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Der "Manchester-Liberalismus" war besser als sein heutiger Ruf

Freihandel und Moral

Von Patrick Minar

Will man eine wirtschafts- oder sozialpolitische Maßnahme in Verruf bringen, taugt nichts so sehr wie der Begriff "Manchester-Liberalismus". Sofort denkt jeder an verdreckte Arbeiter, ausgehungerte Kinder und Massenarbeitslosigkeit. Und all das zum Wohle einiger fetter Kapitalisten, die teure Zigarren rauchen. So gibt man auch von Attac bis zur deutschen NDP dem Schriftsteller Günter Grass recht, der in einem Radiointerview meinte: "Wir erleben den Rückgriff auf einen Manchester-Liberalismus, der keine Rücksicht auf Menschen mehr nimmt."

Das böse "M-Wort" ist zu einem Kampfbegriff geworden, der es schafft, jeden Schritt gegen staatliche Interventionen völlig zu diskreditieren und einer rationalen Diskussion zu entziehen.

Diese Sichtweise auf den Manchester-Liberalismus, die unterstellt, dass das Elend der Arbeiterschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert von den Befürwortern des Manchester-Liberalismus angestrebt worden wäre, ist jedoch völlig falsch und beruht entweder auf bewusster Verdrehung historischer Tatsachen und Manipulation oder auf blankem Unwissen. Das ist bedauerlich, denn tatsächlich sollte es als überaus ehrenvoll angesehen werden, in die Tradition der Manchesterliberalen eingereiht zu werden.

Idealistische Unternehmer

Bei seriöser historischer Betrachtung ist klar zu erkennen, dass die entscheidenden Vertreter der sogenannten Manchester-Liberalen den Inbegriff des verantwortungsvollen und sozial engagierten Unternehmers darstellten, die auch vor persönlichem Schaden zu Gunsten ihrer Ideale nicht zurückschreckten – in der heutigen Diktion also wirkliche Gutmenschen!

Der führende Kopf der Manchester-Liberalen war Richard Cobden. Er wurde am 3. Juni 1804 in Sussex geboren und wuchs in ärmlichen Verhältnissen als eines von elf Kindern auf. Da sein Vater nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügte, musste Cobden im Alter von 15 Jahren nach Yorkshire zu seinem Onkel aufs Land ziehen. Der Autodidakt Cobden, der kaum Schulbildung genossen hatte, arbeitete zunächst als Angestellter in der Textilindustrie und gründete 1828 ein eigenes Baumwollunternehmen, das ihm bald einen gewissen Wohlstand einbrachte. Ab 1832 lebte Cobden in Manchester, wo er sich zu politischen Fragen äußerte und Schriften zu aktuellen Themen verfasste.

Das politische Hauptanliegen Cobdens und seines Mitstreiters, des gläubigen Quäkers John Bright (1811 bis 1889), war der Kampf um die Aufhebung der protektionistischen Getreidezölle, die nur die Privilegien der ländlichen Aristokratie schützen sollten, für die arbeitende Bevölkerung aber überteuerte Brotpreise und somit verschärftes soziales Elend bedeuteten. Die hohen Zölle führten dann tatsächlich zu einer großen Hungersnot – im Winter 1847 beklagte man in England 250.000 Hungertote.

Diese so genannten "Corn-Laws", die den Getreidepreis künstlich hoch hielten, waren 1815 als Reaktion auf das napoleonische Frankreich erlassen worden. Diese Politik hatte zur Folge, dass englische Waren im Inland vor ausländischer Konkurrenz geschützt waren. Landwirtschaft war somit extrem lukrativ geworden und Land wurde zu hohen Preisen gehandelt. Diesen Zustand wollten der Adel und andere reiche Landbesitzer mithilfe der "Corn-Laws" verteidigen und festschreiben.

Cobden und Bright betonten in ihrem Vorgehen gegen diesen sozial überaus ungerechten Staatsdirigismus immer wieder, dass sie nicht im Interesse der Industriellen oder Kapitalisten handeln, sondern dass im Zentrum ihrer Überlegungen ausschließlich die armen und besitzlosen Bevölkerungsschichten stehen.

Kampf gegen die "Corn-Laws"

Richard Cobden stand an der Spitze der 1838 gegründeten "Anti-Corn-Law-League", welche für die komplette Abschaffung der Kornzölle eintrat. Diese Vereinigung versuchte durch die Verteilung von Broschüren, Zeitungen und Versammlungen die Aufmerksamkeit auf die Ungerechtigkeit der "Corn-Laws" zu lenken, indem sie ausdrücklich die Vorteile der freien Marktwirtschaft unterstrichen.

Die steigende Unzufriedenheit der Arbeiter und die miserable wirtschaftliche Lage veranlassten die Whigs und die Tories, sich den Anliegen der "Anti-Corn-Law-League" anzunähern. Nach anfangs eher kleineren Lockerungen im Bereich der Zollpolitik entschied sich der damalige Premierminister schließlich, die Kornzölle ganz abzuschaffen. Dieser entscheidende Schritt zur Verbesserung der notleidenden, teils völlig verarmten Bevölkerung war ein historisches Verdienst der heute als gefühlskalte Turbokapitalisten punzierten Manchester-Liberalen rund um Richard Cobden.

