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Vor 250 Jahren geboren, bis heute verkannt: Adolph von Knigge

Illuminat, Aufklärer, Revoluzzer

Von Oliver Bentz

Fast jeder glaubt ihn zu kennen, doch kaum einer kennt ihn richtig: den Schriftsteller Adolph Freiherr von Knigge. Es gibt wohl kaum einen anderen deutschsprachigen Autor, dessen Werk von der Nachwelt so verfälscht wurde und der seit Generationen dermaßen missbraucht wird. Für Bücher wie den "Knigge für Autofahrer", den "Knigge für Manager", den "Knigge für Touristen" oder gar den "Zicken-Knigge" muss sein Name herhalten. Unübersehbar ist heute die Vielfalt der Anstands-, Benimm- und Dressurbüchlein für die die Bezeichnung "Knigge" zum Schlagwort geworden ist. "Hier hat", so Rolf Michaelis, "ein Mensch seinen guten Namen an eine schlechte Sache verloren." Die schlechte Sache, das ist die steife, leblose Etikette, für die der "gute Name" heute zum Inbegriff verkommen ist.

Ganz anderes hatte er beabsichtigt, der vor 250 Jahren, am 16. Oktober 1752, auf einem Landgut bei Bredenbeck nahe Hannover geborene Adolph Freiherr von Knigge, als er 1788 - im Jahr vor dem Sturm auf die Bastille - mit seinem Werk "Über den Umgang mit Menschen" an die Öffentlichkeit trat, das als eines der wenigen deutschen Bücher der Zeit sofort in viele andere europäische Sprachen übersetzt wurde und der Grundstein zum bis heute anhaltenden Ruhm des Autors sein sollte.

Revolutionäre Schrift

Die in der Schmidtschen Buchhandlung zu Hannover erschienene aufklärerische und revolutionäre Schrift, die sogleich das Missfallen der Obrigkeit erregte, sollte einen Beitrag zum Emanzipationskampf des Bürgertums leisten. Orientierungshilfe für die Bürger, die in den Zeiten des Umbruchs vermehrt mit dem sie verachtenden Adel in Kontakt kamen, wollte Knigge mit seinem Buch geben - und damit eine Anleitung dafür bieten, wie sich Personen unterschiedlicher Stände auf gleicher Augenhöhe gegenübertreten können.

Egon Friedell hielt das Werk für das "berühmteste Buch der deutschen Aufklärung, welches durchaus verdient, noch heute von jedermann zitiert zu werden, und durchaus nicht verdient, von nahezu niemandem mehr gelesen zu werden."

Praktische Lebensklugheit enthielt Knigges Schrift für "Menschen aller Arten und Stände", in der er die "Resultate aus den Erfahrungen" zog, die, so der Autor, "ich gesammelt habe, während einer nicht kurzen Reihe von Jahren, in welchen ich mich unter Menschen aller Arten und Stände umhertreiben lassen und oft in der Stille beobachtet habe." Seinen Versuch, weltmännische Lebensart aus dem Milieu des Adels mit den Umgangsformen der aufstrebenden Bourgeoisie in Einklang zu bringen, hat Knigge in drei Sektionen mit vielen kleinen Absätzen unterteilt, ansteigend von den natürlichen Voraussetzungen im menschlichen Leben hin zu komplizierten gesellschaftlichen Konstellationen.

Er setzt ein mit "Allgemeinen Vorschriften und Lebensregeln über den Umgang mit Menschen" und - viel zu wenig beachtet - "Über den Umgang mit sich selbst", um dann im zweiten Abschnitt auf die speziellen Beziehungen im familiären Alltag zu kommen: Zum Umgang unter Eheleuten, mit Eltern, Kindern, Frauenzimmern, zu den Verhältnissen zwischen Nachbarn, Herren und Dienern, Lehrern und Schülern. Im abschließenden dritten Teil zeigt er dann den Menschen im sozialen Gefüge und lehrt den Einzelnen, Fürsten und Vornehmen, Staatsbeamten und anderen Würdenträgern erfolgreich entgegenzutreten: "Sage diesen Leuten zuweilen einmal, doch ohne Hitze und Grobheit, die Wahrheit. Schlage ihre flachen, schiefen Urteile kaltblütig mit Gründen nieder, wo es nach Umständen die Klugheit erlaubt. Stopfe ihnen das Maul, wenn sie den Redlichen lästern. Setze ihren Schleichwegen Mut, Tätigkeit und wahre Kraft entgegen."

"Dieses vergessene, verkannte Lehrbuch geselligen Miteinanders", so Rolf Michaelis, "wurde in einem Volk von Eigenbrötlern oder Kumpanen einer dumpf militärischen Kameraderie bald um seinen befreienden Schwung gebracht. In bearbeiteten, gekürzten, umgeschriebenen Fassungen wurde ein Werk der Aufklärung verfälscht zu einem Exerzier-Reglement für Zivilpersonen." Verleger, die den Konflikt mit der Zensur scheuten, und auch Knigges Tochter, die vornehmlich den Verkaufserfolg im Auge hatte, nahmen dem Buch durch seine Degradierung zum Anstands-Regelwerk über förmliches Verhalten jegliche Schärfe und verkehrten die politischen und sozialen Absichten des Verfassers in ihr Gegenteil.

