein einziges Theaterstück "Hof- und Personal-Nachrichten", das bereits 1932 fertiggestellt war, nicht mehr zu Saikos Lebzeiten, sondern erstmals 1986 im Druck. Dass Saikos Texte obendrein sehr diffizil und nicht gerade leicht zu lesen sind, führte zu einer äußerst ambivalenten Beurteilung durch Leser und Kritik. George Saiko, der meinte, er schreibe, um sich von seinen Stoffen zu befreien und benötige dazu kein Publikum, fühlte sich aber von der Literaturkritik sichtlich missverstanden und lieferte wohl auch deshalb in seinen literaturtheoretischen Essays eigene Interpretationen zu seinen Texten nach, um den Zugang zu seiner Poetik begreifbarer, wenn auch nicht eindeutig erklärbar zu machen.

Ein Autor für wenige

Hochschätzung erfuhr der Dichter durch eine, wenn auch kleine, Kritikergemeinde, zu der sich mit Hermann Broch, Franz Theodor Csokor, Heimito von Doderer, Fritz Hochwälder und Elias Canetti auch die gewichtigen Stimmen namhafter Freunde und Schriftstellerkollegen gesellten.

Kurz vor seinem Tode wurde das Werk des Schriftstellers sogar mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet, doch ist es der literarischen Öffentlichkeit, bzw. dem Publikum dadurch nicht vertrauter geworden. Die zwischen 1970 und 1972 vom Benzinger Verlag vorgenommene erste Neuauflage seines schmalen literarischen Werkes änderte daran ebenfalls nichts. Die Resonanz des Lesepublikums fiel hier ebenso bescheiden aus wie bei Saikos zu Lebzeiten erschienenen Publikationen. Erst Ende der achtziger Jahre wurde dem Vergessen intensiver entgegengewirkt. 1987 fand, bezeichnenderweise in den USA, unter Leitung des Literaturwissenschafters Joseph Peter Strelka das erste Symposion zu George Saiko und seinem Werk statt. Aber auch Veröffentlichungen oder Ausstellungen zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages 1992 - wie beispielsweise die fünfbändige Leseausgabe sämtlicher Werke des Autors (erschienen zwischen 1987 und 1992) durch den Salzburger Germanisten Adolf Haslinger oder eine Ausstellung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek - konnten einem Desinteresse durch die literarische Öffentlichkeit nur beschränkt entgegenwirken.

George Emmanuel Saiko wurde am 5. Februar 1892 in Seestadtl/Nordböhmen geboren. Der Sohn wohlhabender Eltern studierte nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums in Komotau Psychologie, Philosophie, Archäologie und Kunstgeschichte in Wien. Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs versuchte sich Saiko zusammen mit seinem Freund und Studienkollegen Franz Theodor Csokor als Schauspieler in einem von der bekannten Schauspielerin Ida Orloff zusammengestellten Ensemble in St. Petersburg. Nach kurzem Kriegsdienst als "Einjährig-Freiwilliger" war er dem Kriegspressequartier zugeteilt.

Der Wissenschaftler

Nach dem Krieg wandte Saiko sich wieder intensiver dem Studium zu, und ausgedehnte Studienreisen führten ihn nach England, Frankreich und Italien.

Wohl infolge der schlechter gewordenen finanziellen Lage der Familie sicherte er sich seinen Lebensunterhalt vornehmlich mit Übersetzungsarbeiten aus dem Russischen. Nach seiner Dissertation über den frühbarocken Palastbau in Wien arbeitete Saiko ohne finanzielle Sorgen als Privatgelehrter und Kunsthistoriker und veröffentlichte Essays in englischen Fachzeitschriften. Zu Kriegsbeginn 1939 wurde George Saiko von den nationalsozialistischen Machthabern mit Schreibverbot belegt und als Kunsthistoriker zwangsweise an die Graphische Sammlung Albertina dienstverpflichtet. Verantwortlich für Schutz und Bergung der Exponate der Albertina vor möglichen Kriegseinwirkungen, gelang es ihm auch nach dem Krieg die wertvollen Objekte der Institution vor Zugriffen der russischen Soldaten zu bewahren. Seit 1945 war Saiko provisorischer Leiter der Albertina und entwarf Pläne für den Um- bzw. Einbau von feuer- und einbruchsicheren Tresorräumen in dem von Bombentreffern schwer beschädigten Haus. Nach einem Zerwürfnis mit dem neu bestellten Direktor wurde Saiko seines Amtes enthoben und lebte fortan als freier Schriftsteller in Wien.

