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Ein ausufernder Mensch

Die Kunstkammer in St. Petersburg erinnert an Peter den Großen
Von Michael Martens

Einige formen seit über zwei Jahrhunderten ihre Lippen wie in Erwartung eines Kusses. Doch je geküsst hat sie nur einer, und damals war das 17. Jahrhundert noch nicht durch. Viele scheinen daher die Hoffnung auf Liebkosungen aufgegeben zu haben. Irr blicken sie oder leer, drohend, fragend oder wie auf Rache sinnend. In einigen Zügen lässt sich tiefer Schmerz ahnen. Alle starren sie durch das gelbstichige Gallert der Konservierungsflüssigkeit ihrer Gläser die Ewigkeit an. In die sind sie als schrecklich verunstaltete Krüppel hineingeraten, als Zyklopen,

Janusköpfe, Torsi.

Ein handgroßer Fötus ohne Beine schwebt mit einer Mullbinde auf dem Kopf in der schwerelosen Zeitlosigkeit seines Glases. Im Glas daneben schwimmt ein zusammengewachsenes Zwillingspaar, die Geschwister Siam von der Größe einer Kokosnuss. Dem kleineren Zwilling fehlt das Haupt, und so klammert er sich ängstlich und kopflos mit seinen Ärmchen an den Körper des größeren. Die Szene erinnert an eine Mutter, die ihr Kind, dem man gerade den Kopf abschlug, noch immer auf dem Arm trägt, weil sie nicht begriffen hat, was geschehen ist. Ein Glas weiter starrt der Hauptkörper in heiterer Teilnahmslosigkeit in die Leere und scheint den zweiten Leib, der ihm in Höhe seines Halses entwuchs, gar nicht zu bemerken. Dieser Zweite, eine gänzlich verunstaltete Missgeburt hat die erbsengroßen Hände wie unter spasmischen Schmerzen zu Fäusten gegen die Ungerechtigkeit eines Lebens geballt, das nie gelebt wurde.

An der Tür zu dem seltsamsten und unheimlichsten Raum von St. Petersburg hängt eine Tafel, die Kinder und Schwangere vor dem Weitergehen warnt. Denn auf der anderen Seite der Tür befindet sich das Kuriositätenkabinett Peters des Großen mit seiner Sammlung aus ausgesucht schauderhaften Krüppeln in Gelee. Erstmals gesehen hatte der russische Zar die Kollektion während seiner ersten Europareise. In Amsterdam war er in das Kabinett des Frederik Ruijsch geraten, eines genialen und besessenen Balsamisten, der als Präparator der überragende Meister seiner Zeit war. Als der russische Souverän die von Ruijsch wie lebensecht konservierten Föten und Embryonen sah, verfiel er sofort jener schaurigen Ausstrahlung, die ihnen bis heute zu Eigen ist. Damals, so heißt es bei einigen Biographen, soll er vor Entzücken diese Krüppelwesen sogar geküsst haben. Nachdem er Ruijschs horrende Meisterwerke für 30.000 Gulden erworben hatte, ließ er sie umgehend nach Russland bringen, wo sie zunächst in seinem Sommerpalast lagerten. Später wurden sie dann in die Residenz des Bojaren Alexander Kikin überführt, dessen Haus frei geworden war, nachdem sein Zar ihn hatte aufs Rad flechten lassen.

Das älteste Museum Russlands

Kurz vor seinem Tode befahl Peter der Große (respektive Erste, je nach Sichtweise) den Bau eines neuen Gebäudes, in dem die Exponate seiner lebenslangen Sammeltätigkeit ausgestellt werden sollten. Dieses Gebäude, das erst drei Jahre nach dem Tode des Bauherren fertiggestellt werden konnte, prägt seit 1728 die städtische Silhouette am rechten Newaufer: Es ist die Kunstkammer, das älteste öffentliche Museum Russlands. Doch die Kunstkammer ist mehr als das: Aus der Kuriositätensammlung Peters des Großen, die bis heute den Grundstock des Hauses bildet, lässt sich auch ein Psychogramm dieser faszinierendsten und neben Josef Stalin umstrittensten aller russischen Herrschergestalten ablesen.

