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Wie Berlin feiert

Brecht: Spannendes von den Rändern

Von Michael Bienert

"Eine Pappel steht am Karlsplatz / Mitten in der Trümmerstadt Berlin / Und wenn Leute gehn übern Karlsplatz / Sehen sie ihr freundlich Grün" - so beginnt ein Kinderlied, das Brecht bald nach der Rückkehr aus 15jährigem Exil in seine Wahlheimat Berlin geschrieben hat. In den östlichen Bezirken ist das Lied stadtbekannt, denn es gehörte zu den kanonischen Texten in den Schullesebüchern der DDR. Es erzählt von einem Nachkriegswinter, in dem die Berliner die meisten Straßenbäume verfeuerten. Die Pappel am Karlsplatz blieb verschont. Brecht, der Bäume liebte, schloß sein Gedicht: "Seid bedankt, Anwohner vom Karlsplatz / Daß man sie noch immer hat!"


Die Lebensdauer von Pappeln ist begrenzt, und so mußte auch diese irgendwann gefällt werden. Doch wurden auf Initiative einer Schule, die Brechts Namen trägt, in den achtziger Jahren gleich mehrere Bäume nachgepflanzt. Auf einem Trümmergrundstück zwischen alten Häusern entstand eine Grünanlage mit Bänken. Oft flatterten an den Bäumen Zettel mit Brechts Versen, von Anwohnern mit Reißzwecken angeheftet. Vor einem Jahr war hier eine Ausstellung mit Kinderzeichnungen zu Brechts Gedicht zu sehen, eine Erinnerung an den harten Hungerwinter vor einem halben Jahrhundert. Am 100. Geburtstag des Dichters plante LesArt, das Berliner Zentrum für Kinder- und Jugendliteratur, einen Workshop am Karlsplatz unter dem Titel: "Ein Gespräch über Bäume".


Mitte Jänner waren die Pappeln und Sträucher und Parkbänke auf einmal nicht mehr da. Ausländischen Zeitungskorrespondenten, die eigens nach Berlin gereist waren, um die literarische Traditionspflege der Deutschen am Beispiel Brechts zu studieren, bot sich ein schauriger Anblick: An einem dünnen Metallgitterzaun klebte das Lied von der trostspendenden Kraft der Bäume, dahinter war jedes Kräutlein abrasiert, nur die aus dem Erdreich ragenden Stümpfe mit den frischen Schnittkanten erinnerten an den geschändeten genius loci. Wer immer dafür verantwortlich war, er war jedenfalls klug genug gewesen, kein Bauschild aufzustellen, das die Anwohner alarmiert hätte. Auf Nachfrage erklärte das zuständige Grünflächenamt, es sei Sache des Bauherrn, die Öffentlichkeit zu informieren. Man habe jedoch Reiser von einer Pappel genommen, um Bäume nachzuziehen, die in ferner Zukunft wieder am Karlsplatz eingepflanzt werden könnten.


Vom Karlsplatz aus kann man den illuminierten Wald der Baukräne über dem Aushub für das neue Regierungsviertel sehen und denkt unwillkürlich an Brechts Gedicht über die zermalmende Wucht der Städte: "So kurz war die Zeit / Daß zwischen Morgen und Abend / Kein Mittag war / Und schon standen auf altem, gewöhnetem Boden / Gebirge Beton." Fünf Minuten zu Fuß sind es von den gefällten Pappeln mit zum entkernten und mit einer neuen Kuppel gekrönten Reichstag. Eine verlockende Gegend für Bauspekulanten, die zahlungskräftige Mieter mit dem Wunsch nach Regierungsnähe erwarten. Nicht nur die Pappeln waren dieser Gewinnerwartung im Weg. Schrägüber steht ein Palais leer, das bis vor drei Jahren als Künstlerklub "Die Möwe" bekannt war. Hier befand sich Anfang der fünfziger Jahre das Büro Helene Weigels, die als Intendantin das "Berliner Ensemble" aufbaute und damit Brechts Regieerfolge erst ermöglicht hat. Eine Bank hat das Haus gekauft und will es zu einer Ländervertretung in der Hauptstadt umbauen. Um die Ecke ist die alte Probebühne des Berliner Ensembles bis auf einen Fassadenrest abgerissen worden, ebenfalls um für einen gewinnträchtigen Neubau Platz zu schaffen.


