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Vor 200 Jahren wurde der politische Schriftsteller Alexis de Tocqueville geboren

Erforscher der Demokratie

Alexis de Tocqueville im Jahre 1850, gemalt von T. Chassériaux.  Foto: Archiv

Alexis de Tocqueville im Jahre 1850, gemalt von T. Chassériaux. Foto: Archiv

Von Walter Sontag

Einen Sommer lang diente er unter Louis Napoleon sogar als Außenminister seines Landes. Jahre zuvor war er in der Deputiertenkammer als Redner aufgetreten, nach dem Tod Louis Phi-lippes in die verfassunggebende Versammlung gewählt worden und schließlich am Entwurf einer neuen französischen Verfassung beteiligt gewesen. Unsterblich jedoch wurde Alexis de Tocqueville als Autor der Recherche "Über die Demokratie in Amerika". Die beiden Bände des Werks waren die Frucht seiner Reise vom Mai 1831 bis zum Februar 1832 durch die noch junge USA.

Prophetisch begabt

Der französische Edelmann galt bereits zeit seines Lebens über die Grenzen Frankreichs hinaus als überragender Denker, bekannt und berühmt für seine Beobachtungsgabe und seinen analytischen Scharfsinn. Heute freilich dürfte noch größere Bewunderung seine prophetische Gabe verdienen, die Gefahren der Demokratie für die Freiheit der Bürger vorausgesehen zu haben. Vor allem nennt Tocqueville die Bevormundung des Einzelnen durch die " Tyrannei der Mehrheit" , die letztlich von der radikalen Verwirklichung des Gleichheitsgrundsatzes abgeleitet sei. Die Masse werde vom egalitären Diktat zu einem kruden Konformismus fehlgeleitet und unterwerfe sich auf Grund ihrer Bequemlichkeit in Wahrheit dem Mittelmaß und womöglich fremden Interessen. Dadurch verlören die Bürger ihre Unabhängigkeit, Entwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, kurz, ihre sittliche und schöpferische Lebendigkeit.

Aus dem französischen Staatsdenker und Kulturphilosophen spricht ein aristokratisch geprägter Freigeist. Unser Alltag hat Tocquevilles Befürchtungen längst eingeholt. In der modernen Massengesellschaft herrscht ein dichtes Geflecht gesetzlicher Normen und bürokratischer Vorschriften, die den Bürger von der Wiege bis zur Bahre begleiten – oder gängeln: "ins Einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild", um die vorausahnenden Worte des gelernten Juristen zu gebrauchen. So vom öffentlichen Apparat und der Vielzahl seiner Institutionen all-umsorgt und umwinselt, wird der Einzelne weitgehend entmündigt – und sein Tatendrang nicht selten eingeschläfert.

Tocquevilles strenge Rationalität, sein vorurteilsloser Blick auf Tatsachen (wirkten sie auch auf ihn selbst befremdend oder betörend), seine geradezu seherischen Fähigkeiten zeigen sich auch bei jenen Themen, die seit seiner Reise durch die Vereinigten Staaten einem vehementen Wandel unterlegen sind. Lange vor der vermassten Zivilisation, lange vor der Konsum- und Informationsgesellschaft befand Tocqueville beispielsweise, dass die Presse die bedeutendste, die eigentliche kontrollierende Instanz gegen die Mächtigen ist. Folglich führten 140 Jahre später die Enthüllungen durch zwei Journalisten erstmals in der Geschichte der USA zum Sturz eines Präsidenten: Als Folge des Watergate-Skandals musste Richard Nixon sein Amt niederlegen – und dies nach einem der überwältigendsten Wahltriumphe, den ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat je errungen hat!

Der frühe Amerika-Reisende Tocqueville hatte klar erkannt, dass die von Montesquieu benannten drei staatliche Gewalten – Gerichtsbarkeit, Gesetzgebung und Exekutive - nicht ausreichen, die Balance zwischen dem gemeinen Volk und den obersten Herrschern, also zwischen Wählern und Gewählten, gegen die Interessengruppen zu halten. Doch Tocquevilles geradezu apollinische Sicht der "Vierten Kraft" geht über den Aspekt der Pressefreiheit als Mittel gegen Amtsmissbrauch und despotische Tendenzen an der Spitze des Staates hinaus. Sie durchdringt auch die subtileren, weniger offensichtlichen und weniger edlen Schichten und Wirkweisen medialer Macht. Unerbittlich wägend und illusionslos ergreift der politische Denker für die Pressefreiheit Partei: " Ich schätze sie weit mehr in Erwägung der Übel, die sie verhindert, als des Guten, das sie leistet." Zugleich ist sich dieser Skeptiker schon damals, lange vor den Seilschaften des TV-Zeitalters, des manipulierenden Potentials einer Presse und einer öffentlichen Meinung bewusst, die in wenigen Händen konzentriert ist – eine Entwicklung, die sich mittlerweile etwa in Italien auf dem Gebiet des Fernsehens und hierzulande in der gesamten Medienlandschaft nahezu vollständig vollzogen hat.

