Die Geschichte ist das gefährlichste Elaborat, das die Chemie des Intellekts produziert hat. Seine Eigenschaften sind allbekannt. Es bringt Völker ins Träumen, versetzt sie in Rausch, gaukelt ihnen eine Vergangenheit vor, übersteigert ihre Reflexe, hält ihre alten Wunden am Schwären, stört sie in ihrer Ruhe auf, treibt sie zu Größenwahn oder auch zu Verfolgungswahn und macht, dass die Nationen verbittert, auftrumpfend, unausstehlich und eitel werden. Die Geschichte rechtfertigt, was immer man will. Sie lehrt schlechterdings nichts, denn es gibt nichts, was sich mit ihr nicht belegen ließe . . ."
Dieses schöne Zitat von Paul Valéry liest man im Mai-Heft des "Merkur" gegen Ende eines längeren Aufsatzes von Rudolf Burger. Unter dem Titel "Geschichte als Therapie" bringt er sein hierzulande schon einmal vorgetragenes Thema über Sinn und Unsinn der Theorie der Vergangenheitsbewältigung gewissermaßen auf den letzten Stand. Nachdem Burger innerösterreichisch dafür schon geprügelt worden ist, ist nun die Gelegenheit für gesamtdeutsche Prügel gekommen, umso mehr, als die zur Zeit übliche "Vergangenheitspolitik" noch keine Anzeichen von Schwäche zeigt. Primär beschäftigt Burger das obsessive mediale Durchkauen der Jahre 1933 bis 1945, was uns angeblich davor bewahren soll, sofort wieder in den Nationalsozialismus zurückzufallen. (Dazu gleich ein passender Literaturhinweis: Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschuggnall, Olaf Jensen, Torsten Koch: "Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis", Fischer TB Verlag, 2002).
Burger meldet begründete Zweifel an der Wirksamkeit einer solchen Therapie an - selbst wenn man die Freud'schen Prämissen, die dem zu Grunde liegen, für gültig hält. Bei der "Verdrängung", von der in diesem Zusammenhang die Rede ist, würde im Gegensatz zum Freud'schen Modell nicht das Opfer der Traumatisierung, sondern der Täter "verdrängen", und nicht nur der Täter selber, sondern dazu noch seine Verwandten und Nachkommen bis ins (derzeit) dritte Glied, also das ganze Volk in Bausch und Bogen. Die Feststellung Burgers, dass es sich bei der Reaktion der Österreicher und Deutschen unmittelbar nach 1945 nicht um ein "Verdrängen" von was immer, sondern um Trotz gehandelt habe, kann ich selber noch durch Erfahrungen aus meiner Kindheit und Jugend (also den 60er und 70er Jahren) bestätigen. "Verdrängt" hatte niemand irgendetwas, jeder wusste nur allzu
genau, was er getan und was
er nicht getan hatte, und redete mit Vorliebe von dem, was "die anderen" getan hatten, also
die Engländer, Amerikaner und Russen.
"Geschichte ist die Erzählung von einer Vergangenheit, an die sich niemand mehr erinnert." Diese Formulierung Burgers führt hinaus aus dem engeren zeitgeschichtlichen Bezug - zur weiteren und allgemeinen Möglichkeit, über Geschichte zu schreiben. Man stellt, im populären Fernseh- wie Sachbuchprogramm - und in der Belletristik nicht minder -
einen nie endenden Boom
historischer Themen fest, der
nur vom Boom bei den Tier-
und Pflanzenthemen übertroffen wird.
Geschichte ist das, was der Gesellschaft, die sich von Gott losgesagt hat, als Sinnhintergrund bleibt - und wir können gar nicht genug davon kriegen. Schon Voltaire hat festgestellt, die Geschichte bestehe aus "Fabeln, auf die wir uns geeinigt haben". Fables convenues heißt auch, dass es sich um eine Übereinkunft handelt, die von allen Beteiligten eingehalten werden muss, damit sie funktioniert.
Da erweist sich dann, dass eine harmlose und die tiefste Vergangenheit betreffende Aussage wie jene, dass Heinrich Schliemann das falsche Troja ausgegraben hätte oder dass Karl der Große eine Sagenfigur wäre, der mitsamt 300 Jahren frühen Mittelalters nie existiert habe, zu überraschenden Ausbrüchen von Leidenschaft in der Fachwelt und auch beim breiteren Publikum führen. Warum ist das so wichtig, was 1.000 oder 3.000 Jahre her ist? Hiezu ein abschließendes Zitat, diesmal von George Orwell: "Who controls the past controls the future. Who controls the present controls the past."
Walter Klier
Freitag, 14. Mai 2004