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Das Zwangsarbeitslager St. Pölten/Viehofen -eine Spurensuche

Die vergessenen Toten

Von Manfred Wieninger

Wenn Sie von der Nordbrücke links neben der Traisen Richtung Norden gehen, kommt nach 200 Meter ein Überlauf der Traisen in die Au. Ich weiß nicht, ob es den jetzt noch gibt. Und von dort ist ein Weg in Richtung Viehofen gegangen, dort war das Lager. Ich war sieben Jahre alt. Wir haben in der Austraße gewohnt, bei den Großeltern. Im 44er Jahr, wie die Bombardierung begonnen hat, sind wir immer dorthin in die Au. In den Stauden haben wir uns versteckt, immer wenn die Sirenen geheult haben. So haben wir die Juden getroffen. Die haben sich auch dort versteckt, bei Bombenangriffen. Es waren da drei Baracken. Keine Einfriedung, kein Zaun. Hie und da waren Aufsichtspersonen da, Soldaten. Die Juden, eher ältere Personen, mussten Schotter herausgraben aus der Au. Der Schotter wurde in die Böschung des Traisenflusses eingearbeitet.

Es ist eine männliche, feste Stimme, die diese Erlebnisse eines wachen, intelligenten Knaben erzählt. 60 Jahre lang hat niemand nach diesen Erlebnissen gefragt. Der Zeitzeuge, seit einigen Jahren schon Pensionist, hat sogar eine selbst angefertigte Skizze mitgebracht, auf der er die drei Baracken, die Lage von zwei kleinen Nebengebäuden und die drei vom Lager wegführenden Auwege nach Viehofen, zur Traisen und zur Glanzstofffabrik eingezeichnet hat.

Dass in St. Pölten gegen Ende der NS-Zeit ein großes Zwangsarbeits-, sprich Sklavenlager für ungarische Juden existiert hat, von dem aus in der ersten Aprilhälfte des Jahres 1945 über 100 Menschen auf einen Todesmarsch Richtung Mauthausen getrieben worden sind, wurde über 60 Jahre lang verschwiegen. Dass die Existenz dieses Todeslagers doch noch belegt werden konnte, ist dem Zeitzeugen und einer Überlebenden des Lagers zu verdanken.

Ein Brief aus Szeged

Im Sommer des Jahres 1997 wurde von Szeged aus ein Brief an die "Jüdische Gemeinde St. Pölten Österreich" geschickt: "Ich bitte Sie, wollen Sie mich informieren im nachstehde. Mein Vater Armin Wolf ist im Fierhofen, am 1. April 1945 War gesterbt, in dem Friedhof-St. Pölten hat man begrabt. Ich möchte wissen, ob kann ich seines Grab - mit Ihrer Hilfe, auffinden, wenn ich reise in diesem Sommer zu St. Pölten, das konnte ich dort ein Nachlicht zünden bei dem Grab. Ich bitte Sie wollen mich in der Obgenannte helfen."

Autorin dieses Schreibens war die damals 77-jährige Rózsi Halmos, geborene Wolf - aber eine jüdische Gemeinde existierte in der niederösterreichischen Landeshauptstadt seit 1940 nicht mehr. Die Post expedierte das nicht zustellbare Schreiben an das "Institut für Geschichte der Juden in Österreich", das seit 1988 im Kantorhaus der ehemaligen St. Pöltner Synagoge untergebracht ist. Dort konnte man sich auf die Zeilen aus Budapest keinen Reim machen, zumal eine Anfrage an die städtische Friedhofsverwaltung ergab, dass weder auf dem Israelitischen Friedhof noch auf den übrigen Friedhöfen St. Pöltens eine Grabstätte von Armin Wolf existierte.

