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Salo -ein Lokalaugenschein mit Reminiszenzen

Die Marionetten-Republik

Von Rudi Palla

Nur ein einziger, immer wieder mit schriller Begeisterung ausgestoßener Ruf brach sich an diesem Abend an den steinernen Fassaden der römischen Innenstadt: "Mussolini arrestato!" Es war Sonntag, der 25. Juli 1943, die Italiener waren in ihrer Mehrheit des Krieges und des Faschismus überdrüssig und die Alliierten bereits 15 Tage zuvor auf Sizilien gelandet, als der Große Faschistische Rat in einer dramatischen Nachtsitzung einem scheinbar resignierenden Mussolini das Misstrauen aussprach. Ein Zeichen für König Viktor Emanuel III., Mussolini zum Rücktritt zu zwingen und "zum Schutz seiner eigenen Person" verhaften zu lassen, vier Tage vor seinem 60. Geburtstag. Der Staatsstreich war offenbar seit langem in allen Details festgelegt, allerdings ohne Wissen der Mehrzahl der faschistischen Parteileiter, von denen sich ein Teil gleich nach Deutschland absetzte. Zum neuen Regierungschef berief der König Marschall Pietro Badoglio, den ehemaligen Generalstabschef, der bereits am 3. September im Namen Italiens einen Sonderwaffenstillstand mit dem amerikanischen General Dwight D. Eisenhower unterzeichnete. Hitler tobte über den Verrat und ließ die Suche nach dem in ein geheimes Versteck gebrachten Mussolini verstärken.

Von Hitlers Gnaden

Benito Amilcare Andrea Mussolini, der Sohn eines Schmieds und einer Volksschullehrerin aus der Provinz Forlí, der sich nach 20 Jahren Diktatorenherrschaft selbst für erledigt hielt und von quälender Furcht beherrscht war, in die Hände der Angloamerikaner zu fallen, hatte noch seine letzte Rolle zu spielen: als fantoccio, als Marionette von Hitlers Gnaden, an der Spitze einer "nationalen faschistischen Regierung Italiens". Am 12. September landeten deutsche Fallschirmjäger unter SS-Hauptsturmführer Skorzeny mit motorlosen Gleitfliegern unweit eines kleinen Berghotels auf dem Gran Sasso in den Abruzzen, befreiten den von der Niederlage sichtlich gezeichneten Duce aus der Gefangenschaft und brachten ihn geradewegs ins Führerhauptquartier nach Berlin.

Nur widerstrebend war Mussolini bereit, die Führung eines neuen faschistischen Staates in den von den Deutschen besetzten Teilen Italiens zu übernehmen. Mit der Bildung einer neuen Regierung am 22. September 1943 begann die Existenz der Repubblica Sociale ltaliana. Wer freilich die wahren Machthaber des neuen Staats waren, stellte sich unmissverständlich schon bei der Wahl des "Regierungssitzes" heraus. Nicht Rom, das noch in deutscher Hand war, sondern einige Orte am Westufer des Gardasees wurden von den Deutschen ausersehen, den Duce und sein Kabinett zu beherbergen. Das hatte seine guten Grunde. Die schmale Uferstraße wird einerseits vom See, andererseits von steil aufragenden Felswänden und Berghängen begrenzt, und nur wenige Kilometer nördlich der Ortschaft Gargnano - wo Mussolinis "Staatskanzlei" untergebracht war - verschwindet sie bis Riva immer wieder in Felstunnels. Eine klug gewählte Falle also, die den unverlässlichen Verbündeten in Wirklichkeit zum Gefangenen und zur Geisel Hitlers degradierte. Zudem konnte angenommen werden, dass die Engländer und Amerikaner nicht so bald nach Norditalien vorstoßen würden. Als Sitz der Ministerien für Äußeres und Kultur wählte man den einzigen Ort am Gardasee, den man zu Recht eine Stadt nennen könnte, Salo.

Salo, südlich von Gargnano, windgeschützt in einer ausgedehnten, hufeisenförmigen Bucht gelegen, ist die historische Hauptstadt des Gebiets. Schon in der Römerzeit als Salodium bekannt, wurde Salo 1377 zum Verwaltungssitz der Riviera Bresciana, der westlichen Ufergemeinden, erhoben. Aber auch unter der späteren venezianischer Herrschaft, die nach dreieinhalb Jahrhunderten 1797 zu Ende ging, behielt Salò seine Selbständigkeit und blieb Zentrum der Comunità della Riviera. Zwischen dieser Epoche großen politischen Einflusses wie auch kultureller Blüte und der zweifelhaften Ehre, als Repubblica di Salo - so wurde die Republikfarce auch genannt - in die Geschichte einzugehen, lag noch ein anderes, weniger bekanntes und dennoch folgenschweres Ereignis.