So wird das Netzwerk der Erinnerung in den Straßen zwischen den berühmtesten Brecht-Gedächtnisstätten, dem Theater am Schiffbauerdamm, dem letzten Wohnhaus an der Chausseestraße und dem Dorotheenstädtischen Friedhof, allmählich fadenscheinig. Die literarische Topographie ist hier so engmaschig und beziehungsreich wie in Goethes Weimar. Aber in der Stadt existiert bislang kaum Bewußtsein dafür. Politiker und Manager träumen vom zukünftigen Berlin, das in zwei Jahren Regierungssitz werden soll. Entsprechend sorglos geht man mit Vorhandenem um. Was sind schon ein paar Pappeln gegen ein rentables Geschäftshaus?


Der Regierende Bürgermeister Eduard Diepgen hat die miese Stimmung unter dem Stadtvolk zum Jahreswechsel damit erklärt, daß die Berliner einfach nicht zur Kenntnis nähmen, wie positiv sich ihre Stadt entwickle. Die Rede verhallte unwidersprochen, weil sowieso keiner mehr hinhört, wenn das Stadtoberhaupt Grundsatzerklärungen von sich gibt. Doch mag mancher Stadtbürger mit Ostbiographie an die Verse gedacht haben: "Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?"


Für die Berliner Stadtväter ist Brecht lediglich als Touristenattraktion interessant. Schon vor zwei Jahren hat der christdemokratische Kultursenator Peter Radunski verkündet, Brecht sei ein "Pfund", mit dem Berlin im Jahr 1998 wuchern müsse. Doch bei der Organisation und Vermarktung des Jubiläums bleibt die Hauptstadt weit hinter Düsseldorf oder Westfalen zurück, die im vergangenen Jahr Heinrich Heine und Annette von Droste-Hülshoff gefeiert haben. In Berlin gibt es nicht einmal einen gemeinsamen Veranstaltungskalender für die zahlreichen Jubiläumsveranstaltung.


Konzeptlos hat die Kulturverwaltung den Geldhahn aufgedreht. Der weltweit operierenden Bühnenmagier Robert Wilson hat eine halbe Million Mark für ein Projekt am Berliner Ensemble angekündigt, als Inszenierung des Radiolehrstücks "Der Ozeanflug" - nicht gerade ein Hauptwerkt, das nun mit Texten von Heiner Müller und Dostojewski aufgepeppt wurde. Die Planlosigkeit der Verwaltung zeigte sich auch daran, daß sie die überfällige Renovierung der Wohnung und des Archivs im Brecht-Haus unmittelbar vor dem 100. Geburtstag anberaumt hat - mit der Folge, daß das Archiv in der Zeit, in der es am dringlichsten gebraucht wurde, für fast ein Jahr unzugänglich war.


Man braucht Glück und Geduld, um die Rosinen im großen Geburtstagskuchen zu finden. Das Berliner Ensemble empfiehlt sich dabei nicht als erste Adresse. 1992 ist es von einem musealen Staatstheater in ein hochsubventioniertes Privattheater umgewandelt worden, mit zunächst fünf Direktoren, von denen nach endlosen Quereleien und wenigen künstlerischen Triumphen nur noch Heiner Müller übrigblieb. Müller starb 1995, sein überforderter Nachfolger, der Schauspieler Martin Wuttke, warf das Handtuch nach einem Jahr. Derzeit befindet sich das Haus in einem ungewissen Übergangsstadium. Seit einem halben Jahr fiebert Berlin dem Jawort des Mannes entgegen, der es als deus ex machina aus dem künstlerischen Bankrott retten soll: Peymann, hilf!