Cobden selber konnte von diesen gesellschaftlichen Errungenschaften nicht profitieren. Sein unerbittlicher Kampf für den Freihandel stürzte ihn in eine finanzielle Krise, da er nicht mehr ausreichend Zeit in sein Unternehmen investiert hatte. Nachdem er völlig verarmt war, mussten Mitstreiter Spenden für ihn sammeln, um ihn aus seiner finanziellen Misere zu befreien.

Der Freihandel stellte also die zentrale Säule des Manchester-Liberalismus dar, da nur er wirksam und gerecht die Verelendung der Massen verhindern konnte und in ihm der Schlüssel zu mehr Wohlstand gesehen wurde.

Friedenspolitik

Ein weiteres Kernstück der manchesterliberalen Sichtweise war der Antimilitarismus und Antikolonialismus. Die Manchester-Liberalen erhofften sich vom Freihandel mehr Frieden, denn die zunehmende Abhängigkeit durch die fortgeschrittene Arbeitsteilung zwischen den Völkern sollte es – so die Manchester-Liberalen – den Regierungen unmöglich manchen, ihre Völker gegeneinander aufzuhetzen.

Einer der brillantesten zeitgenössischen Anhänger des Manchester-Liberalismus außerhalb Englands, der französische Ökonom und Publizist Claude Frédéric Bastiat, meinte dazu: "Wenn Waren nicht die Grenze passieren dürfen, dann werden es Soldaten tun." Der damals praktizierte Militarismus wurde von Cobden und Co. vehement abgelehnt, weil sie auch in der Wehrpflicht eine Ausnutzung der breiten und ärmeren Bevölkerungsschichten durch das Königshaus und den Adel sahen.

Ebenso wurde der Kolonialismus als "teures Hobby" des Adels angesehen und deshalb abgelehnt, da auch dieser nur mit militärischem Zwang betrieben werden konnte. Zudem hielten die Manchester-Liberalen die Schaffung von Kolonien und die Bevormundung und Ausnutzung der dort lebenden Menschen für Unrecht.

Als letzten zentralen Punkt manchesterliberalen Denkens ist das Eintreten für Demokratie zu nennen und die damit verbundene Notwendigkeit, gerade den arbeitenden Massen ein möglichst hohes Maß an Bildung zu ermöglichen.

Die Manchester-Liberalen waren überzeugte Befürworter der Demokratie und freier, geheimer und gleicher Wahlen. Gleichzeitig aber war Cobden der Meinung, dass zunächst eine grundlegende Bildung für alle notwendig sei, um an Wahlen verantwortungsvoll teilzunehmen zu können. Er sah in den noch sehr ungebildeten Massen leichte Beute für Hetzer und Besitzstandswahrer, er meinte damit vor allem Sozialisten und Konservative, weshalb er einer der ersten war, die jedem Kind einen staatlich garantierten Schulbesuch ermöglichen wollten. Darin sah er die notwendige Herstellung von Chancengleichheit – eine Sichtweise, die Cobden in der heutigen Zeit wohl eher in die Nähe der in allen Parteien verbreiteten Sozialstaatsverehrer bringen würde als in die Nachbarschaft jener "neoliberalen Staatshasser", zu denen die Manchester-Liberalen heute oftmals gezählt werden.

Insgesamt wäre also ein Zurechtrücken der vorherrschenden Vorurteile gegenüber dem Manchester-Liberalismus notwendig, um der historischen Wahrheit gerecht zu werden.

Soziale Gerechtigkeit

Bei den Manchester-Liberalen handelte es sich um Demokraten, die im Freihandel den einzigen und wirksamsten Ausweg aus der Massenarmut der damaligen Zeit sahen. In bester kapitalistischer Manier stellten sie ihre Profite in den Dienst der Allgemeinheit, jedoch nicht durch staatlichen Zwang, sondern aus purer Überzeugung.

Die Frage der sozialen Gerechtigkeit nahm eine zentrale Stellung in ihrem Denken ein. Sie dachten darüber jedoch nicht im Sinne der sozialistischen, bzw. christlichsozialen Doktrin nach – die ja heute oftmals durch fatale Fehlinterpretationen der christlichen Soziallehre zu denselben Ergebnissen kommt wie die sozialistische – sondern im klassisch liberalen Sinn: Nicht der Ausgleich von (sozialen) Ungleichheiten ist vordringlichste Aufgabe; es geht darum, zu verhindern, dass bestimmte soziale Gruppen durch staatlichen Dirigismus oder diskriminierende Gesetze von der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und vom gesellschaftlichen Aufstieg ausgegrenzt werden.

Gerade diese Sichtweise würde auch heute noch zahlreiche Probleme, vor allem jene der Entwicklungsländer, lindern. Denn weder Schuldenerlässe noch vermehrte Entwicklungshilfegelder – beide dienen eher der Stabilisierung korrupter Regime – sondern der freie Zugang zu allen Märkten, auch zu den europäischen Landwirtschafts- und Textilmärkten, würde den Entwicklungsländern mehr Wohlstand und Sicherheit bringen.

Also los, ihr Globalisierungskritiker: ein "Hoch" dem Manchester-Liberalismus!

Patrick Minar ist 1977 geboren und lebt als Politikwissenschaftler in Wien.

Freitag, 26. August 2005

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