Zur Beantwortung der heute gemeinhin mit seinem Namen verbundenen läppischen Pseudo-Anstands-Fragen, etwa ob man den Fisch mit dem Messer essen darf, wie man eine Kaffeetasse zu halten hat oder ob man den untersten Knopf der Weste offen lässt oder schließt, sah sich Knigge nun wahrlich nicht berufen.

Knigge eckte oft an

Und auch in seinem eigenen Leben erwies sich der Verfasser des Ratgebers für ein von vernünftigem Umgang geprägtes Miteinander nicht gerade als Meister seines Fachs: Immer wieder eckte er an und überwarf sich, sodass es nicht verwundert, dass er im Vorwort seines Buches schrieb: "Habe ich denn wohl auch Beruf, ein Buch über den esprit de conduite zu schreiben, ich, der ich in meinem Leben vielleicht sehr wenig von diesem Geiste gezeigt habe? Ziemt es mir, Menschenkenntnis auszukramen, da ich so oft ein Opfer der unvorsichtigsten (. . .) Hingebung gewesen bin?"

Knigges Vater, ein eher geschäfts-untüchtiger Charakter, der sich unter anderem in der Kunst des Goldmachens versuchte, hinterließ dem Sohn nach seinem frühen Tod einen riesigen Schuldenberg und eine Meute von Gläubigern, die an ihr Geld zu kommen trachteten. Zunächst aber erhielt der junge Mann eine standesgemäße Ausbildung durch Hofmeister, und seine steile Karriere bei Hofe schien vorgezeichnet. Knigge studierte Jura in Göttingen, wo Georg Christoph Lichtenberg sein Zimmernachbar war und die Brüder Johann Adolf und Johann August Schlegel zu seinen Lehrern zählten.

Mit 19 Jahren trat er in die Dienste des Landgrafen von Kassel, an dessen Residenz er als Hofjunker und Assessor bei der Kriegs- und Domänenkammer begann und schließlich zum Leiter der fürstlichen Meerschaumpfeifenmanufaktur und Planungsbeauftragten für den Zichorieanbau aufstieg. Doch höfische Intrigen und die Tatsache, dass Knigge die Avancen der Gattin des Landgrafen, die Gefallen an dem jungen Mann gefunden hatte, nicht erwiderte, setzten der hoffnungsvollen Karriere ein abruptes Ende. Über diese ersten, prägenden Erfahrungen mit der höfischen Welt schrieb Knigge:

"Ich trat als ein sehr junger Mensch, beinahe noch als ein Kind schon in die große Welt und auf den Schauplatz des Hofes. Mein Temperament war lebhaft, unruhig, bewegsam, mein Blut warm; die Keime zu mancher heftigen Leidenschaft lagen in mir verborgen; ich war in der ersten Erziehung ein wenig verzärtelt (. . .) und man hatte mich nicht zu jener Geschmeidigkeit vorbereitet, derer ich bedurfte, um, unter mir ganz fremden Leuten, in despotischen Staaten große Fortschritte zu machen (. . .). Ein einziger unbesonnener Schritt (. . .), durch welchen sich der Ehrgeiz und die Eitelkeit eines Weibes gekränkt hielten (. . .), war schuld daran, dass ich nachher allerorten, wo mein Schicksal mich nötigte, Schutz und Glück zu suchen, Widerstand (. . .) fand. Wirklich sollte man es kaum glauben, welche Mittel solche Furien ausfindig zu machen wissen, einen ehrlichen Mann, von dem sie sich beleidigt glauben, zu martern, zu verfolgen; wie unauslöschlich ihr Hass ist; zu welch niedrigen Mitteln sie ihre Zuflucht nehmen."

Nachdem auch eine weitere Anstellung, die er 1777 auf Goethes Empfehlung als weimarischer Kammerherr am Hof in Hanau bekam, aus ähnlichen Gründen unglücklich endete, hatte Knigge vom höfischen Leben genug und beschloss, so Lutz Neitzert, "sich auf die Seite jener zu schlagen, die am Vorabend der bürgerlichen Revolution gegen die menschenverachtende Fürstenherrschaft aufbegehrten". Ironisch auf seinen Freiherrn-Titel anspielend, bezeichnete er sich als "freier Herr Knigge".

