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Eine Marbacher Ausstellung widmet sich der Literatur um 1968

Zwischen Happening

und Theoriedebatte

Von Oliver Bentz

Betritt der Besucher das Foyer des Marbacher Schiller-Nationalmuseums, sieht er sich unversehens um 30 Jahre in die Zeit der großen Protestdemonstrationen Ende der sechziger Jahre
zurückversetzt. "Stoppt die Notstandsgesetzgebung", "Nieder mit dem Schah", "USA · Raus aus Vietnam" springt es dem Betrachter von der aus zeitgenössischen Fotos gestalteten Wandtapete dieses ersten
Ausstellungsraumes entgegen. Der Vietnamkrieg, das Regime des Schah von Persien oder die in Bonn von einer großen Koalition geplante Einschränkung der Grundrechte waren die Anlässe, die damals die
Massen auf die Straßen trieben und in deren Folge sich jene Bewegung der "Außerparlamentarischen Opposition" des gesellschaftlichen Aufbruchs konstituierte, die man heute mit dem Schlagwort "68er"
tituliert. Die gesellschaftlichen Reformen, die damals durch den · vor allem studentischen · Protest die Bundesrepublik veränderten, schlossen das Kapitel der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit
endgültig ab.

Auf Bildschirmen sieht und hört man den Anführer des damaligen Protestes, Rudi Dutschke, theoretisierend, den politischen und gesellschaftlichen Zustand der Bundesrepublik analysierend; Theodor W.
Adorno in kontroverser Diskussion mit Studenten; brave Bürger, die durch die langhaarigen Protestler den Untergang des Abendlandes heraufziehen sahen; und · auf das eigentliche Thema der folgenden
Ausstellung hinführend · Ausschnitte aus Lesungen und Theateraufführungen jener Zeit, etwa der Dokumentarstücke "Der Stellvertreter" (1963) von Rolf Hochhuth, "Die Ermittlung" (1965) und
"Viet Nam Diskurs" (1968) von Peter Weiss, oder, Elemente des Straßentheaters aufgreifend, Max von der Grüns "Notstand oder das Straßentheater kommt" aus dem Jahr 1969.

Welche Rolle spielte die Literatur in diesen turbulenten Jahren, im politischen Kampf, in Wertediskussionen und Emanzipationsbestrebungen? Welche Impulse gab sie und welche bekam sie? Gab es
Wechselwirkungen zwischen revoltierender Jugend und Literatur · und wie sahen diese aus?

Diese Fragen versucht die Ausstellung "Protest! Literatur um 1968", die vom Deutschen Literaturarchiv, dem germanistischen Seminar der Universität Heidelberg und dem Deutschen Rundfunkarchiv
gemeinsam konzipiert wurde, in sieben Abteilungen und 30 Unterkapiteln zu beantworten.

Schon diese Ausstellungseinteilung deutet an, wie differenziert man sich hier dem Thema nähert. Möglichst viele Facetten der Literatur um 1968 sollen freigelegt und zu einem Epochenbild
zusammengefügt werden. Und das ist gut so, denn beim Rundgang fällt auf, wie widersprüchlich das Verhältnis der "68er" zur Literatur war. Für die einen war sie Instrument im Kampf um die Veränderung
der herrschenden Verhältnisse, sollte, so Hans Magnus Enzensberger, zum Mittel der "politischen Alphabetisierung Deutschlands" werden. Dokumentation, Protokoll und Reportage waren die bevorzugten
Textsorten dieses Engagements.

Andere wiederum lehnten sie grundsätzlich ab: "L'art c'est de la merde", lautete die französische Variante dieser Verachtung alles "Belletristischen", als dessen Inbegriff viele Autoren der
klassischen Moderne betrachtet wurden · so der Großbürger Thomas Mann ·, die aber auch Ressentiments gegen die literarische Elite jener Zeit, die sich in der "Gruppe 47" sammelte, artikulierte, deren
Gesprächsangebot von den rebellischen Studenten zurückgewiesen wurde. "Literatur als Kunst könne", so verkündete es das "Kursbuch 15" im November 1968, das in der Ausstellung aus dem Besitz von
Peter Rühmkorf mit vielen Unterstreichungen und Bemerkungen zu sehen ist, "nicht mehr gerechtfertigt werden".

Einem der Exponenten dieser Sichtweise widmen die Marbacher Austellungsmacher weiten Raum. Der amerikanische Literaturwissenschafter Leslie A. Fiedler verkündete im Sommer 1968 das Ende der
klassischen Moderne und den Anbruch einer "postmodernen Literatur". Die neue Literatur war für ihn gekennzeichnet durch eine Erweiterung des Kulturbegriffes; die Hinwendung zum trivialen Mythos, die
Einbeziehung der Massen und ihrer Kultur wie etwa des "Beat" und "Pop", oder durch die Berücksichtigung populärer Themen wie Pornographie oder Science-fiction. "Schließt die Lücke!" zwischen E und U,
nur Massenkultur sei subversiv, lautete Fiedlers Credo.