Das literarische Werk Saikos erschien bis auf zwei vom Expressionismus geprägte Erzählungen ("Das letzte Ziel", 1913 und "Die gnadenlose Stadt", 1914) erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Thematisch und formal gehört der Autor jedoch jener Schriftstellergeneration der Zwischenkriegszeit an, deren Jugendjahre in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg fielen und deren literarisches Schaffen zeitlebens auf den Zerfall des Habsburger Reiches bezogen blieb. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen wurde dieser Bezug für Saiko aber nie

zur traumatischen Fixierung. Sein Schreiben hat mehr mit der Erkenntnisliteratur Robert Musils oder Hermann Brochs gemeinsam als mit den elegischen Nachklängen Joseph Roths oder Franz Werfels und stellt distanzierte Analysen der Gesellschaft seiner Kindheit und des politischen Chaos der Ersten Republik nach dem Zusammenbruch der Monarchie dar.

In Saikos poetischen Texten geht es vielfach darum, vorbewusste und unbewusste Triebregungen mittels Symbolen in der Fiktion zu erfassen. Da das unkontrollierbare Triebhafte die Erzählfunktion entscheidend bestimmt, erscheinen die Realität und der Handlungszusammenhang - durch die Techniken perspektivischer Brechung, durch Sprünge und Überlagerungen von Geschehnisebenen - in eine Fülle assoziativ verbundener psychischer Empfindungen zerstückelt. Dieser psychologisierenden Erzähltechnik, die Assoziationen, innere Bilder, Gefühlseindrücke und Gedanken ineinander geschichtet abrollen lässt, setzt Saiko aber ganz bewusst die Darstellung äußerer Geschehensabläufe entgegen.

"Realismus der Tiefe"

Diese Form der Gestaltung des Unbewussten - Saikos "neuer Realismus des inwendigen Menschen" - greift auf das Literaturkonzept eines James Joyce zurück und wird in der Fachwelt als "magischer Realismus" etikettiert.

George Saikos Betonung der irrationalen Triebkräfte ist durch sein Interesse an der psychoanalytischen Theorie und Praxis geprägt. Als Student hatte er in Wien Vorlesungen von Sigmund Freud gehört; später unterzog er sich selbst jahrelang einer Psychoanalyse. Ihr Einfluss auf Thema und Konzeption seiner Texte scheint unübersehbar, deutet jedoch nur eine Seite seines Schreibens an und reduziert nicht den Wert und die Eigenart von George Saikos erzählerischer Sprachkunst. Saikos "Realismus der Tiefe" verlangt allerdings einen aufgeschlossenen, aktiven, oft eigenschöpferischen Leser, der aus den Erfahrungen, Erinnerungen, Assoziationen, unbewussten Bildern und Symbolen sich die spannende Wechselwirkung zwischen Triebstruktur und Handlungsmuster seiner Personen erst entschlüsseln und begreifend erschließen muss. Diesem anspruchsvollen Schreibansatz - in der kaum mehr Realität übrig zu bleiben scheint - war aber nur eine kleine Minderheit von Lesern bereit zu folgen.

Saikos Rang als großer Erzähler erweist sich nun dort, wo er sein Erzählverfahren in den Dienst der Epochenanalyse stellt und eine Totalität von innerem und äußerem Geschehen beschreibt. Die Inhalte seiner beiden Romane wie auch der Erzählungen aus dem Band "Der Opferblock" vermitteln ganz spezifische historische Bedingungen, wo soziales Milieu und geschichtliche Situation deutlich fixiert sind, inneres und äußeres Geschehen, gesellschaftliche Konventionen, ideologische und machtpolitische Einflüsse, verdrängte Erfahrungen und triebhafte Kräfte einander gegenseitig durchdringen und erhellen. Das Resultat sind beeindruckende literarische Studien einer zerfallenden Welt, deren konkreter Österreich-Bezug unübersehbar ist.

"Auf dem Floß" entstand zu einem großen Teil bereits in den dreißiger Jahren: Den körperlich schwächlichen, aber intellektuellen Protagonisten des Romans, den Fürsten Alexander Fenckh, verbindet mit seinem einfältigen, aber bärenstarken Diener Joschko eine besondere Beziehung gegenseitiger Abhängigkeit. Auf Drängen des Bischofs, der ein Bruder des Fürsten ist, verheiratet Fenckh Joschko mit seiner Konkubine Marischka, die sich am Fürsten rächt, indem sie seinen Diener vergiftet. Um sich Joschkos "Gegenwart" zu sichern, verspricht der Fürst dem Sterbenden, seine Leiche ausgestopft in einem Glaskasten der Schlosshalle aufzustellen. Auch das weiß Marischka zunichte zu machen.

