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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Monolog eines Einsamen im Gemeindebau

Ich halt' es im Kopf nicht aus

Von Christoph Braendle

Ich gehe am Rande des Wahnsinns, sagte der Mann, ich halte es keinen Tag länger aus, keinen Tag mehr in diesem Haus, ich werde verrückt, sag' ich Ihnen, ich werde
verrückt, wahrscheinlich bin ich es schon. Ich habe, ich bin, ich muss . . . Nein, ich kann nicht ausziehen, unmöglich, das ist ein Gemeindebau, ich habe jahrelang gewartet, bis ich hier endlich
diese Wohnung erhielt, Zimmer, Küche, Kabinett, klein natürlich, aber günstig, sehr günstig, es ist mir nicht möglich, wegzuziehen, wohin sollte ich gehen, in eine Obdachlosenunterkunft oder unter
die Brücke gar, ich bitte Sie!!!

Natürlich habe ich einen Antrag auf eine andere Wohnung gestellt, oft und oft. Ausgeschlossen, sagte man mir, völlig hoffnungslos, vergessen Sie's: Solange Sie keine Zeugen haben, solange es keine
Beweise gibt, solange nur Ihr Wort . . . Hören Sie etwas? Nein? Nein, ich höre auch nichts. Jetzt nicht, jetzt ist alles ruhig. Es herrscht Ruhe im Haus, und das, sage ich Ihnen, das ist die
Verschwörung, das ist die Gemeinheit, so geht das seit Jahren, seit Jahren geht das so, es ist immer nur dann ruhig, wenn ich die Untragbarkeit der Zustände beweisen will, dann ist es ruhig im Haus,
totenstill, sonst aber nie. Wenn ich Zeugen herbeischaffe, ist es ruhig, wenn ich Beweismittel erbringen will, ist es ruhig, die überwachen natürlich meine Wohnung, wenn ich irgendjemanden mitbringe,
der bestätigen soll, dann wird es augenblicklich still. Ich sag' Ihnen, man wird verrückt, wenn man dem ausgeliefert ist. Tag um Tag, Nacht um Nacht, Jahr um Jahr. Niemand nimmt mich mehr ernst. Wenn
ich die Polizei rufe, werde ich ausgelacht. Fünfmal war die Polizei hier, fünfmal war es totenstill, für die bin ich ein Querulant, paranoid, eine Schießbudenfigur . . .

Da! Haben Sie es gehört?

Haben Sie es gehört? Nein? Nein, wahrscheinlich war wirklich nichts. Wenn das nämlich anfängt, dann hört es so schnell nicht mehr auf. Dann geht das weiter. Stundenlang geht das weiter,
stundenlang, sag' ich Ihnen, das dringt ins Gehör, das hämmert im Hirn, das quält und foltert, das füllt den ganzen Körper aus, bis es in den Wahnsinn getrieben hat, bis man verrückt ist. Und erst,
wenn man glaubt, sich an den Wahnsinn gewöhnt zu haben, erst dann bricht es plötzlich ab. Dann ist es still, mucksmäuschenstill, dass einem die Trommelfelle aus den Ohren zu quellen drohen, weil man
die Stille nicht aushält, weil man irgendetwas, irgend einen Schrei, irgend ein Weinen, irgend eine Entsetzlichkeit, die diese verdammte Stille durchbrechen könnte, ersehnt. Irgend einen schönen,
richtigen, lauten Klang. Aber nein, dann bleibt es natürlich still. Nur die normalen Geräusche eines Mietshauses. Das Schlagen von Türen. Das Klappern von Töpfen. Das Scheppern der Mülleimer. Das
Gurgeln in den Abwasserrohren. Das Ächzen des Spannbetons?

Sie können das ganze Ausmaß der Verschwörung daran erkennen, dass jetzt, wo Sie hier sind, alles so furchtbar normal erscheint. Wie in jedem Gemeindebau. Singen, Lachen, Schritte. Hier ein Radio.
Dort ein Fernsehgerät. Das Pfeifen aus dem Wasserkessel. Alles ganz normal. Aber ich weiß, ich weiß ganz genau, kaum sind Sie aus dem Haus, fängt es wieder an. Ich halte das nicht mehr aus. Ich halt'
es im Kopf nicht aus. Nein, bleiben Sie! Gehen Sie nicht, noch nicht, vielleicht haben wir Glück, vielleicht hören wir es doch noch. Möchten Sie einen Kaffee? Möchten Sie vielleicht etwas essen? Ich
weiss, was Sie denken. Mit meinen angegriffenen Nerven sollte ich keinen Kaffee trinken. Aber ich brauche den Kaffee, er hält mich wach, und ich muss wach bleiben, weil es sonst noch viel schlimmer
wird. Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn man eingeschlafen ist und dann plötzlich diese . . . diese Schreie in die Träume dringen, diese furchtbaren Schreie. Und in die Träume ihre
Verheerungen bringen, die sich zu Bildern des Grauens verdichten, die mich schweißgebadet aufschrecken lassen, weil ich höre, höre, wie sie weiterschreit. Immer weiterschreit. Stundenlang . . .

