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Die Lassallestraße in Wien - ein Porträt

Reizvolle Traurigkeit

Von Michael Liebminger

Jeden Morgen marschiere ich die Lasallestraße stadtauswärts zu meinem Arbeitsplatz. Während die Gehsteigseite, die ich abends bevorzuge, in eine von Häuserfronten erzeugte Schattenwelt getaucht ist, die sich auf Grund der nord-südlichen Ausrichtung der Lassallestraße gepaart mit dem Sonnenstand automatisch ergibt, leuchtet mein Morgen-Wanderweg in strahlend hellem Glanze.

Ständig die gleiche Route. Da bin ich konsequent wie Auggie in Paul Austers Film "Smoke", der täglich um acht Uhr morgens ein Schwarzweißfoto von der Ecke Third Street und Seventh Avenue aufnimmt. "Viertausend Tage hintereinander bei jedem Wetter. Deshalb kann ich auch niemals Urlaub machen. . . . Jeden Tag zur selben Zeit an derselben Stelle". Auf den ersten Blick mögen sich alle Bilder gleichen, und doch findet der Betrachter die subtilen Unterschiede: "Es gibt helle Morgen und dunkle Morgen, es gibt Sommerlicht und Herbstlicht. Es gibt Wochentage und Wochenenden. Es gibt Leute in Mantel und Galoschen, und es gibt Leute in Shorts und T-Shirts. Manchmal dieselben Leute, manchmal andere."

Zwischen Donau und Kanal

Als zu Beginn der 90er Jahre die Stadtplanung die "Neue Gründerzeit" ausrief mit dem Ziel, Boulevards zu bauen, stand der Name Lassallestraße ganz oben auf der Liste der städtebaulichen Aufwertungsprojekte. Die Schaffung von Plätzen und Arkaden als Attrappen einer historischen Urbanität war ein Ziel, die Ansiedlung bedeutender Institute und Firmen ein weiteres. Dem so genannten Zwischenstromland, eingegrenzt von Donaukanal und Donau, sollte neues Leben eingehaucht werden. Heutzutage wirkt die Lassallestraße auf den ersten Blick wie ein rekonvaleszenter Patient mit der Diagnose Schlaganfall, der eine Seite nach sich zieht, denn die Heimgehseite hält optisch nicht mit meiner naturbeleuchteten Morgenseite Schritt.

Mein gewohnter Gang führt mich entlang dieses neu entstandenen Potpourris unterschiedlicher Architekturen von Bauherren, die Häuser von nationalen und internationalen "Blue Chips" aneinanderreihten. Auf "Big Blue" IBM folgen der Mineralölkonzern OMV, die Zentralen der Finanzdienstleister Bank Austria und Zürich Kosmos, das Software-Unternehmen SAP und die Telekom Austria. Die zur Schau gestellte Moderne vermittelt ein dynamisches Abbild des Progressiven. Nur die erst 1999 eröffnete UCI-Kinowelt mit ihrem gelben Segel vorne dran hat dieses längst wieder gestrichen und wegen Unrentabilität zugesperrt.

Rund 33.769 Personen (lt. Volkszählung 2001) gehen in der Leopoldstadt einer Tätigkeit nach. Einer von ihnen ist Christian Taucher, der täglich aus dem 16. Bezirk mit dem Auto pendelt. Der Marketingmitarbeiter der SAP Österreich wählt seine Route allerdings so, dass er mit der Lassallestraße nicht in Berührung kommt: "Ich fahre so wie viele andere auch über den Gürtel, dann Handelskai und die Vorgartenstraße hinter dem Telekom-Gebäude vorbei, obwohl mir auffällt, dass auf der Lassallestraße fast nie ein Stau herrscht." Er begründet das damit, dass auf der Alser Straße, am Ring und auf der Lände morgens enorm viel Verkehr herrscht.

Die Lassallestraße, die hinter dem ehemaligen Nordbahnhof beginnt, dort wo auf der gegenüberliegenden Seite die Venediger Au endet, ist Teil einer der wichtigsten Nord-Süd-Verbindungen Wiens. Sie gilt als eine Art Hochgeschwindigkeitsstrecke für den Individualverkehr in Richtung Donauufer bzw. in die naheliegende Stadtmitte und dient als stark frequentierte Durchzugsroute in Richtung Prater, Ernst-Happel-Stadion, Messegelände und dem Wiener Hafengelände. Rund alle 3,5 Sekunden führe ein Auto werktags durch die Lassallestraße stadteinwärts, würde es nicht durch eine der fünf Ampeln gestoppt werden.