Offenbar bat man die alte Dame um nähere Angaben, denn am 8. September 1997 kam ein neuerliches Schreiben von Frau Halmos Lászlóné aus Budapest, diesmal in ungarischer Sprache. Im Kantorhaus machte man sich die Mühe, die Zeilen übersetzen zu lassen: "Vielen Dank für die Mühen, die Sie auf sich nehmen, um die Ruhestätte meines Vaters zu erforschen. Es war meine feste Überzeugung, dass er mit den übrigen aus den Baracken Weggebrachten gemeinsam in St. Pölten beerdigt ist. Die Umstände waren folgende. Ich war mit meinen Eltern gemeinsam in Viehofen. Zusammengepfercht in einer Holzbaracke, in der Mitte eines Waldes. Von dort aus gingen wir auf zwei Holzbrettern ohne Geländer über den Fluss Traisen. Dann verluden wir Schienen, hackten mit Pickeln und verlegten Rasenziegel. Die vielen traurigen Erinnerungen sind in mir sehr lebendig."

Martha Keil, die Sachbearbeiterin im "Institut für Geschichte der Juden in Österreich" war auch nach diesen Angaben ratlos, da in der zeitgeschichtlichen Literatur der Zweiten Republik von einem Zwangsarbeitslager für ungarische Juden in Viehofen - einer bis 1923 selbständigen Katastralgemeinde mit heute knapp über 3.500 Einwohnern - nirgends die Rede war. Auch Anfragen an das Stadtarchiv St. Pölten sowie an das niederösterreichische Landesarchiv blieben ergebnislos.

So vergingen die Monate und die Jahre, Rózsi Wolf reiste nicht nach St. Pölten und ihr "großer Wunsch" blieb auch jenseits ihres 80. Lebensjahres unerfüllt: "Am ersten April ging mein Vater hinaus in den Wald spazieren. In der Zwischenzeit gab es einen schweren Luftangriff. Meine Mutter und ich warteten, dass mein Vater zurückkäme. Es kam nur die traurige Nachricht. Sie brachten ihn mit einem kleinen Wagen. Als ich sein weißes Haar sah, konnte ich nicht glauben, dass der Teure nicht mehr lebte. Ein großer Wagen voll mit Särgen kam. Der meines Vaters aus ungestrichenem Holz war ganz oben. Wir wollten mitgehen zum Begräbnis, doch die SSler erlaubten es uns nicht. Seither ist es mein großer Wunsch, zu seinem Grab zu gehen."

Wenn gegen Kriegsende also Juden in St. Pölten interniert waren und als Zwangsarbeiter, sprich Sklaven gehalten wurden, so hatte sich in den letzten 60 Jahren kein Historiker damit beschäftigt. Das Zeugnis von Rózsi Wolf schien ein einmaliges zu sein.

Doch zu Beginn des Gedenkjahres 2005 machte Eleonore Lappin vom St. Pöltner "Institut für Geschichte der Juden in Österreich", die sich seit Jahren mit den Todesmärschen ungarischer Juden durch die "Ostmark" beschäftigt, in den "Central Archives for the History of the Jewish People" in Jerusalem zufällig eine sensationelle Entdeckung: Sie fand einen handschriftlichen Brief der "Traisenregulierung St. Pölten, Lager Viehofen-Au" an die "Jüdische Versorgungsstelle Wien" vom 9. September 1944, in dem ausdrücklich zu lesen steht: "Die Traisenregulierung St. Pölten - Herzogenburg beschäftigt seit 11/VII. 1944 - 126 Personen intern. ungar. Juden, die im eigenen Lager Viehofen-Au untergebracht sind." Das Schreiben, in dem es um Wäsche für ein Kind geht, das im Lager geboren wurde, schließt mit "Heil Hitler!" und trägt den Stempel: "Traisen-Regulierung St. Pölten-Herzogenburg (Arbeitslager Viehofner Au) Post: St. Pölten-Viehofen Nied. Donau" und eine unleserliche Unterschrift.