Ich verstehe, dass Sie gehen wollen. Es ist wirklich alles ruhig, jetzt ist es tatsächlich ruhig. Und ich weiß, dass es ruhig bleiben wird, solange Sie in meiner Wohung sitzen. Nichts wird sich
ereignen. Sie werden weggehen und denken, der ist verrückt, der spinnt, der hat einen Sprung in der Schüssel und zu wenig Tassen im Schrank . . . Aber ich lüge nicht. Ich bin nicht verrückt. Und
werde trotzdem wahnsinnig, wenn es nicht endlich zu einer Entscheidung kommt.

Wann es anfing?

Vor fünf Jahren. Ich zog vor fünf Jahren hier ein. Im September. Ich war glücklich. Endlich meine eigene Wohnung. Endlich mein eigener Herr. Die Nachbarn waren nett. Die nordseitigen, die Bergers,
sehr freundlich. Sie begrüßten mich, als ich einzog. Sie sagten, wenn ich einmal etwas brauche, Milch oder Zucker oder Mehl, dann soll ich nur fragen. Schließlich seien Nachbarn füreinander da,
schließlich müsse man zusammenhalten im Gemeindebau, sie grüßten, sie grüßten immer und freundlich, ich konnte mich nicht beklagen, ich war wirklich sehr zufrieden mit meiner Wohnung, ich dachte, das
ist das große Los.

Dann verlor er seine Stelle. Wurde arbeitslos, begann zu trinken, verlor den Boden unter den Füßen, Sie wissen ja, wie das geht, wenn man sich auf etwas verlässt, und dann hält es nicht. Im Oktober
des nächsten Jahres begann es. Da hörte ich es zum ersten Mal. Gebrüll und Flüche. Die Schläge, das Schreien, das Weinen, Jammern. Aber vor allem die Schläge, immer diese Schläge, Haut auf Haut,
Leder auf Haut, das dringt so leicht durch die Wände, sie sind ja so dünn, diese Wände, das dringt durch, dass man sogar das Pfeifen des Ledergürtels hört. Ich war ja am Anfang gar nicht sicher, was
da vor sich geht. Ich glaubte, die haben jetzt Video und schauen sich Filme an, diese Splatterfilme oder wie die heißen, diese Filme, wo es von Leichen wimmelt, die ja alle irgendwie zu Tode zu
kommen haben. Sie können mir glauben, ich hab' wirklich gedacht, das ist alles ganz harmlos, man sieht ja nichts, man sieht nicht durch die Wände, man hört nur, wie es klatscht, man hört Schreie, man
hört Weinen. Man weiß nicht, ob die Bilder, die im Kopf entstehen, mit der Wirklichkeit irgendetwas zu tun haben, man tadelt die Fantasie, weil man glaubt, die Fantasie gaukelt Wirklichkeit vor.

Erfährt man, was ist, oder hört man, was man hören will? Wird jetzt ein Schnitzel geklopft oder wird die Frau geschlagen? Ich fing an, die Berger genau zu beobachten. Ich hab' Ausschau gehalten nach
blauen Flecken, nach blutunterlaufener Haut, nach Schürfungen, Striemen, nach Wunden der einschlägigen Art. Ab und zu hab' ich etwas entdeckt. Nicht sehr oft allerdings, die rannte ja nicht nackt
durchs Stiegenhaus, manchmal trug sie große Sonnenbrillen, manchmal rannte sie davon, wenn sie mich sah. Einmal versuchte ich, mit ihm zu reden, von Mann zu Mann sozusagen, Sie wissen ja, wie das
geht, aber er wurde nur böse, wurde so wütend, dass er mit der Bierflasche auf mich losging, das geht Sie nichts an, schrie er, das ist meine Frau, mit der kann ich tun und lassen, was ich will,
mischen Sie sich bloß nicht ein, sonst können Sie etwas erleben!!! in diesem Stil ungefähr, von wegen Nachbarn, von wegen Zusammenhalt im Gemeindebau.