Spätestens auf Höhe des Telekommunikationsunternehmens oder 486 Schritte später quere ich die sechsspurige "Autobahn", wobei ich an kalten Wintertagen rücksichtslos den Fahrradstreifen kreuze, während ich mich in warmen Sommermonaten mehrmals nach beiden Seiten rückversichernd umblicke, bevor ich ihn betrete. Obwohl die Montag- bis Freitag-Radler eine Minderheit gegenüber den sonn- und feiertäglichen Pedalrittern darstellen (Donauinsel!), frieren sich zur frostigen Jahreszeit nur ein paar Unentwegte radelnd durch den Winter (rund 101 pro Wintermonat).

Was die Straße erzählt

Ihren Namen verdankt die Lassallestraße einerseits dem Rechtsgelehrten und Schriftsteller Ferdinand Lassalle (1825 bis 1864), zugleich Begründer der internationalen sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland, andererseits dem Wiener Gemeinderatsausschuss für Kultur. Dieser gab 1949 dem 1934 kurzfristig in "Reichsbrückenstraße" umgetauften Straßenzug wieder den Namen, den es von 1919 bis 1934 getragen hatte. Angelegt wurde die Lassallestraße als Teil des vom Praterstern ausgehenden Straßensystems bereits im dritten Viertel des 18. Jahrhunderts.

Es wäre vermessen zu glauben, dass sich eine Straße auf ihren Unterbau (z. B. Erde, Schotter), auf Frostschutzmaßnahmen und Belag reduzieren lässt. Könnte eine Straße beispielsweise sprechen, worüber würde sie berichten? Würde sie sich auf ihre historischen Wurzeln besinnen und erzählen, wie sie 1875 von "Schwimmschulallee" in "Kronprinz-Rudolf-Straße" umbenannt wurde? Oder wäre wichtig, dass an Hochsommertagen die heimische Jugendkultur narrenhaft treibend als "Love Parade" zum kollektiven Bumm-Bumm hier entlang tanzt? Oder sind ihr die noch relativ fitten Laufsportbegeisterten sympathisch, die einmal jährlich beim Wien-Marathon vorbeikommen? Oder aber zählen statistische Ausreißer zu den aussagekräftigen Highlights, wenn sich etwa an Streiktagen wie im letzten Mai bzw. Juni plötzlich 7.708 bzw. 10.421 Radfahrer am Radweg tummeln, während der Durchschnitt in den Sommermonaten nur 2.500 beträgt?

Oder würde sie gar nichts reden, da sie den Glauben an sich selbst verloren hat, seit die Straßenbahnlinien 22, 24, 25, A und B sie nicht mehr frequentieren, denn "früher wurde die Lassallestraße eigentlich immer nur benötigt, damit die Straßenbahn genug Anlauf hat, um über die Reichsbrücke drüber zu kommen", berichten zumindest die Älteren.

Vielleicht ist sie aber auch nur stolz auf ihren Platz in der Rangliste des öffentlichen Straßennetzes. Das Klassement der Straßenlängen weist den 2. Bezirk an neunter Stelle aus (108,1 km), obwohl diese Statistik auch Gassen, Wege, Plätze, Passagen subsumiert. Und mehr als die Hälfte der öffentlichen "Straßen" in Wien sind Gassen, während nur rund 13 Prozent den Namen "Straße" tragen.

Abends, wenn der Bürowecker pünktlich um 17 Uhr klingelt, geht's nach Hause, wiederum kurzzeitig zu Fuß, vorbei an der Nr. 40, dem 1924 erbauten Lassallehof, wo einige hundert Bewohner gleichfalls zur nächtlichen Ruhe heimkehren. Zugegeben, diese Straßenseite durchfahre ich an Wochenenden manchmal auch mit dem eigenen Pkw, reihe mich frühzeitig beim Praterstern ein und ärgere mich als Autofahrer Marke Lokführer (einer, der nicht gerne den Fahrstreifen wechselt) über Rückwärtseinparker, auf der ersten Spur haltende Taxis und Ladetätige, die kurzfristig die Alarmblinkanlage einschalten.

