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Der Wiener Börsenkrach vom 9. Mai 1873

Ein "schwarzer Freitag" mit Folgen

Von Gerald Wintersberger



"Gestern, Freitag, den 9. Mai, mittags um 1 Uhr, wurde die Wiener Börse polizeilich geschlossen. Und da sage man noch, daß der Freitag ein Unglückstag ist! Die Börse brach unter der
Überlast ihrer Verbrechen zusammen. Seit gestern können ehrliche Leute wieder über die Straße gehen, und Menschen, welche arbeiten, werden nicht mehr Dummköpfe genannt. Seit gestern heißt ein Dieb
wieder Dieb und nicht mehr Baron. Nie hat ein schöneres Gewitter eine verpestetere Luft gereinigt." Das schrieb der Schriftsteller und Feuilletonist Ferdinand Kürnberger über jenes Ereignis am 9.
Mai 1873, das als "Schwarzer Freitag" in die Geschichte eingehen sollte.

Die Schließung der Börsesitzung an diesem Freitag vor 125 Jahren beendete schlagartig eine bis dahin beispiellose Prosperitätsphase der Habsburgermonarchie. Diese "Gründerzeit" begann 1867 mit einem
besonderen Glücksfall. Da der Westen Europas zur selben Zeit von Mißernten heimgesucht wurde, wirkten sich die ungemein günstigen Ernteergebnisse Österreich-Ungarns, die mit der "Wunderernte" des
Jahres 1867 begonnen hatten, auf die Getreideexporte besonders positiv aus. Von den gewaltigen Getreidetransporten, die nun zu bewältigen waren, ging ein starker Impuls auf jenen Sektor aus, der
nachgerade zum Symbol des wirtschaftlichen Fortschritts im 19. Jahrhundert wurde: die Eisenbahn. Die plötzliche Aussicht auf satte Gewinne führte zu einem Gründungsfieber auf dem Gebiet des
Eisenbahnwesens, wie es die Monarchie bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erlebt hatte. Das Schienennetz der Monarchie wurde zwischen 1867 und 1873 mehr als verdoppelt und beendete die im europäischen
Vergleich bedenkliche Rückständigkeit. Die Investitionen ins Verkehrsnetz wirkten wie ein Motor. Andere Branchen, allen voran die Eisen- und Montanindustrie sowie die Bau- und Maschinenbauindustrie,
profitierten vom Eisenbahnboom.

Mit den Gewinnerwartungen stiegen auch Risikobereitschaft und Spekulation. Während zu Beginn des Jahres 1867 in der österreichischen Reichshälfte der Doppelmonarchie lediglich zehn Bankinstitute
bestanden, kam es in den folgenden Jahren zur Gründung von mehr als 130 (!) neuen Banken, die oft mit geradezu sensationellen Dividenden lockten.

Viele dieser zweifelhaften Institute dienten nur einem Zweck: der Spekulation. Dazu kam ein unglaublicher Gründungsboom bei Aktiengesellschaften. Über 1.000 Aktiengesellschaften wurden zwischen 1867
und 1873 neu konzessioniert, mehr als die Hälfte davon allein in den letzten eineinhalb Jahren vor dem Krach. Die Börse wurde zur Lotterie, und die Spekulanten erwarteten nichts anderes als üppige
und mühelos zu erzielende Profite. Die Börse war, wie es der österreichische Ökonom Eduard März formuliert, "einem anhaltenden Hausse-Taumel verfallen, der nur ausnahmsweise von Momenten der
Ernüchterung unterbrochen wurde".

Der Krach

An der unmittelbaren Auslösung des Krachs war die knapp zwei Jahrzehnte zuvor gegründete Creditanstalt, die sich später zu einer der mächtigsten europäischen Banken entwickeln sollte, wesentlich
beteiligt. In einer Blitzaktion Ende April 1873 stieß die Creditanstalt, verunsichert über Gerüchte einer in Paris bevorstehenden Börsenpanik, 20 Millionen Gulden in Effekten ab. Als dann wenige Tage
später, eben am Freitag, dem 9. Mai, der Zusammenbruch eines angesehenen Kommissionshauses und eine Welle weiterer Insolvenzen bekannt wurde (allein an diesem Tag wurden 120 Insolvenzen gemeldet),
war der "Große Krach" perfekt.

Als erste Reaktion auf den Tumult beschloß die Börsenleitung ein Moratorium bis zum 15. Mai. Nach dessen Ende gab es neuerlich sofort 82 Insolvenzen. Vor allem die sogenannten Maklerbanken, denen
viele "kleine Leute" in der Hoffnung auf Spekulationsgewinne ihre bescheidenen Mittel anvertraut hatten, überlebten die erste Phase der Krise nicht. Als auch größere Bankinstitute die Schwierigkeiten
nicht mehr bewältigen konnten, wurde das volle Ausmaß der Krise sichtbar, und die Banken hatten in der Folge unter massivem Vertrauensverlust zu leiden.