Nach einer besonders schlimmen Prügelei alarmierte ich zum ersten Mal die Polizei. Die kam auch ganz brav. Und zogen ebenso brav wieder ab. Kein Vorfall. Keine Anzeige. Nichts. Was sich änderte war,
dass mich der Berger seither jedesmal angiftet, wenn er mich im Stiegenhaus sieht. Ich gewöhnte mir an, nach der Arbeit später nach Hause zu kommen, nach elf erst, ab elf war meistens Ruhe, da hat
sich der Berger wohl erschöpft in seinem Hass, da schlief er den Rausch weg und gab eine Ruh'. Vor sechs in der Früh verließ ich das Haus, mein Chef war zufrieden, weil ich plötzlich doppelt so viel
Zeit im Büro verbrachte, haben Sie jetzt endlich einen Ehrgeiz entwickelt, sagte er nur, ich sagte lieber nichts. Jedenfalls ging das eine Weile lang gut. Wenn irgendetwas wirklich Schlimmes passiert
wäre, hätte mir niemand einen Vorwurf machen können, ich war nicht zu Hause, hätte ich gesagt, und ich hätte gesagt: Für meine Nachbarn trage ich die Verantwortung nicht.

Dann starb die südseitige Nachbarin, die alte Frau Fromaschitz. Die Wohnung stand einige Wochen lang leer. Dann zog der Dr. Worab ein.

Ein netter junger Mann

Ein netter junger Mann, dachte ich, Akademiker, was wohl der will im Gemeindebau. Alleinstehend war er und sehr, sehr höflich, ein guter Mensch, dachte ich, ein Gentleman. Ich unterhielt mich oft
mit ihm. Aus gutem Haus. Anwalt in einer großen Kanzlei. Ich fragte, wieso er in diesen Gemeindebau gezogen sei, bei seinem Einkommen, da könne er sich doch bestimmt etwas Besseres leisten. Er sagte,
ihm gefalle das, es gebe ihm ein Gefühl der Verbundenheit. Ich erzählte ihm sogar von meinen Problemen mit dem Berger, ich fragte ihn sogar um Rat. Juristisch, sagte er, könne man wohl wenig machen,
solange es keine Beweise gebe, menschlich allerdings, er finde das wirklich sehr schlimm, er könne nicht verstehen, wie man jemanden gegen dessen Willen schlage, einsperren sei noch das Mindeste. Ich
pflichtete ihm von Herzen bei und hoffte, endlich einen Vertrauten gefunden zu haben. Bis es nach ein paar Wochen bei ihm losging. Allerdings nur in der Nacht. Die Schläge, die Schreie, das Weinen,
Jammern und Klagen. Aber vor allem die Schläge, immer diese Schläge. Haut auf Haut, Leder auf Haut stundenlang, ich hatte die längste Zeit keine Ahnung, was da geschah, er war ja nicht verheiratet,
er lebte allein. Als ich ihn darauf ansprach, lachte er laut. Dann zeigte er mir stolz seine Sammlung. Peitschen und Gerten. Ruten, Rohrstöcke und Pracker. Er züchtige, sagte er, damit seine vielen
Freundinnen. Er fragte sogar, können Sie sich das vorstellen?, ob ich zuschauen wolle. Ich war schockiert. Er lachte nur umso mehr, die wollen das, sagte er, die rennen mir die Tür ein, die kommen zu
mir, weil ich ihnen gebe, wonach sie verlangen. Und das verrückte ist: Er hat recht. Ich habe beobachtet, ich habe gelauert. An der Tür spioniert und die Frauen gesehen, wenn sie zu ihm gingen und
wenn sie die Wohnung wieder verließen. Die waren glücklich, sage ich Ihnen, die haben gelächelt, die haben gestrahlt. Verstehen Sie jetzt, dass ich mit den Nerven am Ende bin?

Beim Dr. Worab fängt es um Mitternacht an und dauert oft genug bis um vier. Nach sechs beginnt es beim Berger . . . Das Schlimmste ist, dass sich das alles zu mischen beginnt. Die Lust und der
Schmerz, das klingt ja irgendwie gleich. Das kann man kaum unterscheiden. In meinem Kopf ist jetzt nur noch eine einzige große Verwirrung: Schreit sie, weil sie geil ist? Schreit sie, weil sie
leidet? Wenn ich die Berger schreien höre, habe ich Fantasien aus Dr. Worabs Wohnung im Kopf, und wenn es bei Worab kreischt, seh' ich die Berger. Hören Sie jetzt . . . Jetzt . . . Nein, das war es
nicht. Wenn Sie hier blieben, vielleicht würde der Schrecken enden.

Freitag, 03. März 2000

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