Keine der gesellschaftlichen Kräfte vermag sich ihrer ethischen und moralischen Integrität vollkommen sicher zu sein, auch nicht die Medien – nicht einmal der Souverän, das Volk, wie Tocqueville eindringlich ausführt. So musste etwa der Oberste Gerichtshof in den späteren, heute schon als historisch bezeichneten Schlachten des US-Journalismus um eine nahezu grenzenlos aufdeckende Berichterstattung zunächst über die Herausgabe geheimer Regierungsdokumente (Pentagon Papers) und unter Verschluss gehaltener Tonbandprotokolle (Watergate) entscheiden. Tocqueville weiß um die Schwächen des jungen politischen Systems, und doch kommt er in den Vereinigten Staaten zu der Gewissheit, dass die Demokratie allen anderen Regierungsformen überlegen ist. Ja, er sieht deren Fortbestand auch in einer Zukunft gesichert, in der "die Angloamerikaner den ganzen unermesslichen Raum zwischen dem Polareis und den Tropen allein bevölkern" und schließlich 150 Millionen " gleichgestellte " Bürger den Subkontinent besiedeln würden. Ihm erschien das Gelobte Land der Pilgrim Fathers als Modellfall für diese neuartige Gesellschafts- und republikanische Staatsform überhaupt: "Ich gestehe, in Amerika habe ich mehr als Amerika gesehen. Ich habe dort ein Bild der Demokratie selbst, ihres Strebens, ihres Wesens, ihrer Vorurteile, ihrer Leidenschaften gesucht. Ich wollte sie kennenlernen, und sei es auch bloß, um zu erfahren, was wir von ihr zu erhoffen oder zu befürchten haben."

Kind politischer Eltern

Welche Persönlichkeit hat dieser Amerika-Reisende in Sachen Demokratie? Alles Private, Individuelle scheint von seinem politischen Interesse und von seinem Werk zugedeckt zu sein. Wer war dieser Mann, der die unumschränkte Dominanz der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, sogar die wechselseitige Konkurrenz der beiden, schon zu einer Zeit heraufziehen sah, als deren Völker noch Akteure am Rande der Geschichte waren? Worauf gründete die verblüffende intellektuelle Unabhängigkeit eines Menschen, dessen Zeitgenossen doch gewohnt waren, in den Kategorien europäisch-kleinräumigen Mächteschachers und des Kriegs- und Herrschaftsterrors zu denken? Zumal in einer Epoche, in der die Weltordnung von Obrigkeit und Befehlsempfängern noch hoch in Geltung stand!

Alexis de Tocqueville wurde vor 200 Jahren, am 29. Juli in Paris geboren. Sein Vater, Abkömmling einer vornehmen normannischen Familie, diente dem Vaterland als Präfekt an verschiedenen Orten Frankreichs, unter anderem in Dijon, Metz und Versailles. Die Mutter war mit dem einflussreichen Schöngeist und Schriftsteller Chateaubriand (und späteren Außenminister) verschwägert. Dieser bedeutende Diplomat und Staatsmann, kurz nach der amerikanischen Revolution von 1787/89 übrigens zeitweise ein Emigrant in Nordamerika, sollte ihren Sohn später einmal in die politischen Salons einführen.

Wie es sich für einen privilegierten Zögling seines Standes geziemt, wird er von einem Privatlehrer, Abbé Lesueur, unterrichtet. Die anschließende Schulbildung erhält er in Metz, wo er auch Philosophie und Rhetorik studiert, bevor er in Paris das Studium der Rechte beginnt und in Versailles die Justizlaufbahn einschlägt. Dort lernt der Dreiundzwanzigjährige Mary Motley kennen, eine Engländerin, die er sieben Jahre später heiratet. Sein ganzes weiteres Leben prägt die Begegnung mit Gustave de Beaumont, dem bevollmächtigten Staatsanwalt im Gericht zu Versailles. Mit ihm pflegt er fortan regen geistigen Austausch, ihm bleibt er zeit seines Lebens persönlich verbunden. Beaumont wird auch zu jenen gehören, die den erst dreiundfünzigjährigen schwerkranken Tocqueville, ein Opfer der Tuberkulose, an seinem Totenbett in Cannes besuchen.