Im Herbst, man glaubte die Krise eigentlich überwunden, mußte mit der Bodencreditanstalt bzw. ihrer Tochter "Wiener Bankverein" eine Wiener Großbank, die in Schwierigkeiten geraten war, durch eine
Hilfsmaßnahme der Regierung und der Nationalbank gerettet werden. Von den 72 Aktienbanken in Wien, die 1873 ihre Geschäfte betrieben, gab es ein Jahr später nur noch 28, von insgesamt 70 Banken, die
zwischen 1868 und 1873 gegründet worden waren, bestanden zehn Jahre nach dem Krach nur noch acht. Der Kurswert sämtlicher österreichischer Aktien verringerte sich bis Oktober um fast die Hälfte,
Baugesellschaften gerieten in Schwierigkeiten, weil sie die Raten kurz vorher erworbener Baugründe nicht mehr bezahlen konnten, und Eisenbahnunternehmen, Versicherungen und viele Industriebetriebe
mußten ebenfalls schließen.

Auch in Berlin, wohin die Krise im Oktober übergeschwappt war, sackten die Kurse drastisch ab. Die großen Probleme des Finanzsektors wirkten sich natürlich auch auf Gewerbe und Industrie negativ aus.
In den folgenden Jahren agierten die verbliebenen Banken sehr zurückhaltend, und die Gründung neuer Aktiengesellschaften ging rapide zurück. Im Eisenbahnbau mußte die private Investitionstätigkeit
durch staatliches Engagement ersetzt werden, die Folge war die erneute Verstaatlichung des Eisenbahnwesens.

Das Ende des Liberalismus

In Österreich-Ungarn ging nach 1873 die kurze Phase des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus zu Ende. Das liberale Bürgertum, einige Jahre auch politisch dominierend, verlor mit dem
Aufkommen der modernen Massenparteien, die nun allmählich die Honoratiorenclubs ersetzten, sukzessive seine politisch beherrschende Stellung. Ökonomisch diskreditierte die Krise und die
darauffolgende Depression das liberale Laissez-faire-Prinzip, wonach die Wirtschaft · sich selbst überlassen · mit Krisen schon alleine fertig werde. Als 1879 die Feudalkonservativen an die Regierung
gelangten, unterstützten sie wirtschaftspolitisch vor allem die agrarischen und gewerblichen Interessen. Der überfällige Strukturwandel zum Industriestaat war damit gebremst. Die Dynamik des
Modernisierungsprozesses, in der Habsburgermonarchie ohnehin nicht gerade rekordverdächtig, erlitt durch die Krise einen schweren Rückschlag.

1873 markiert nicht nur für die Wirtschaftsentwicklung der Habsburgermonarchie einen Wendepunkt. Der noch junge Industriekapitalismus einiger Länder vernetzte sich sukzessive zu einem Gefüge, das
zumindest in Teilen Europas und Amerikas bereits die Bezeichnung "Weltwirtschaft" rechtfertigt. Zur Weltwirtschaft gehören jedoch auch Krisen, die sich über Grenzen hinweg auswirken. Die Krise, die
1873 in Wien begann, und mit unterschiedlicher Intensität in den industrialisierten Ländern für Erschütterungen sorgte, hatte unerwartete Folgewirkungen. Mit 1873 begann eine mehr als zwanzig Jahre
dauernde Phase der Wirtschaftsentwicklung am Ende des vorigen Jahrhunderts, die als "Große Depression" Eingang in die Wirtschaftsgeschichte fand.

Wie groß war die Depression tatsächlich?

Wenn man allerdings die weltwirtschaftlichen Daten während dieser Zeitspanne betrachtet, ist diese Einschätzung der Situation durch die Zeitgenossen zunächst gar nicht so einleuchtend. Die
Weltproduktion erlebte einen weiteren, wenngleich langsameren Anstieg, die Industrialisierung griff auf neue Länder über, und neue Branchen · wie etwa die chemische Industrie und die Elektroindustrie
· machten spektakuläre Fortschritte. Der Industriekapitalismus veränderte unter dem Eindruck der Krise auch in anderer Hinsicht seinen Charakter. In den industrialisierten Staaten war immer seltener
der Ruf nach Freihandel, immer häufiger jedoch jener nach Schutzzöllen zu hören. Der protektionistische Wunsch der Produzenten, vor der ausländischen Konkurrenz geschützt zu werden, ließ höhere
Einfuhrzölle zu einem festen Bestandteil der internationalen Wirtschaft werden.

Die Schutzzollpolitik bremste zwar möglicherweise das Tempo der weiteren weltwirtschaftlichen Integration, verhalf jedoch den nationalen Industrien zu einer Gelegenheit, "ungestört" von ausländischen
Konkurrenten für die heimischen Märkte zu produzieren. Die Zweifel am liberalen Dogma einer sich selbst regulierenden Marktwirtschaft äußerte sich also in einer aktiveren Rolle des Staates. Schon
allein der Ruf nach Schutzzöllen verlangte die "sichtbare Hand" des Staates, der das Regulationsprinzip der "unsichtbaren Hand" Adam Smiths', also der Ordnung des Marktes, immer deutlicher ergänzte
und beeinflußte.