Kontrovers fiel die Reaktion auf solche Ansichten in Deutschland aus: Martin Walser trat ihnen vehement entgegen, forderte von der Literatur und den Schriftstellern weiterhin "Engagement" und
bezichtigte Fiedler, einer "Gegenaufklärung" ins Wort zu reden. Rolf Dieter Brinkmann dagegen gab sich begeistert, denn Fiedler habe das "Kulturmonopol des Abendlandes" in Frage gestellt.
Folgerichtig galt dann auch Brinkmanns Interesse der Verbreitung des amerikanischen "Undergrounds" in Deutschland. Von ihm übersetzte oder herausgegebene Bücher wie "Acid" und "Silverscreen"
mit ihrer provozierenden Gestaltung stehen dafür. Brinkmann zeigt, daß hinter dem Amerika des sinnlosen Vietnamkrieges noch ein anderes · von den politischen Aktivisten und Ideologen gerne
übersehenes · Amerika steht.

Leicht auf einen Nenner lassen sich · das zeigt die Schau nur allzu deutlich · die unterschiedlichen literarischen und ästhetischen Ausprägungen dieser Zeit nicht bringen, klare Abgrenzungen
zwischen "engagierter Literatur" und "Innerlichkeit und Subjektivität" verschwimmen. Was aber auffällt, ist eine Differenz im Lebensgefühl dieser Zeit; zwischen jenen, die in Theoriediskussionen und
Analysen ihre Erfüllung fanden, und denen, die in Happenings und Vorlesungssprengungen einen erheblichen Unterhaltungswert sahen und auf einer durch Drogen und Sinnlichkeit getragenen "dionysischen
Welle" schwammen: Auf der einen Seite also Rudi Dutschke und auf der anderen Fritz Teufel und Rainer Langhans mit ihrer legendären Kommune I, die in dadaistischer Manier den Gerichtssaal zum Kabarett
verwandelten. Ihre Flugblätter begutachteten anläßlich einer Gerichtsverhandlung nicht weniger als 19 Philologen und Schriftsteller, darunter Peter Szonid, Walter Jens oder Günter Grass, die sie als
literarische Erfindungen und satirische Übertreibungen in die Traditionslinie von Dadaismus und Surrealismus stellten.

Der "alternativen literarischen Öffentlichkeit", wie sie sich im Gefolge der Protestkultur entwickelte, begegnet man in Marbach in Form einer breiten Palette von Arbeitskreisen, Verlagen, Buchreihen,
Zeitschriften, Mini-Pressen und Raubdrucken der Zeit, die zum Forum der neuen Ideen wurden und in denen sich der Zeitgeist manifestierte. Die Bücher des März-Verlages, eine Gründung des Jahres 1969,
dessen Publikationen die Erweiterung bestehender literarischer und politischer Bewußtseinsformen anstrebten oder neue Buchreihen bei Suhrkamp und Insel, die Zeitschriften "Pardon" oder
"Konkret", dessen Nummer vom 7. Oktober 1968 als Titelblatt das berühmt gewordene Foto der nackten Kommune I zeigt. Raubdrucke, durch die der Buchmarkt unterlaufen wurde, die für den
"kommerziellen" Buchmarkt unattraktive Schriften wieder zugänglich machten. Die erstarkende feministische Literatur erfährt ebenso ihre Aufmerksamkeit wie eine Welle antiautoritärer Erziehungs-
Anleitungen.

Die Vielfalt des ausgestellten Materials läßt im Betrachter ein Gefühl dafür aufkommen, warum viele heute mit nostalgisch verklärtem Blick auf diese Zeit zurückblicken. So erscheint "68" von einer
Gegenwart aus betrachtet, die sich durch enorme Leere und die Abwesenheit jeglicher Visionen kennzeichnet, doch als eine Epoche, in der man ohne den Zwang zur realpolitischen Verwirklichung,
kollektiv politisch und ästhetisch fantasieren durfte, in der das freie Spiel der Ideen eine bis dahin ungekannte und später nicht mehr erreichte Erweiterung der geistigen und emotionalen Atmosphäre
schuf.

Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, bis 30. November 1998, täglich von 9 bis 17 Uhr. Ausstellungskatalog 669 Seiten, 220 Abbildungen, 280 Schilling.

Freitag, 19. Juni 1998

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