Tocqueville und Beaumont sind vom Geist der Französischen Revolution und dessen Folgen umweht. Lebhaft, eigenwillig und durchaus streitbar verfolgen sie die politische Entwicklung. Beide besuchen Guizots Seminar über die "Geschichte der Zivilisation in Frankreich". Sie erlangen eine Dienstbefreiung für eineinhalb Jahre, um den Strafvollzug in den Vereinigten Staaten zu untersuchen. Beaumont hatte kurz zuvor einen Bericht über die Reformierung des französischen Strafwesens verfasst. Der reisefreudige Tocqueville will in der Neuen Welt allerdings in erster Linie die Gesellschaft kennenlernen, die sich " der Früchte" der in seinem Heimatland "geschehenen demokratischen Revolution erfreut", ohne zuvor einen Umsturz durchlitten zu haben.

Überhaupt ist die für die damalige Zeit ungewöhnliche Reisetätigkeit Tocquevilles charakteristisch für das Leben dieses Homo politicus. Sie entspricht seinem Bemühen um eine umfassende, unverfälschte Bestandsaufnahme an Ort und Stelle sowie um ein eigenständiges Urteil, und verleiht seinen vergleichenden politisch-soziologischen Studien eine bezwingende Authentizität. Den Beginn macht eine Reise nach Rom, Neapel und Sizilien; später folgen Reisen in die USA, dann nach Algerien, gemeinsam mit Beaumont nach England und Irland, und nach dem Revolutionsjahr 1848 mehrmals nach Deutschland.

Für ihre Arbeit über das amerikanische Gefängniswesen wird Beaumont und Tocqueville 1833 der Montyon-Preis der Akademie zugesprochen. Drei Jahre darauf erringt Tocqueville den begehrten Preis erneut, diesmal für den ersten Band seiner "De la democratie en Amérique", den Henry Reeve, sein Übersetzer und Freund, ins Englische überträgt. Begeistert feiert der führende englische Philosoph und Nationalökonom John Stuart Mill den fulminanten Wurf des jungen Franzosen im "London Review". Bald darauf wird Tocqueville in die Académie des sciences et politiques gewählt. Mit einem Schlag ist der Gesellschaftsanalytiker berühmt. Bis 1840 erscheinen nicht weniger als acht Auflagen des prämierten Meisterwerks. Tocqueville wird in die Académie française aufgenommen.

Die große Begabung, die sich bereits in dem Bericht des angehenden Juristen über seine Reise nach Sizilien angedeutet hat, wird in seinem Demokratie-Epos vollends zum Ereignis: nicht ideologisches Wunschdenken und Gesinnungstaumel leiten ihn, vielmehr breiteste Belesenheit und nüchterne Recherche, der Besuch des Kapitols wie die unbestechlichen Eindrücke hinter Gefängnismauern, Gespräche mit dem Präsidenten wie mit Häftlingen. Dieser Autor entpuppt sich als handwerklicher Perfektionist, der seine Studienobjekte – von den Niagara-Fällen bis zum Mississippi, von den Alleghenies bis zu den Großen Seen – persönlich in Augenschein nimmt. Er notiert zum Beispiel die Posttaxen einzelner Bundesstaaten und die Gehälter der Beamten. Sozusagen zur historischen Unzeit widmet er sich allen drei "Rassen" des Landes: den weißen Kolonisten, den schwarzen Sklaven, den rothäutigen Ureinwohnern. Er schält die glücklichen geographischen und historischen Prämissen des noch jungen Staates heraus, beschreibt tiefgründig und differenzierend die Maximen und Motive der Angloamerikaner und den gewichtigen Einfluss der Religion.

Immer noch aktuell

Von schlagender Aktualität ist seine Darstellung über die Zufälligkeiten, Widersprüchlichkeiten und vor allem den Pragmatismus im Parteienwesen der USA. So erweisen sich die Senatoren ihren antiken Titelvettern als ebenbürtig und handeln wie Könige – wie im Falle Jeffords versus Bush junior. Wer von uns Europäern verstünde, wie einzelne Senatoren ein 600-Milliarden-Dollar-Projekt – die Öffnung der Ölfelder im Norden Alaskas – zu blockieren vermögen und ihrem vermeintlichen Chef, dem Präsidenten aus der eigenen Partei, die Chose vermasseln? Wo die Fraktionen auf dem Alten Kontinent ihren Führern meist wie eine Hammelherde folgen, herrscht in God’s own Country ein komplexes institutionalisiertes System von Check und Balance zwischen Präsident und Kongress, steht zudem die Gegenkraft der Bundesstaaten dem Überborden des zentralen Machtapparats im Wege. Tocqueville gelang die erste gültige Analyse eines demokratischen Gemeinwesens. Er, der Gegner der Sklaverei, der Verteidiger der Freiheit gegen die Gleichheit, hat weit in die Moderne hinein gesehen.

Walter Sontag , geboren 1951, ist Naturwissenschaftler und lebt als Wissenschafts- und Kulturpublizist in Wien.

Freitag, 22. Juli 2005

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