So weit waren die Recherchen über den Holocaust vor der Haustür der St. Pöltner gediehen, als der Autor dieser Zeilen in der ehemaligen Synagoge eine intensive Unterhaltung über das Zwangsarbeitslager in der Viehofener Au führte. Sie gipfelte in drei Fragen: Wo lag es? Wie lauteten die Namen der Internierten? Was ist mit den Lagerinsassen passiert?

Das Herzstück des Archivs der städtischen Bestattung St. Pölten sind zwei riesige Karteikästen, in denen alphabetisch geordnet alle "Totenbeschau-Befunde", sprich Totenscheine seit 1911 untergebracht sind. Wenn man allerdings keine Namen weiß, würde man Wochen, wenn nicht Monate brauchen, um alle Karteikarten durchzublättern. Von den vermuteten Opfern unter den 122 Lagerinsassen kannte ich nur ein einziges namentlich: Armin Wolf, laut dem Zeugnis seiner Tochter Rozsi am 1. April 1945 verstorben. Ein Totenschein von ihm war in diesen Karteikästen nicht zu finden.

Als ich schon aufgeben und gehen wollte, entdeckte ich auf einer Stellage neben den Kästen zwei alte Schuhkartons mit den Aufschriften "Militär/Kriegsleichen 1944" bzw. "Militär/Kriegsleichen 1945". Dort wurde ich fündig: Izso Pottasmann, Religion mosaisch, geboren am 8. Dezember 1879 im ungarischen Beszterze, war am 22. September 1944 um 22 Uhr gestorben, als seine Wohnadresse war "St. Pölten-Viehofen-Lager" vermerkt. Als Todesursache waren in diesem Totenbeschau-Befund des Allgemeinen öffentlichen Krankenhauses der Stadt St. Pölten "Bauchfellentzündung, Herzschwäche", als "Grundleiden" "große, die Magenwand durchsetzende peptische Geschwüre d. Pförtners" angegeben. Dass ein 65-Jähriger mit Magengeschwüren schwere körperliche Zwangsarbeit bei Hungerrationen nicht sehr lange überleben konnte, stand nicht in dem amtlichen Dokument.

Die Namen der Toten

Izso Pottasmann war offenbar der letzte jüdische Lagerinsasse, den man wenigstens zur Obduktion ins St. Pöltner Spital gebracht hatte. Fünf weitere Totenscheine von ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern aus dem Viehofener Waldlager, die ich gefunden habe, waren vom städtischen Beschauarzt ausgestellt und führten Todesursachen wie "Herzschwäche", "Herzlähmung", "Apoplexie", "Paralysis cordis", "Altersschwäche" und "Allg. Eiterblutvergiftung" an. Dabei starb Ing. Paul Vadasz, geboren am 5. Dezember 1874 im ungarischen Szakcs, am 11. Dezember 1944 in der Viehofener Au wohl an Erschöpfung. Ebenso seine ungarisch-jüdischen Leidensgenossen Filipp Hegyi, geboren 1. August 1864 in Okacke, zugrunde gegangen am 2. Jänner 1945, Dr. Ignaz Körösi, geboren 2. Jänner 1862 in Szentes, den Strapazen nicht mehr gewachsen am 21. Februar 1945, Edmund Reves, geb. 19. Dezember 1880 im Chambeg, verstorben am 3. März 1945, und Jakob Genad, geboren am 14. Jänner 1870 in Sceged, gestorben am 5. März 1945. Diese fünf ersten Opfer des Lagers wurden am städtischen Hauptfriedhof in einem unbezeichneten, namenlosen Schachtgrab beigesetzt.

Bei Armin Wolf, der am 1. April 1945 von einer Bombe getötet worden war, funktionierte die Bürokratie des Todes schon nicht mehr. Er dürfte irgendwo verscharrt worden sein. Allerdings fand sich sein Meldeschein im historischen Meldearchiv der Bundespolizeidirektion St. Pölten. Diesem Dokument zufolge war Armin Wolf, geboren 15. April 1873 im ungarischen Mako, verheiratet mit Julia Wolf, geborene Singer, und Vater von Rosa Wolf, geboren 10. April 1920 in Szeged, seit 18. Oktober 1944 in St. Pölten gemeldet.