Zu Peters Zeit war die Kunstkammer ein museales Tohuwabohu. Eine Münzsammlung, Ölgemälde, ausgestopfte Tiere, das anatomische Kabinett, eine Auswahl an Mineralien, eine Waffenkollektion und ungezählte Kuriosa, die den sprunghaften Geist des russischen Potentaten zeitweilig interessiert hatten, fanden Platz darin. Mit entsprechendem Vorwissen wird ein Rundgang durch dieses Museum bis heute zu einem Spaziergang durch Peters Hirn, zu einem Abstieg in die höllischen Schlünde seiner Seele.

Bevor mit einer Wanderung durch das Innenleben des Zaren begonnen werden kann, muss vom lieben Gott die Rede sein, dann vom Alkohol. Der liebe Gott, den sich die russisch-orthodoxe Kirche im 17. Jahrhundert zurechtgebastelt hatte, sah es seinerzeit nicht gern, dass die Russen mehr wussten als unbedingt nötig. Bildung war gottlos. Auf die Pläne des Machthabers, seine Trouvaillen dem Volke zugänglich zu machen, reagierte die Kirche daher so, wie sie reagieren musste - für sie war die Kunstkammer ein Werk des Teufels. Deshalb vielleicht wurde die Ausstellung zu Lebzeiten ihres Besitzers von einfachen Menschen kaum besucht, obwohl ihnen der Eintritt nicht verwehrt worden wäre. Die urrussische Angst vor dem Neuen, Unbekannten war größer als die nicht minder urrussische Neugier auf das, was sich da wohl an Wundern hinter dem Horizont der eigenen Vorstellungskraft befinden möge.

Der Herrscher über alle Reußen dachte sich schließlich einen Trick aus, um mehr Menschen in sein Museum zu locken: Als Anreiz zu einem - ohnehin kostenlosen - Besuch des Museums erhielt jeder Gast eine kleine Erfrischung: die Herren ein Wasserglas Wodka, die Damen eine Tasse Kaffee mit Zuckerbrot. Wenn er zugegen war, soll der Hausherr selbst am Eingang gestanden und eingeschenkt haben. Doch auch dieser Brauch, der sich leider nicht bis in die heutige Zeit erhalten hat, verschaffte der Kunstkammer kaum zusätzliche Besucher. Es blieb ein unheimlicher Ort für die meisten, nicht zuletzt, weil die Popen unablässig davor warnten.

Gott auf Abruf

Die Kunstkammer ist damit ein gutes Beispiel für den Konflikt des den Vorstellungen seines Landes um ein Jahrhundert vorausgepreschten Zaren mit seiner Kirche. Denn für Gott gab es zwar einen Platz bei Peter, aber es war ein Gott auf Abruf. Der Zar hat gegen so ziemlich jedes Verbot im Dekalog verstoßen. An Gott dachte er, wenn es ihm passte. Als er seinen Sohn, den dummen, faulen und durchtriebenen Zarewitsch Alexej, foltern und töten ließ, vergaß er flugs, dass sich das nicht gehört und erfand sich ein eigenes Gebot, eine eigene Wahrheit, in deren Licht sein Vorgehen gerecht erschien. Russland wäre unter Alexej wieder in die alte Unwissenheit und Barbarei zurückgefallen, kommentierte der Vater die Hinrichtung seines Sohnes, der in der Tat ein einfältiger Popenliebling war.

Peter wurde nie ein Zar der Popen. Wohl deshalb auch, weil er für Pomp nichts übrig hatte. Seine Sparsamkeit grenzte an Manie. Daher rührte wohl auch seine Sympathie für die Lutheraner und deren kreuzeinfache Gotteshäuser. Die protestantische Ethik und ihr Ideal von der Arbeit als Wert an sich war dem fleißigsten aller Zaren näher als der blattgoldene Prunk der russisch-orthodoxen Kirche.

