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Blinde Sänger

Troja, aus irgendeinem unerfindlichen Grund, wahrscheinlich wegen der neuen Rechtschreibung, neuerdings "Troia" geschrieben, bleibt nicht zuletzt dank Hollywood immer aktuell. Und das, obwohl sich doch seit den bahnbrechenden Arbeiten der Gruppe "Monty

Python" ein herkömmlicher Historienfilm von selber verbietet.

Mir zumindest geht es so, dass

ich immer furchtbar lachen

muss, wenn sie mit ihren Sandalen und Schwertern daherkommen, und immer an "Jabberwocky" und "Das Leben des

Brian" und die anderen Filme denke, die das Genre doch ein für allemal im Orkus der Lächerlichkeit versenkt haben müssten. Aber nein. Es ist mit Homer

so wie mit Jesus: Man kann sie dekonstruieren so lang man will, sie werden wie die Artischocken immer mehr, wenn man davon isst.

Zwar dürfte kein Mensch mehr die Geschichte vom blinden Sänger Homer glauben, der nach

500 Jahren mündlicher Überlieferung die Geschichte vom Kampf um Troja in die uns

bekannten vielen Hexameter brachte, die dann nach jahrhundertlanger U-Bahn-Fahrt durch die Wirren der Völkerwanderung und anderer Misshelligkeiten im 15. Jahrhundert in Westeuropa auftauchten. Aber nicht glauben mag man sie auch nicht, weil das irgendwie querulantisch, ja sektiererisch wirkt.

Weil wir nun schon dabei sind, möchte ich hier aber doch auf den bestgehassten Historiker unserer Tage zu verweisen. Er heißt Anatoli Fomenko und wirkt

als Professor für Mathematik in Moskau;, jeder Historiker, der von seinem Fach eine Ahnung hat, kriegt bei Nennung dieses Namens sofort eine Mordswut.

Probieren Sie es aus, es ist interessant. Dagegen ist die Wut,

die Heribert Illig und seine drei fiktiven Jahrhunderte erregen, geradezu ein milder Unwille zu nennen. Fomenko hat herausgefunden, dass die bekannte Geschichte erst um das Jahr 1100 einsetzt, und Genaueres, sagt er, wüssten wir überhaupt erst ab ungefähr 1500. Es würde den Rahmen dieser Veranstaltung sprengen, das im Einzelnen auszuführen; auf Russisch umfasst das Werk dieses phänomenalen Häretikers inzwischen sieben Bände. Der erste ist nun auf Englisch unter dem Titel "History: Fiction or Science?" erschienen, hat 630 Seiten und ist über Amazon preiswert und problemlos zu erwerben. Nur so viel: der Trojanische Krieg hat ungefähr im

13. Jahrhundert stattgefunden, aber nicht vor, sondern nach Christus, und "Troja" war natürlich Byzanz, heute Istanbul. Christus lebte im 11. Jahrhundert; wir müssten also nur die Einser bei unseren Tausender-Jahreszahlen streichen, wie es die Italiener immer getan haben, dann ist alles wieder gut.

Ein interessantes Buch, was die Verfertigung von nationaler Mythologie betrifft - und damit

die Verquickung von Dichtung und Geschichtsschreibung, an

deren Ende wir das alles nicht mehr auseinanderhalten können, wenn es nur lang genug her ist - ist das finnische Nationalepos "Kalevala". Im Verlag Jung und Jung ist nun eine vollständige deutsche Neuübersetzung

erschienen, sodass man sich

im Detail davon unterrichten kann, wie man sich um 1840

das äußerst Ursprüngliche vorgestellt hat.

Es ist für uns Heutige vielleicht etwas starker Tobak, und ich glaube nicht, dass es viele schaffen werden, sich durch die gesamten 470 Seiten durchzukämpfen. Das wäre andererseits aber doch schade, denn in dieser Welterschaffungs- und Heldensage versteckt finden sich doch auch viele gute Ratschläge für das tägliche Leben, wie etwa jener auf Seite 216: "Gehst du in den Vorratsspeicher, um Mehl zu holen, / lass dich da nicht nieder, bleib nicht lang auf dem Weg, / sonst glaubt Schwiegervater, denkt deine Schwiegermutter, / dass du Mehl weggibst, an die Weiber im Dorf verschenkst."

Interessant ist das Nachwort,

in dem der Übersetzer Gisbert

Jänicke uns über die Umstände der Entstehung und das Leben des Dichters, des Arztes Elias Lönnrot (1802 bis 1884) unterrichtet. Die Finnen hatten leider das Pech, dass sie mit ihrer poetischen Geschichtsfiktion so spät dran waren, dass diese ihnen niemand wirklich abnahm. Bei "Troia" ist das freilich etwas ganz anderes.

Walter Klier

Freitag, 09. Juli 2004

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