Nicht genug damit, bestimmte während der "Großen Depression" bis 1896 auch auf anderer Ebene das Verlangen nach Einschränkung des Wettbewerbs · nur scheinbar paradox · die wettbewerbsbestimmte
Marktwirtschaft. In vielen Branchen schlossen sich Unternehmen auf Kosten der Marktkonkurrenz zu Kartellen, Trusts, Syndikaten und ähnlichen Organisationen zusammen. Vor allem Kartelle galten dabei
als "Kinder der Not" und hatten vor allem zum Ziel, die Produktionskosten zu senken, Märkte aufzuteilen oder Preise zu schützen.

Denn schon damals galt, was von liberalen Dogmatikern gerne nobel übersehen wird: Das Ziel kapitalistischen Wirtschaftens ist nicht der edle Wettstreit zwischen Konkurrenten am Markt, sondern
schlicht die Erzielung von Gewinn. Offen formulierte Karl Duisberg, der Gründer der IG Farben, vor rund 100 Jahren das Ziel von Unternehmenszusammenschlüssen: die "Beseitigung eines ruinösen
Konkurrenzkampfes behufs Erzielung eines möglichst hohen Gewinnes".

Auch das noch heute beträchtliche Teile der Produktionsprozesse prägende tayloristische Prinzip der Arbeitsorganisation entstand während der "Großen Depression". Frederick W. Taylor legte in den
Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende den Grundstock zum "scientific management", mit dessen Hilfe Menschen maschinenähnliche Berechenbarkeit und Präzision im Produktionsprozess erreichen sollten.
Eben diese "menschlichen Werkzeuge" begannen sich in den industrialisierten Ländern als Arbeiterbewegung zu formieren und politisch stärker zu artikulieren. Gewerkschaften, in vielen Ländern schon
vor Jahrzehnten gegründet, hatten zwar noch immer mit Repressalien zu kämpfen, der ungeheure Mitgliederzulauf verschaffte ihnen aber zusehends eine reale Machtposition. Widerstrebende Regierungen
waren dazu gezwungen, durch soziale Reformen und rudimentäre staatliche Sozialleistungen das dem Kapitalismus gefährlich werdende Protestpotential verelendeter Arbeiter zu entschärfen.

Die Epoche zwischen 1873 und dem Ersten Weltkrieg war auch von der zunehmenden Rivalität zwischen den Staaten und dem Kampf um einen Status als Großmacht geprägt. Die Industrienationen unternahmen
alle Anstrengungen, sich den größten Teil der Welt auf mehr oder weniger brutale Art und Weise anzueignen und fortan auszubeuten. Zu Beginn des 20 Jahrhunderts gehörte etwa fast ganz Afrika zu den
Imperien weniger europäischer Nationen. Der "Imperialismus", wie die Bezeichnung für dieses Phänomen bald lautete, endete letzlich im Ersten Weltkrieg.

Die Gefahr der Deflation

All diese Entwicklungen mögen neu und ungewohnt gewesen sein, aber was ließ am Ende des 19. Jahrhunderts die Zeitgenossen so hartnäckig eine zwanzig Jahre anhaltende, "große" Depression sehen? Es
war vor allem der Verfall der Preise, und damit der Gewinne, der die Zeitgenossen so beunruhigte. Nicht die Produktion brach ein · wie in der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre ·, sondern deren
Ertragsfähigkeit ließ nach. Während der geldpolitische Gottseibeiuns des 20. Jahrhunderts "Inflation" heißt, bestanden die weltwirtschaftlichen Probleme nach 1873 im Gegenteil in sinkenden Preisen,
also einer "Deflation".

Die Gründe dafür waren in erster Linie technische Innovationen und effizientere Formen der Arbeitsorganisation bei verschärftem Wettbewerb. Gleichzeitig blieb die Nachfrage hinter all diesen
Entwicklungen zurück. Deflation ist ein Begriff, der in der wirtschaftspolitischen Debatte seit dem Zweiten Weltkrieg praktisch überhaupt nicht vorkommt. Das Gespenst der letzten Jahrzehnte heißt
eben "Inflation", und der Geldwertstabilität galt und gilt der Kampf vor allem der Notenbanken. Fast "um jeden Preis", könnte man angesichts der Arbeitslosenzahlen mancher Länder meinen.

Bei Inflationsraten, die in den letzten Jahren in vielen Industrienationen gegen Null tendieren, warnen nun erste Stimmen · eher zögerlich · vor den Gefahren einer neuerlichen Deflationsentwicklung.
Denn mit stagnierenden oder sinkenden Preisen gehen auch die Anreize für Investitionen, die sich dann ja weniger lohnen, zurück. Dann · so die Befürchtungen · könnte sich die Deflationsspirale in
Gang setzen: die Krise nährt sich selbst. Sogar Alan Greenspan, als US-Notenbankchef wahrlich kein Befürworter einer laxen, inflationstreibenden Geldpolitik, warnt mittlerweile vor den Gefahren einer
Deflation. Ob diese Befürchtungen einer übertriebenen Sensibilität zuzuschreiben sind oder nicht, wird sich weisen. Aber einfach wiederholen, soviel ist sicher, wird sich die "Große Depression"
nicht.

Freitag, 08. Mai 1998

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