Es ist eine typisch petrinische Idee, Wodka an die Besucher seines Museums auszuschenken. Alkohol spielte eine große Rolle im Leben des Workaholic auf dem Zarenthron. Arbeitete er einmal nicht, kam es meistens umgehend zu einem kolossalen Besäufnis. Noch in seiner Jugend hatte er das "Allernärrischste Konzil" gegründet, dessen Zweck sich in häufigen und totalen Saufereien erschöpfte. Vorsitzender dieses Konzils war ein gewisser Djak Sotow. Dieser Sotow war der Lehrer des heranwachsenden Thronprätendenten gewesen - und vor allem war er einer der größten Säufer von ganz Moskowien. Seiner Karriere war diese Leidenschaft nicht hinderlich. Unter seinem ehemaligen Schüler wurde Sotow Mitglied der Duma, Präsident der Zarenkanzlei, Graf und sogar Justizminister.

Doch am liebsten spielte er natürlich die mit Staatsgeldern dotierte Rolle jenes unersättlichen "Fürsten-Papst des Saufkollegiums", zu dem sein Zögling ihn gemacht hatte. Gemäß den vom jungen Staatsoberhaupt erdachten Regeln für die Trinkspiele trug Sotow ein Zepter aus Blech und erteilte Novizen den Säufersegen mittels einer Schweinsblase.

Oft inszenierte der Zar solche Orgien als sarkastische Verhöhnungen kirchlicher Rituale. Der bärenstarke Romanow vertrug sehr viel Alkohol und nötigte andere, gleiche Mengen zu trinken. Auf seinen beiden Europareisen geschah es mehr als einmal, dass sich der russische Landesherr in einer billigen Spelunke nach Strich und Faden betrank. Mit August dem Starken verstand er sich auch deshalb so gut, weil er in dem trinkfesten Sachsen auf dem polnischen Thron endlich einen Zecher fand, der nicht schon unter dem Tisch lag, wenn der russische Gebieter erst richtig zu bechern anfing. Dass Peter noch eine andere Vorstellung von Freizeitvergnügen gehabt habe, ist selten behauptet geworden.

Man stelle sich vor: Das vom Zaren überreichte Glas Wodka ist geleert, leicht beschwipst betrachtet der Besucher die ersten Exponate der kaiserlichen Kollektion. Die heutige Kunstkammer muss man im Geiste ein wenig umstellen, denn der freie, neugierige, verspielte, leicht ablenkbare, schnell zu erzürnende und flink zu entzückende Geist ihres Gründers ist kaum noch zu finden. Vor langer Zeit ist hier schon ein analytischer Geist eingezogen, der Geist der Systematisierung Linnés, der noch verstärkt wurde durch die Sowjetzeit und ihren bürokratischen Wahn, alles katalogisieren, bestimmen, einordnen zu können.

Doch hat man die Unordnung erst hergestellt, erscheint im Geiste der frühere Hausherr: kein Wissenschaftler, sondern ein Entdecker. Manchmal kindlich gutherzig, meistens aber grob bis grausam, immer neugierig und gerne vulgär, war er ein Mensch, der seine Welt entdeckt und merkt - sie ist voller Wunder. Im damaligen Russland war diese Entdeckungslust auch eine Entdeckungslist: Denn wo lange sogar den Herren über den Kreml und das umliegende Diesseits nur die Wahrheit der Bibel und der orthodoxen Kirche gegolten hatte, da taten sich plötzlich neue, ungeahnte Nebenwahrheiten auf.