Mit der Rückwendung zur feudalen Gesellschaft der habsburgischen Monarchie folgt dieses Werk auch einem in der österreichischen Literatur dieser Zeit weit verbreiteten Muster. Aber im Gegensatz zu der dort dominierenden Sentimentalität ist Saikos Perspektive von tiefenpsychologischer Neugierde geprägt und gräbt sich dabei zu jenen Bewusstseinsschichten vor, in denen die österreichische Katastrophe der dreißiger Jahre wurzelt.

Saikos zweiter Roman, "Der Mann im Schilf", umkreist ein tatsächliches historisches Ereignis - den Naziputsch von 1934 -, der die Figuren mit sich reißt und ihr Verhalten bestimmt. In den Sog dieses politischen Geschehens geraten zufällig drei aus Kreta zurückkehrende Archäologen, der Österreicher Robert und ein englisches Ehepaar, die im Raum Salzburg in den undurchsichtigen Kleinkrieg von Bundesheer, Gendarmerie, Heimwehr, nationalsozialistischen Putschisten und Agenten verwickelt werden. Bei der Suche nach einem flüchtigen Putschisten, der sich im Schilfgürtel eines Sees verborgen haben soll, wird Hanna, die Verlobte Roberts, beim Versuch die-sen zu befreien, erschossen. Der

Mann im Schilf bleibt unauffindbar.

Abgesehen von der Lese-Arbeit, die Saiko seinem Publikum abverlangte, reagierte der Autor aber ebenso mit der Thematik seiner Texte auf den ersten Blick unzeitgemäß und unbequem. So machte er im Staatsvertragsjahr 1955 mit dem "Mann im Schilf" den österreichischen Bürgerkrieg von 1934 zum Romanthema, womit er den damals verbündeten politischen Parteien - SPÖ und ÖVP - jene schwarzen Jahre der österreichischen Geschichte vor Augen führte, die bis heute einem Verdrängungsprozess unterliegen. Der Kontinuität von Seelenzuständen und Verhaltensweisen der Österreicher von der imperialen Vergangenheit bis zur Zweiten Republik hat Saiko einen Essay mit dem bezeichnenden Titel "Hinter dem Gesicht des Österreichers" (1957) gewidmet. Ebendort ortet er im österreichischen Umgang mit der Geschichte einen "ungeheuren Verdrängungsprozess" und kaum einen Ansatz "in der Öffentlichkeit des Landes, sich mit dieser Vergangenheit klärend und reinigend auseinanderzusetzen".

Österreichische Sorgen

Es ist wohl nicht einzig Saikos eigenwillige Erzählweise, die bisher eine breitere Resonanz seines Werkes verhinderte, sondern auch die öffentliche Verdrängung der jüngeren österreichischen Geschichte, der er sich als einer der ersten in der österreichischen Nachkriegsliteratur mit Beharrlichkeitentgegengestellt hatte.

Seinen Misserfolg führte George Saiko unter anderem gerne auf die literarische Borniertheit in Österreich zurück, und mit Schwermut, aber nicht ohne Ironie meinte er: "Schriftsteller zu sein ist ein Schicksal. Österreichischer Schriftsteller zu sein, ist ein Malheur." Für Saiko völlig unerwartet kam dann auch die späte Zuerkennung des Großen Österreichischen Staatspreises für Literatur, den der todkranke Autor im Audienzsaal des Unterrichtsministeriums am 5. Dezember 1962 entgegennahm. Es bedurfte allerdings jahrelanger Fürbitten und teils vehementer Forderungen einiger Schriftstellerkollegen - wie etwa Heimito von Doderers, der Saiko nach anfänglicher Freundschaft zwar persönlich mied, aber eben für einen großen Schriftsteller hielt -, die Saiko zu dieser Ehre kommen ließen. In seiner Dankesrede erwog der Siebzigjährige noch neue künstlerische Pläne, zu denen es aber nicht mehr kommen sollte. Am 23. Dezember 1962 verstarb er in seinem Haus in Rekawinkel in Niederösterreich.

Literatur zu George Saiko:

Adolf Haslinger (Hg.): George Saiko. Sämtliche Werke in 5 Bänden. Salzburg 1987-1992.

Hans Wolfschütz: George Saiko. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartliteratur. München 19. Nachlieferung 1985, aktualisiert 48. Nachlieferung. 1994.

Michael Hansel ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Österreichischen Nationalbibliothek tätig und arbeitet im Österreichischen Literaturarchiv an einem Forschungsprojekt über George Saiko.

Freitag, 20. Dezember 2002

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