Aber spätestens am Heimweg fällt eines auf: Menschen, die üblicherweise ein Straßenbild beleben, fehlen hier beinahe. Die Lassallestraße wird nicht nur von der U-Bahn unterwandert, sondern auch von Spazierenden gemieden. Die Lassallestraße lädt nicht zum Wandern ein. Sie ist auch kein Einkaufsboulevard. Das erkennt ein "Blinder" spätestens beim dritten Uhrenladen, wo einem der Besitzer am Tresen lümmelnd, den Kopf auf einen Arm gestützt, beschäftigungslos entgegenblickt. Nicht einmal Supermärkte existieren hier. Mit Gittern versperrte Geschäftsportale mit Aufschriften wie "Schlomo - Waren aller Art, Schalom Tzachvasvilli" reihen sich aneinander, und wirken wie Dokumente einer lang vergangenen Epoche.

Oder man findet leere Auslagen, heruntergelassene Jalousien und großräumig vergitterte Eingänge mit der Aufschrift "OPEN". Nur wenn jemand passende Firmungsgeschenke zu erschwinglichen Preisen sucht, dann bietet die Lassallestraße alles: eine Herrenuhr mit Krawatte und Schlüsselbund in einem Etui, eine Damenuhr mit Brille und Terminkalender aus durchsichtigem Plastik in Orange, eine Damenuhr mit Lippenstift als Präsent im Doppelpack, eine Kinderuhr mit elektrischen Zahnbürsten in einem Paket, eine sportive Damen- oder Herrenuhr mit Kugelschreiber und Radiogerät inkl. Kopfhörer.

Was die Menschen erzählen

"Das müssen's mir einmal erklären wie das geht, einen Porsche als Leasing-Fahrzeug, ständig im Seidenanzug und nie einen Kunden im Geschäft", äußert sich eine Mittfünfzigerin hinter vorgehaltener Trafikantinnenhand zu den Geschäftskollegen aus der Uhrenabteilung. Seit mehr als 28 Jahren versieht sie als Hausbesorgerin auf der Nr. 2 ihren Dienst und seit gut 14 Jahren verkauft sie Zigaretten, Zeitungen und Billetts. Sie kennt die Entwicklung der Lassallestraße, seit der Osten die Grenzen öffnete ("Früher gab's nur Videorekorder, bis der Cosmos aufg'sperrt hat."), und hat ihre eigenen Theorie: "Das sind doch nur Scheingeschäfte für die Finanz. Die Wahrheit heißt Geldwäscherei!" Und eine Pensionistin, die es sich statt im Kaffeehaus in der Trafik gemütlich gemacht hat, nickt zustimmend und mitwissend.

Vereinzelt leuchten neue bunte Geschäfte aus dem Grauton der Fassaden: ein Tattoo- & Bodypiercing-Studio, ein Tauchsportstudio, ein Optiker und die Blumen-Uschi. "Für mich ist die Lassallestraße ein zweites Standbein, die mich mit meinen Blumenarragements in die Nähe meiner Kunden bringt", erzählt die Inhaberin Ursula Siedl. "Mein anderes Geschäft am Mexikoplatz ist vielen Angestellten von da drüben nicht zumutbar", wobei sie mit dem Kopf auf die andere Straßenseite deutet. Rund fünf Jahre habe sie benötigt, um ein passendes Geschäftslokal zu finden. ("Glauben's nicht, nur weil alles zugesperrt ist, dass das niemand gehört. Da ist alles vermietet!")

Die Lassallestraße bezieht ihr Flair aus der unüberwindbaren Unterschiedlichkeit zweier Straßenseiten. Alleine schon das Design der Wasserhydranten manifestiert die unüberbrückbaren optischen Differenzen: drüben ein leichtmetallenes, modernes, unscheinbares Etwas, hüben ein globiges, vollkommen abgewittertes, farbloses Ding. Den Hunden wird's hoffentlich egal sein!

Freitag, 02. April 2004

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