Es lässt sich nicht einmal behaupten, Peter habe neue Wahrheiten gefunden. In Unkenntnis ihrer Existenz suchte er gar nicht danach. Oft erfand er sich seine eigenen Wahrheiten und war glücklich, wenn die Realität sie bestätigte. Wie überragend die Unabhängigkeit eines Geistes sein musste, der sich - zunächst praktisch ohne äußere Anregungen - von der jahrhundertealten Umklammerung des Denkens durch die Kirche befreite, lässt sich heute gar nicht mehr nachvollziehen. Dieser geniale Befreiungsschlag ist die größte Leistung Peters.

Hohen Gästen führte Peter gern selbst seine Sammlung vor. Er, der zu allem und jedem tausend Fragen stellte, liebte es auch, sein Wissen weiterzugeben. Das anatomische Theater mit dem "Schreckenskabinett" als Höhepunkt fesselte seine Aufmerksamkeit besonders. Um seine Sammlung zu vergrößern, hatte er 1718 den bizarren Ukas "Von Monstren und Missgeburten" erlassen, in dem er den Aberglauben russischer Bauern schalt, die glaubten, Krüppel seien ein Werk des Teufels. Er nannte die damals bekannten wirklichen Ursachen wie Krankheiten oder Angstzustände der Mutter als Gründe für Missgeburten. Abschließend versprach er jedem, der ihm ein "Monster" bringe, eine angemessene Entschädigung.

Erkenntnis und Neugier

Diese Mischung aus naturwissenschaftlicher Erkenntnis auf der Höhe jener Zeit und der grob-bäuerlichen Neugier auf immer weitere Krüppelwesen ist bezeichnend für Peter. Er liebte Dinge, die Lärm machten oder sich anfassen ließen. Fortifikationslehre, Waffentechnik, Feuerwerke oder Kriegsschiffe interessierten ihn sein Leben lang. Mit Literatur oder Musik hat er sich nie beschäftigt. Wo immer er während seiner zwei Reisen nach Westeuropa auftauchte, erschrak man über seine kulturelle Grobschlächtigkeit. In England verwüsteten er und sein Gefolge ihre Unterkunft und benutzten Ölgemälde als Zielscheiben für Schießübungen. Die Kunstleidenschaft Katharinas der Großen, die in der Eremitage, in Sichtweite der Kunstkammer am anderen Ufer der Newa gelegen, Gemälde aus aller Herren Länder zusammentrug, wäre ihm unverständlich gewesen.

Seine Psyche war derb, seine Leidenschaften waren krud. Viele Biographen vermuten, dass seine Grausamkeit in den Erlebnissen des Strelitzen-Aufstands ihren Ursprung hatte. Als kleiner Junge hatte er in Moskau die Erhebung dieses von ihm später zerschlagenen Eliteregiments miterlebt, hatte gesehen, wie betrunkene Soldaten ungezählte Adelige und Bojaren in Stücke hieben. Auch erinnerte er sich, wie seine Mutter ihn in Todesangst vor den wütenden Schützen versteckte. Seither hatte er ein Nervenleiden, ein häufiges, ungleichmäßiges Zucken seiner Gesichtsmuskeln, das wohl dazu beitrug, dass in fast allen zeitgenössischen Beschreibungen seiner Person das Unstete, Sprunghafte, Nervöse an seinem Wesen hervorgehoben wurde. Den Strelitzen-Aufstand als Beispiel für die Macht der Gewalt hat er nie vergessen können. Gewalt war später oft seine einzige Lösung für Probleme.

Zu seiner Brutalität kam sein unverfeinerter Geschmack, sein völliges Desinteresse an allen Künsten außer der Architektur. Diese Ignoranz war vor allem ein Produkt der Nichterziehung durch seinen trunksüchtigen Lehrer Djak Sotow. So wurde Peter der Erste in allem ein maßloser Mensch - grausam, ungezügelt und roh, zugleich aber intelligent, wach und von nimmersatter Neugier auf dieses merkwürdige Spektakulum namens Leben. Davon zeugt bis heute sein Museum, die Kunstkammer in St. Petersburg.

Freitag, 09. Februar 2001

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