Für ein volles Haus sorgt einstweilen noch immer Heiner Müllers Inszenierung des "Arturo Ui" . Daß man die Hälfte des Textes rein akustisch nicht versteht, scheint das Publikum nicht zu stören und fällt bei den zahlreichen Auslandsgastspielen schon gar nicht auf. Neben dem mit raubtierhafter Behendigkeit agierenden Hauptdarsteller Martin Wuttke wirkt das Ensemble blaß und steif, wie abgestellt im Müllers kargen Bühnentableaus. So auch in dem neuen "Galilei" des Regisseurs B. K. Tragelehn, für den man Sepp Bierbichler als Hauptdarsteller verpflichtet hat. Wie Bierbichler sich Brechts Text anverwandelt, ist grandios, aber der Gast aus Bayern findet kaum Resonanz bei seinen Mitspielern. Symptomatisch für das Haus: Mit eingekauften Stars hält es sich künstlerisch über Wasser, aber was sein Name verheißt, ein Ensemble und einen Ensemblegeist, scheint ihm unrettbar abhandengekommen.


Am Brecht-Geburtstag wird das Theater "Die Maßnahme" zeigen, Brechts berüchtigtes Lehrstück über die Opferung eines undisziplinierten Genossen in der illegalen Untergrundarbeit. Als es Anfang der dreißiger Jahre in Berlin zur Uraufführung kam, ließ Brecht Fragebögen unter dem Arbeiterpublikum verteilen, um zu ermitteln, ob das Stück einen "politischen Lehrwert" habe. Später hat er es für Aufführungen gesperrt. Überraschend wurde es nun von den Erben freigegeben. Klaus Emmerich hat das Oratorium als ironischen Abgesang auf die kommunistischen Ideale inszeniert.


Während das Berliner Ensemble einer ungewissen Zukunft entgegengeht und wahrscheinlich unter Peymann mit seiner Brecht-Tradition brechen wird, scheint das Deutsche Theater langsam in die Rolle der führenden Brecht-Bühne hineinzuwachsen. Mit historischem Recht, denn es hat in Brechts Entwicklung eine nicht minder bedeutende Rolle gespielt. 1924/25 war er ein Jahr als Dramaturg am Deutschen Theater angestellt; das ermöglichte es ihm, in Berlin Fuß zu fassen. Nach dem Krieg feierte er hier mit der "Mutter Courage" sein triumphales Comeback. Anders als am Berliner Ensemble ist es am Deutschen Theater gelungen, die hohe Spielkultur aus DDR-Zeiten in die Gegenwart zu retten. Neben einer unterkühlten "Dreigroschenoper" zeigt es seit Dezember eine frühe Fassung von "Im Dickicht der Städte" . Die aufwendige, engagiert gespielte Inszenierung der Brecht-Enkelin Johanna Schall läuft jedoch leer; sie bestätigt nur das Vorurteil, das Stück sei wirr und kraftmeierisch, eine eigentlich unspielbare Jugendsünde.


Vielleicht wäre es überzeugender zur Wirkung gekommen, hätte man es so angepackt wie eine Truppe junger Schauspieler Brechts "Mann ist Mann" in der sogenannten "Baracke" des Deutschen Theaters. Die Geschichte von der Ummontage eines armen Lastträgers zur soldatischen Kampfmaschine läßt an Machtspiele in einer nazistischen Wehrsportgruppe oder in einer balkanischen Bürgerkriegsarmee denken. Der extreme und virtuose Körpereinsatz geht dabei nicht zu Lasten des Textes, wie in der "Dickicht" -Inszenierung. Durch ihren Einfallsreichtum, die Präzision der Regie und den totalen schauspielerischen Einsatz setzt diese Werkstattaufführung einen Maßstab, an den die Bemühungen der großen Bühnen nicht heranreichen.


