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Über den erstaunlichen Verkaufserfolg von Wasser

Klarheit in Krisenzeiten

Von Günther Fischer

Für die Griechen war Wasser nur ein Element. Sie ordneten ihm als geometrische Form den Ikosaeder zu. Das ist ein aus 20 regelmäßigen Dreiecken zusammengesetzter Körper. Heute weiß die Wissenschaft, dass die drei Atome des Wassermoleküls aneinander hängen und eher wie ein "V" geformt sind. Daraus bilden sich dann größere Strukturen - bei Eis sind mehr als 12 verschiedene bekannt. Zu welcher Form sich flüssiges Wasser fügt, ist unter Experten aber nach wie vor umstritten - es ändert ständig seine räumliche Geometrie und entzieht sich so jeder Untersuchung.

Auch die "Alltagskarriere" des Wassers entzieht sich einer eindeutigen Zuordnung. Momentan erfahre Wasser einen Imagewandel hin zum Wellnessgetränk, heißt es beim "Verband Deutscher Mineralbrunnen". Einen ähnlichen Ruf hatte die Flüssigkeit allerdings schon in der Antike: Eubolos, Schreiber des griechischen Mathematikers Euklid, meinte, Wasser mache erfinderisch. Der Komödiendichter Kratinos ätzte hingegen, Wassertrinker redeten nur dummes Zeug. Selbst die überlieferten Saufgelage der Germanen können "die Annahme, dass Wasser das unbestrittene Hauptgetränk der meisten Germanen war, nicht widerlegen", meint der Kultur- und Essforscher Gunther Hirschfelder.

15-mal mehr "Mineral" als 1970

Dabei galt Wasser nicht immer als der Gesundheit förderlich. Im Mittelalter empfahlen Ärzte, Wein oder Bier statt Wasser zu trinken. Auch ein Sprichwort aus dem 17. Jahrhundert warnte: "Trink Wasser und stirb!" Nicht ohne Grund galt Wasser als gefährlich, denn Abwässer und Tierkadaver verschmutzten viele Flüsse und Brunnen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein gehörte daher Biersuppe zum Frühstück der einfachen Leute. Erst später lösten Tee und Kaffee das alkoholhaltige Gebräu ab.

Heute leben wir in Zeiten, in denen wir nicht mehr auf Vermutungen angewiesen sind, sondern mit klaren Zahlen aufwarten können. Und die sind mehr als eindeutig: Die Österreicher trinken heute 15-mal mehr Mineralwasser als vor 30 Jahren. Während im Jahr 1970 der Jahresverbrauch an "Mineral" bei 6 Litern lag, trank jeder Österreicher im Jahr 2002 statistisch gesehen bereits fast 90 Liter, Tendenz weiterhin steigend. Im laufenden Jahr wollen die heimischen Mineralwasserabfüller die 100-Liter-Marke pro Person überschreiten.

Auch die Deutschen tranken im vergangenen Jahr erstmals mehr Mineralwasser als Bier. Das kann wohl nicht nur am heißen Sommer gelegen haben: Der Bierverbrauch ist in den vergangenen zehn Jahren von 142 auf 117,5 Liter pro Bauch gesunken, der von Mineralwasser gleichzeitg von 84,6 auf 129 Liter pro Kopf gestiegen. Weitaus am öftesten zum "Mineral" greifen in Europa die Italiener (154 Liter pro Kopf und Jahr), gefolgt von den Franzosen (137 Liter) und den Belgiern (128 Liter).

Warum aber trinken alle plötzlich so viel Wasser? Verwässern wir unsere kulturelle Identität? Ist Wasser mittlerweile etwa gar österreichischer als Wein - oder deutscher als Bier? Wird Wasser in schönere Flaschen gefüllt? Vielleicht weckt sauberes, klares Wasser einfach auch nur die Erinnerung an einstige Paradedurstlöscher wie das Kracherl, selber gemischte Ribisel- oder Himbeersäfte, kalten Tee - und damit an Zeiten, als es noch ein gesichertes Einkommen und die Sozialpartnerschaft gab.

Eine bessere Erklärung für die aktuelle "Wasser-Karriere" gab der französische Schriftsteller, Philosoph und Gastronomiekritiker Jean Anthelme Brillat-Savarin schon 1825 in seiner "Physiologie des Geschmacks". Darin pries er das Wasser als das "natürlichste Getränk", es sei uns "ebenso notwendig wie die Luft". Frei interpretiert: Wer Wasser trinkt, schlürft Demokratie und Transparenz. Dass Wasser überhaupt allen verfügbar werden konnte, ist den Trinkwasserleitungen zu verdanken, mit denen die Römer die Zivilisation in die Städte brachten.