Im Archiv entdeckte ich auch die Meldescheine von Wolfs Leidensgenossen Isidor Potasmann, Ing. Paul Vadasz, Jakob Genad, Ödön Revesz, Dr. Ignatz Körösi und Filip Hegyi. Bei Letzterem war auch verzeichnet, dass seine Gattin Malvine Hegyi am 31. August 1944 verstorben war. Mit ihr und mit dem ungarisch-jüdischen Lagerarzt Dr. Ernst Balog, dessen Name sich auf einem Totenschein vermerkt fand, sind 16 Lagerinsassen keine Namenlosen mehr.

Leichen im See

Die noch Lebenden wurden irgendwann zwischen 2. und 15. April 1945 zu Fuß Richtung Mauthausen getrieben. Wer für diesen Todesmarsch nicht gehfähig war, dürfte wohl in der Viehofener Au erschossen worden sein.

"Die Großmutter hat interessiert, was mit diesen Leuten (= den Juden) passiert ist, und sie ist mit mir hingegangen gleich nach dem Krieg. Das waren so Sutten, Gruben rund um das Lager, da haben sie auch Schotter ausgehoben. In diesen Sutten lagen Leichen, etliche Leichen, mit Laub bedeckt, gleich neben dem Lager. Großmutter hat gesagt, dass die erschossen worden sind. Sie hat mich weg gezogen, ist gleich wieder weg gegangen mit mir", erinnert sich der Zeitzeuge.

"Gestern habe ich in der Zeitung gelesen, dass Sie nach dem Judenlager suchen. Wissen Sie, wo das war? Es liegt heute im großen See, unter dem Paderta-See. Als Kind habe ich dort gespielt. Es waren nur mehr zwei Gebäude da, ein kleines und ein großes mit zwei Räumen und Stiegen hinunter, wir haben immer Judenkeller dazu gesagt", assistiert ihm ein weiterer Zeitzeuge, Jahrgang 1947, dessen Abenteuer-Spielplatz das ehemalige Zwangsarbeitslager in den Fünfziger Jahren gewesen ist. Durch die Schilderung des offensichtlichen Luftschutzbunkers wird auch ein ansonsten rätselhafter Satz aus Rozsi Wolfs zweitem Brief klar: "Ich muß noch dazusagen, daß weiterhin oft Fliegeralarm war. Wir mußten alle ins Freie gehen, wenn in unserer Gegend die Bomben einschlugen." Armin Wolf starb, weil man ihn als Juden nicht in den Luftschutzbunker ließ.

Am 1. April 1945 unternahm die 15th US Air Force ihren vorletzten Luftangriff auf St. Pölten. Vermutlich einen Tag danach machte ein Aufklärungsflugzeug ein Luftbild, auf dem das Lager der Zwangsarbeiter zu sehen ist. 1966 erhielt die Kurz-Kuefstein'sche Gutsverwaltung die Bewilligung zum Betrieb einer Sand- und Schottergewinnungsanlage auf dem Areal der Viehofener Au. Der Abbau wurde ab 1967 von dem Pottenbrunner Unternehmer Karl Paderta durchgeführt. Die Schotteraufbereitungsanlage hatte eine Stundenleistung von 100 Tonnen. Darin sind wohl die Reste des Zwangsarbeitslagers und vermutlich auch die Skelette der nicht gehfähigen Lagerinsassen gelandet. Bis 1985 entstand durch den Abbau der Paderta-See mit einer Fläche von 19,8 Hektar und einer mittleren Tiefe von 3,31 Metern.

Freitag, 01. April 2005

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