Unbeholfener, aber nicht minder engagiert und dadurch überzeugend wirkt eine Inszenierung mit Obdachlosen in der Volksbühne. Sie nennen sich "Die Ratten" und zeigen den "Brotladen" , ein Fragment aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise. Die Akteure spielen ihr eigenes Schicksal. Die Armut hat sich in ihre Gesichtszüge eingegraben und ihre Körper verkrümmt. Erträglich wird ihr Anblick und der Geruch von Alkoholikerschweiß durch den Spaß, den sie am Spiel haben. Sie schreien ihren Frust ins Publikum und verwandeln am Ende Bühne und Zuschauerraum in einen Trümmerhaufen. Der Regisseur Günter Seidler hat das so feinfühlig inszeniert, daß es bei aller Komik nie peinlich wird. Nicht Mitleid wird geweckt, sondern Neugier, Sympathie und Verständnis für die Obdachlosen.


So wird Brechts Werk vom Rand des Theaterbetriebs und vom Rand der Gesellschaft her auf seinen Gebrauchswert befragt - mit Erfolg. Ähnlich ungewöhnlich ist ein Versuch, Brechts Leben und Werk als Wegweiser durch die kulturelle Topographie Berlins zu benutzen, es also für einen Zweck in Gebrauch zu nehmen, den Brecht sicher nicht vorausgesehen hat. Der alternative Bildungsverein "StattReisen" bietet gleich vier literarische Stadtspaziergänge an, die in die Theaterlandschaft der zwanziger Jahre, ins Regierungsviertel, zu den sozialistischen Wohnpalästen der ehemaligen Stalinallee und zu den letzten Arbeitsstätten des Dichters führen. Dabei ergeben sich überraschende Berührungspunkte mit der großen Brecht-Ausstellung der Akademie der Künste. Brechts Thesen über sozialistische Architektur, die vor einem Hochhaus mit eingemeißelten Brecht-Versen von einem Stadtführer vorgetragen werden, findet man dort als Typoskript in einer Ausstellungsvitrine wieder, neben Entwurfszeichnungen des Architekten Hermann Henselmann.


Auch die Ausstellung nähert sich Brecht von den Rändern her, spart die großen, weltberühmten Werke aus und zeigt Beiläufiges, Unvollendetes, Fragmentarisches: Notizen über die Umformung antiker Mythen, Entwürfe für Stücke über Kassandra und Rosa Luxemburg, unbekannte Randglossen zur Poetik des Aristoteles, Aufzeichnungen über den Verfremdungseffekt in den Gemälden Pieter Breughels. "22 Versuche, eine Arbeit zu beschreiben" nennen die Verantwortlichen vom Brecht-Archiv ihre Ausstellung. Das Abseitige haben sie so ausgewählt, daß es dennoch einen direkten und frischen Zugang zu Brechts großen Themen eröffnet: zur Frage nach der Verfaßtheit einer besseren Gesellschaft und einer zeitgemäßen Kunst, zur künstlerischen Auseinandersetzung mit der modernen Ökonomie und der Rolle der Naturwissenschaften, zum Anschreiben gegen Faschismus und Krieg. Ohne pädagogisches Gängelband liegt das Material, überwiegend nie zuvor ausgestellte Werkhandschriften und Originaldokumente, auf 45 Arbeitstischen ausgebreitet. Die Besucher sollen sich selbst ein Bild machen, wie in Brechts Schreib- und Denkwerkstatt gearbeitet wurde. Das setzt Neugier, genügen (Lese-)Zeit und gesunde Bandscheiben voraus. Belohnt wird man mit einem ungemein vielfarbigen und anregenden Eindruck von Brechts künstlerischer Arbeit, die über den öffentlichen Debatten um seine politischen Positionen und sein Privatleben bisweilen in Vergessenheit zu geraten droht.


Die Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste ist noch bis zum 29. März zu sehen. Vom 4. bis 14. April veranstaltet das Deutsche Theater ein Brecht-Festival mit Aufführungen und Diskussionsveranstaltungen. Auskünfte über Stadtspaziergänge bei StattReisen Berlin, Tel. 0 30/455 30 28.


Von unserem Mitarbeiter Michael Bienert ist erschienen: Mit Brecht durch Berlin. Ein literarischer Reiseführer. Insel-Taschenbuch-Verlag, 272 Seiten.

Freitag, 20. Februar 1998

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