Reinheit und Askese

Auch der Trend, Wasser mit einem Hauch von Aromen zu versehen, war bereits in der antiken Trinkkultur bekannt: Bei den römischen Symposien mischte der "magister bibendi" nur geringe Mengen Wein ins Wasser; in Byzanz fügte man Kümmel oder Anis hinzu, und Galeerensklaven reichte man Wasser mit einem Schuss Essig - ein Durstlöscher, auf den karrierebewusste Menschen auch heute wieder schwören. Nur mit dem Unterschied, dass wir diese und ähnliche Produkte dem so genannten "functional food" zurechnen. Wer dem geschmack-, geruchs- und farblosen Wasser einen Hauch von Geschmack und Farbe zugesteht, bekennt sich zum Genuss, ohne sich von der Fiktion von Reinheit und Askese verabschieden zu müssen. Karge Zeiten können wir uns so relativ preiswert verschönern. Narziss wiederum würde sagen: Wir trinken unser Spiegelbild - denn Wasser ist flexibel und effizient, es lässt uns schön und individuell erscheinen.

Schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde im spanischen Valladolid "hervorragendes Wasser in reizvollen Korbflaschen oder Tonkrügen aller Formen und Farben verkauft", schwärmte ein damaliger Reisender. Manche Kunststoffbehältnisse von heute sehen allerdings so aus, als seien sie in ihrem früheren Leben ein Turnschuh gewesen und enthalten mit Koffein oder Sauerstoff versetztes Wasser. "Wasser mit Sauerstoff versetzen? Das ist Blödsinn", wettert Prof. Hans Zojer, Wasserexperte vom Institut für Hydrogeologie in Graz. "Jedes Trinkwasser ist von Natur aus mit Sauerstoff gesättigt. Es sei denn, es kommt direkt aus der Tiefe arthesischer Brunnen, wie in der Oststeiermark oder dem Südburgenland. Dann genügt es auch, es über einen kleinen Wasserfall, eine Kaskade laufen zu lassen, wie das mit dem Trinkwasser in diesen Regionen ja auch gemacht wird. Dabei nimmt es ganz von allein Sauerstoff aus der Luft auf."

Laut Experten sind die 150 mg Sauerstoff pro Liter, die in ein bestimmtes Tiroler Wasser gepumpt werden, sinnlos. Da wäre es klüger, ein paar Mal tief durchzuatmen, denn auf diese Weise werde der Körper viel effizienter mit Sauerstoff versorgt als durch die Magen- und Darmwände. Andere Wasser wiederum beherbergen zauberische Essenzen wie Gingko, Johanniskraut oder Koriander. "Frauen mit Geschmack freuen sich über Rotklee und Hibiskus", steht auf einer pastellfarbenen Flasche "Rosen-Granatapfel" - und ein Mann, der so ein Geschenk mache, sei ein "Vergissmeinnicht".

Wasser steht heutzutage in einer riesigen Auswahl und Vielfalt zur Verfügung - zumindest in unseren Breitengraden. Mondäne Edelbars haben auf ihren Getränkekarten ganze Seiten dafür reserviert. Und diese exquisiten Naturprodukte kosten dementsprechend viel: Für sechs Euro schenkt Barkeeper

Jerôme in der "Wasserbar" des Pariser Edelkaufhauses "Colette" mit nobler Geste ein Fläschchen tasmanisches Regenwasser in einen Kristallkelch ein; für 3,85 Euro gibt es 0,3 Liter brasilianisches "Petropolis Paulista" und für 4,85 Euro findet sich auf der Getränkekarte der "Oxygizer", das mit Sauerstoff versetzte Trend-Wässerchen aus Tirol. Das Wasser aus einer bestimmten Vulkanquelle in Frankreich wiederum ist für 4 Euro zu haben.

Wenn wir uns in wirtschaftlich kargen Zeiten schon sonst nichts Edles leisten können, müssen wir eben das kristallklare Nass aufwerten. Dabei bestehen die Erdoberfläche wie der menschliche Körper zu rund 70 Prozent aus purem Wasser. Was hat es also zu bedeuten, wenn Wässerchen ohne Kohlensäure und Aroma den allergrößten Zuwachs zu verzeichnen haben? Ein Gefühl von Erdverbundenheit für Städter? Würde es dann nicht reichen, wenn wir schlichtes Leitungswasser trinken, das wir in den meisten Lokalen (wenn auch ungern) kostenlos gereicht bekommen? Ein französischer Reisender, der sich Ende des 18. Jahrhunderts auf diese Weise in einem deutschen Wirtshaus erquickte, notierte: "Ich glich einem Bettler, den man aus Gnade aufgenommen hatte." Vielleicht erinnerte sich dieser Reisende auch nur daran, dass im alten Europa wie im alten Ägypten Wasser vor allem in Krisenzeiten, also nach Ernte- und damit Bierausfällen, das Getränk Nummer 1 war.

Freitag, 23. Juli 2004

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