Mitkämpfer zur Verwirklichung seiner Ideen von der freien und gerechten Gesellschaft glaubte er in den Kreisen der Freimaurer zu finden, deren Auffassungen ihm jedoch bald zu gemäßigt erschienen. So trat er 1780 dem radikalaufklärerischen Illuminatenorden bei, dem auch Zeitgenossen wie Goethe, Herder oder Pestalozzi angehörten. Unter dem Ordensnamen "Philo" wurde Knigge, der versuchte, die Logen zu Instrumenten der Aufklärung zu machen, zu einem der agilsten Aktivisten des Bundes. Doch bald überwarf er sich auch dort, hatte von den "elenden Kleinigkeiten und abgeschmackten Zeremonien" genug und zog sich 1784 zurück.

Gegen Despotenknechte

Als "freier Autor" wollte Knigge fortan von seiner Schriftstellerei leben und seinen Kampf gegen "Despotenknechte und Dummköpfe" fortführen. Er stürzte sich dermaßen in die Arbeit, dass bald Buch auf Buch erschien. So ist das Werk des Vielschreibers Knigge, der Morgen für Morgen um fünf Uhr an sein Schreibpult trat, heute kaum mehr zu überschauen und auch weitgehend vergessen. Denn er schrieb für ein Massenpublikum: Wenig Ewiges, vielmehr leicht verdauliche Kost, die jedoch immer von seinen aufklärerischen Gedanken und Lebensweisheiten durchdrungen war.

Er verfasste philosophische Traktate, erfolgreiche Romane wie "Der Roman meines Lebens" oder die "Geschichte Peter Clausens", Theaterstücke, Reiseberichte, Flugblätter und Pamphlete. Raubdruckern, die ihn um seine ohnehin schmalen Einnahmen brachten, drohte er mit der Veröffentlichung einer "Diebschronik oder Sammlung von Lebensbeschreibungen und Bildnissen der berühmtesten deutschen Nachdrucker".

Als Übersetzer aus dem Französichen und Italienischen übertrug er viele literarische Werke ins Deutsche, darunter Rousseaus "Bekenntnisse" (1786 bis 1790). Heute ebenfalls kaum mehr bekannt ist er als einer der bedeutendsten Literaturkritiker seiner Zeit. Über 1.200

anonyme Besprechungen verfasste er für Friedrich Nicolais "Allgemeine Deutsche Bibliothek". Daneben komponierte er Konzerte und Klaviersonaten und spielte verschiedene Instrumente, darunter Querflöte und Fagott.

Neben seiner schriftstellerischen Arbeit sorgte Knigge selbst für die Erziehung seiner Tochter und der anderen aufgenommenen Kinder, für die er Kleidung strickte und Schuhe nähte. Denn erst in Knigges letzter Lebensphase sollten die vom Vater vererbten finanziellen Sorgen, die ihn zeitlebens zu einem materiell ärmlichen Dasein gezwungen hatten, durch die 1790 erfolgte Ernennung zum Oberhauptmann und Scholarch von Bremen - wo ihm die Verwaltung der hannoverschen Besitztümer unterlag - ein Ende haben.

In Folge der Französischen Revolution, deren Ideale Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit er auch noch nach den Monaten des Terrors hochhielt, schrieb er die beißenden politischen Satiren "Benjamin Noldmann's Geschichte der Aufklärung in Abyssinien" (1791), "Des seligen Herrn Etatsraths Samuel Conrad von Schaafskopf hinterlassene Papiere" und "Josephs von Wurmbrand politisches Glaubensbekenntnis" (beide 1792), die ihm die Verfolgung durch die Reaktion einbrachten und ihn in Deutschland zur unerwünschten Person machten. Der geringen

politischen Wirkung von Literatur war sich Knigge jedoch immer bewusst: "Noch nie haben Bücherschreiber große Weltgegebenheiten bewirkt, sondern die veränderte Ordnung der Dinge wirkt im Gegenteil auf den Geist der Bücherschreiber".

Wer sich als ein so genauer Beobachter der Menschen erweist wie Knigge, dem bleibt wahrscheinlich nichts anderes übrig, als seine Zeitgenossen letztendlich zu verachten und zum Menschenfeind zu werden. "Man freut sich darüber", so Knigge in seinem letzten, kurz vor seinem Tod erschienenen, großen Buch "Über Eigennutz und Undank", einer resignativen Bilanz eines engagierten Lebens für Emanzipation und die Freiheit des Menschen, "wenn wenigstens dieselben Menschen uns nur einmal betrogen haben. Man verschließt sich nach und nach in sich selbst."

Am 6. Mai 1796 starb Adolph Freiherr von Knigge in Bremen. "Die Thoren und Narren in Deutschland feyern ein Freudenfest, und die Klugen und Rechtschaffenen trauern", brachte der Jakobiner Andreas Georg Friedrich Rebmann in seinem Nachruf die geteilte Meinung der Mitwelt über diesen unbequemen Denker und schillernden Literaten des 18. Jahrhunderts zum Ausdruck, dessen Kopf angereichert war mit menschheitsbeglückenden Idealen der Aufklärung. Im Bremer Dom fand der "unermüdliche Arbeiter für Menschenglück" seine letzte Ruhestätte.

Freitag, 11. Oktober 2002

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