Salo wurde 1901 von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht, dem ein großer Teil der Stadt zum Opfer fiel. Besonders betroffen waren die am Seeufer stehenden Häuser, unter ihnen der Palazzo del Podestà, das von dem bedeutenden Bildhauer und Architekten Jacopo Sansovino entworfene alte Rathaus aus dem 16. Jahrhundert, das einstürzte, aber vier Jahre später wieder aufgebaut wurde. Ein Arkadengang verbindet den Palazzo del Podestà mit dem eleganten Palazzo della Magnifica Patria, der, 1524 erbaut, den venezianischen Statthaltern als Residenz diente. Jetzt amtieren dort Stadtverwaltung und Stadtpolizei.

Im Schatten der Arkaden des Palazzo della Magnifica Patria baut der Buchhändler Luigi Gozza jeden Tag seinen Büchertisch auf. Ich blättere bei einem Besuch in den aufgeschichteten Bildbänden und Büchern über Salò und den Gardasee und suche - vergebens - nach Bildern oder schriftlichen Erinnerungen der Scheinrepublik. Schließlich frage ich den stets lächelnden Gozza nach lebenden Zeugen der "sechshundert Tage von Salo". Gozza führt mich in die etwas außerhalb des Stadtkerns gelegene Via Orti. In der Bar "Circolo Arci" lerne ich Luciano Galante, den Barbesitzer, kennen. Ein paar Männer sitzen in dem schmucklos eingerichteten und in grünliches Neonlicht getauchten Lokal bei ihrem Espresso oder bei einem Glas Gropello oder Chiaretto und lesen Zeitung.

Galante bittet uns, an einem der freien Tische Platz zu nehmen. Im Herbst 1943 sei er zwar erst 13 Jahre alt gewesen, doch er wisse eine Menge über diese Zeit.

Sein Vater gehörte unter dem Decknamen "Piero" einer Widerstandsgruppe an, und er, Luciano, habe mit großem Eifer alles Material, das er finden konnte, über "die militärische Anwesenheit der Deutschen an der Westküste des Gardasees" - er sagt es fast akzentfrei und lacht - zusammengetragen. In Gargnano, in der Villa Orsoline, befand sich die schon erwähnte "Staatskanzlei", von der aus der Duce versuchte, seine Ehre vor den Augen seiner Landsleute wiederzugewinnen. "Senza successo!", erfolglos, betont Luciano Galante und zeigt mir ein Schwarzweißfoto der Villa. Der protzige Kasten am kleinen Dorfplatz gehörte der Familie Feltrinelli, die in und um Gargnano Ländereien besaß. (Giuseppe und Chiara Feltrinelli waren die Eltern des 1972 auf mysteriöse Weise umgekommenen Mailänder Verlegers Giangiacomo Feltrinelli.)

In der Villa Orsoline anwesend war 1943 auch der deutsche Hauptmann Kisnath, offiziell zuständig für die Sicherheit des Duce, in Wirklichkeit sein Aufpasser. Ferner Hauptmann Hoppe als militärischer Berater und Oberst Jandl als Leiter der Ortskommandantur. Oberleutnant Dieckerhoff "beschützte" die Familie des Duce - Ehefrau Donna Rachele, Sohn Romano und Tochter Anna Maria -, die ein paar hundert Meter außerhalb der Ortschaft in einer anderen Feltrinelli-Villa wohnten. Mussolinis Geliebte Claretta Petacci hingegen wurde im zwölf Kilometer entfernten Gardone Riviera, das zwischen Gargnano und Salò liegt, in der Villa Fiordaliso gemeinsam mit einer japanischen Delegation einquartiert. Alle Telefongespräche, egal wo und mit wem sie geführt wurden, stenographierten Wehrmachtshelferinnen im Keller einer Abhörstation mit.

Luciano Galante kramt aus seinem Archiv den Prospekt des ehemaligen Sporthotels Spögler in Ritten in Südtirol hervor. Den Besitzer, Franz Spögler, habe er gut gekannt. Spögler sei SS-Offizier und Bewacher von Signorina Petacci gewesen und später mehrmals an den Gardasee und nach Salo auf Besuch gekommen. Zur Aussöhnung und Kriegsgräberpflege, fügt er hinzu, und sammelt die auf dem Tisch vor mir liegenden Fotos, Zeitungsausschnitte und Aufzeichnungen ein. Für den nächsten Tag schlägt er mir einen gemeinsamen Rundgang vor.

Faschistischer Luxus

Wir treffen uns vor dem Hotel Laurin in der Viale Landi, die Salo mit dem Vorort Barbarano verbindet. Üppige, violett leuchtende Bougainvillea rankt sich an der Fassade des noblen Viersternehotels hoch. Villa Simonini hieß der 1905 im Jugendstil errichtete Prachtbau früher, dessen ursprüngliche Innenausstattung beinahe vollständig erhalten ist. Kein Wunder, dass das großzügige und luxuriöse Ambiente geeignet erschien, hier das Ministero degli Esteri, das Außenministerium der Repubblica Sociale mit dem Duce als Minister zu etablieren. Luxus war überhaupt gefragt, und die faschistischen Parteibonzen protzten damit in unverschämter Weise, als wäre ihnen entgangen, dass Krieg war. 200 m weiter in Richtung Zentrum, an der Piazza Carmine, steht die Villa Amadei. Sie war Sitz des Kulturministers Fernando Mezzasoma. Das Ministerium, erklärt mir mein Begleiter, betrieb auch einen eigenen Rundfunksender, der vom Palazzo della Magnifica Patria aus seine agitatorischen Programme ausstrahlte. Durch die Porta di San Giovanni betreten wir die Altstadt von Sao und die Via Fantoni, eine schmale Gasse, die in die Piazza della Vittoria mündet. Wir biegen aber schon vorher links in den Vicolo Campanile ein und stehen nach ein paar Schritten vor dem Dom Santa Maria Annunziata mit seinem nie ganz vollendeten marmornen Renaissanceportal. Der Bau wurde 1453 nach Plänen von Filippo delle Vacche im spätgotischen Stil begonnen und mit einer Reihe bedeutender Kunstwerke wie Fresken und Tafelbilder ausgestattet. Luciano Galante drängt darauf, mir ein anderes damals wichtiges Gebäude zu zeigen, und so steigen wir zur Via Brunati hinauf. Dort wo heute die Schule "Fratelli Cervi" untergebracht ist, befand sich die Nachrichtenagentur "Stefani", das offizielle Sprachrohr der faschistischen Regierung. Ihr Chef war Luigi Barzini, der sich die Bevormundung durch den Pressesprecher der deutschen Botschaft, Doktor Mollier, gefallen lassen musste.

Wir wandern die vom Verkehr dröhnende Via Brunati weiter und erreichen die westliche Begrenzung der ehemaligen Stadtbefestigung, den Torre dell'Orologio aus dem 18. Jahrhundert. Luciano macht mich auf ein Haus schräg gegenüber dem Uhrturm an der oberen Ecke der Piazza Vittorio Emanuele aufmerksam. Daran würden sich ältere Bürger, die noch bewusst die beiden letzten Kriegsjahre erlebt haben, nur ungern erinnern, meint er. Es war die Kommandostelle der Polizia Fascista Repubblicana, einer Art politischen Polizei, die mit den deutschen Besatzern sehr eng zusammenarbeitete. Nicht zuletzt durch die zunehmende Partisanentätigkeit in und um Salo wurde das Netz der Überwachung und Bespitzelung immer enger gezogen. Überhaupt glich die Stadt damals mehr einer Festung als einem Luftkurort. Schilderhäuser vor ehrwürdigen Palazzi, Straßensperren unter Palmen, Maschinengewehre und stahlhelmbewehrte Soldaten veränderten dramatisch das malerische Stadtbild.

Die Kastanienbäume in der Mitte der langgestreckten, zum See abfallenden Piazza Vittorio Emanuele verströmen eine milde Frische. Durch die Via Bolzati gelangen wir zur Piazza San Bernardino und zum Krankenhaus. Luciano bedeutet mir, stehen zu bleiben. Hier, erzählt er, fiel knapp vor Kriegsende der 20-jährige Partisanencapo Ippolito Boschi, genannt "Ferro", in einem Feuergefecht mit dem Militär, als er und seine Gruppe versuchten, im Spital festgehaltene Kameraden zu befreien.

Es war nicht das letzte Gefecht. Der verzweifelte kriegerische Ehrgeiz des deutschen und italienischen Faschismus, zu retten, was nicht mehr zu retten war, und die erbitterte Verwegenheit der Resistenza, der Widerstandsbewegung, ließ die Kämpfe zeitweise zu grässlichen Massakern ausarten. Im April 1945, die alliierten Heere rückten bereits in der Po-Ebene vor, begab sich Mussolini vom Gardasee in das aufständische Mailand, um mit Vertretern des "Nationalen Befreiungskomitees" zu verhandeln. Die Unterredung scheiterte. Mussolini verließ Mailand mit der Absicht, sich über die Grenze in die Schweiz zu retten. Am Comer See wurden er und seine Geliebte Claretta Petacci, die ihm bis zuletzt gefolgt war, am 27. April 1945 von Partisanen erkannt, gefangen genommen und am nächsten Tag erschossen. Ihre Leichen hing man, mit den Kopf nach unten, auf der Piazzale Loreto in Mailand auf.

In seinem letzten Interview, das der Duce Magdalena Mollier, der Journalistin und Gattin des Pressesprechers der deutschen Botschaft, noch gab, sagte er: "Ich bin am Ende, mein Stern ist untergegangen. Ich nehme Arbeit und Mühsal auf mich, auch wenn ich weiß, dass alles nur eine Farce ist. Ich erwarte das Ende der Tragödie, und merkwürdigerweise losgelöst von allem, fühle ich mich nicht mehr als Schauspieler, sondern als letzter Zuschauer."

Freitag, 26. Jänner 2001

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