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Zum historischen Umgang mit einer Fortbewegungsart

Wien -Stadt der Radfahrer?

Von Sándor Békési

Radeln ist in Wien derzeit in aller Munde. Das Fahrrad beginnt dank der bunten Gratisleihräder von Viennabike auf eine neuartige Weise das Stadtbild zu erobern. Um die unmittelbaren Gründe für den Erfolg oder Misserfolg dieser Initiative soll es an dieser Stelle nicht gehen. Vielmehr um eine Geschichte des Fahrrades in Wien als eines innerstädtischen Verkehrsmittels, dem Planung und Politik lange Zeit ablehnend gegenüberstanden.

"Die Krisenzeit hat den Bau von Radfahrerwegen nicht zum Stillstand gebracht. In den letzten beiden Jahren wurden beispielsweise in Berlin 12 Kilometer (. . .) an neuen Radfahrerwegen angelegt. Diesen Angaben kann man in Oesterreich leider nur eine große Null entgegenstellen. In Oesterreich ignoriert man den Radfahrer einfach seit Jahrzehnten." Mit diesen Worten wandte sich im Jahre 1931 der Arbeiter-Radfahrerbund (ARBÖ) gegen die restriktiven Bestimmungen der neuen Wiener Straßenverordnung. Die Kritik der sozialdemokratischen Interessensvertreter aus der Zwischenkriegszeit beschreibt im Kern eine Tendenz, die hierzulande bis in die jüngste Vergangenheit hinein ihre Gültigkeit behielt. Denn die Geschichte des Fahrradverkehrs in Wien erscheint dem Betrachter vielfach als eine Geschichte seiner Behinderung.

Technologisch war das Fahrrad bereits um 1890 ausgereift und sah aus, wie wir es im Grund heute noch kennen. Dank der Kraftübersetzung mittels Zahnkranz vervielfachte sich die Reichweite des radfahrenden Menschen auf revolutionäre Weise gegenüber dem fußläufigen Verkehr. Bei der gleichen Menge an Kraftaufwand oder "Primärenergie" kann der Radfahrer je nach technischer Ausstattung eine zwei- bis viermal längere Strecke zurücklegen als der Fußgänger.

Eine vertane Chance

Im innerstädtischen Verkehr hat sich durch das Fahrrad um 1900 eine enorme Chance aufgetan: In Verbindung mit modernen öffentlichen Verkehrsmitteln wie Straßenbahn und Schnellbahn hätte dieses Individualverkehrsmittel eine nachhaltige urbane Entwicklung ermöglicht - ohne die heutigen Verkehrsprobleme und die viel zitierte "Unwirtlichkeit der Städte", die aus dem hohen Anteil des motorisierten Individualverkehrs resultieren. Die Vorzüge des Fahrrades gegenüber dem Automobil haben sich im Laufe der Zeit noch vergrößert. Es ist in der Anschaffung wie im Betrieb vergleichsweise preisgünstig, hat im fließenden wie im ruhenden Verkehr einen geringen Platzbedarf, sein Betrieb ist umweltfreundlich und sozialverträglich. Das Fahrrad eignet sich vor allem für die schnelle Überwindung kurzer Distanzen, die gerade in einer Großstadt die überwiegende Zahl der Fahrten ausmacht. Das Fahrrad ist aber nicht nur für die private, sondern auch für die öffentliche Hand das billigste Verkehrsmittel: Ein Personenkilometer im Auto oder in Bus und Bahn kostet die Kommunen das Zehn- bis Zwanzigfache.

Die Tatsache, dass es diesen Vorteilen zum Trotz bis vor kurzem zu keiner nennenswerten Förderung des Radverkehrs in unserer Stadt kam, ist eine der unrühmlichen Eigentümlichkeiten der Wiener Verkehrsgeschichte und Stadtplanung. Es ist zu vermuten, dass die viel zitierten Nachteile des Wiener Terrains für den Radfahrverkehr, das hügelige Relief und die Witterung vordergründige Begründungen waren und sind, und die maßgeblichen Ursachen für die traditionelle Vernachlässigung dieser verkehrspolitischen Option anderswo zu suchen sind.

Dank industrieller Produktion und einem Preisverfall des bereits alltagstauglichen Zweirades nahm die Zahl der Radfahrer in den 1890er Jahren auch in Wien rapide zu. 1896 waren bereits rund 12.500 Erlaubnisscheine ausgestellt. Die nächste Verbilligungswelle in den 1920er Jahren erschloss das Fahrrad auch für weite Kreise der Arbeiterschaft und für kleine Angestellte. Die Zahl der registrierten Fahrräder in Wien erhöhte sich bis 1937 auf knapp 140.000. Mit dieser Entwicklung hat jedoch der Ausbau der Fahrradinfrastruktur keineswegs Schritt gehalten.

Eigene "Fahrrad-Trottoiren" oder "Fahrradbanketts" haben die Radfahrerklubs in Wien bereits in der Frühphase um 1900 gefordert. Nachgekommen ist man diesem Wunsch nur vereinzelt, vor allem entlang größerer Straßenzüge wie etwa der neu ausgebauten Gürtelstraße. In den 1920er Jahren wurde der sprunghaft angestiegene Kraftwagenverkehr zu einer neuen massiven Gefährdung für Radfahrer. Die Forderung nach der Errichtung von getrennten Radwegen wurde lauter.

Eines der Argumente für die Förderung des Radverkehrs nahm Bezug auf den Wandel der Stadtstruktur. Denn die täglichen Wegstrecken, die der Einzelne von der Wohnung bis zur Arbeitsstätte zurückzulegen hat, wurden immer größer. In diesem Zusammenhang empfahl der ARBÖ das Fahrrad als möglichen Zubringer zu den Verkehrslinien. Dies hätte auch geholfen, die Rentabilität der öffentlichen Verkehrsmittel zu heben.

Die Potenziale des Velocipeds waren also im Stadtverkehr der Zwischenkriegszeit bei weitem noch nicht ausgeschöpft, und diese Erkenntnis fand auch Eingang in den öffentlichen Diskurs. Dennoch ging das sozialdemokratisch regierte Wien nicht den Weg einer "fahrradfreundlichen" Stadt. Dabei verhielt es sich nicht so, dass für Straßenbau und Straßenerhaltung keine Aufwendungen getätigt worden wären - etwa im Gegensatz zum hochpräferierten kommunalen Wohnbau. In der Zwischenkriegszeit wurden immerhin jährlich 3 bis 4 Prozent der Fahrbahnen und Gehsteige neu gepflastert oder saniert.

In den spärlichen historischen Darstellungen über das Radfahren in Wien wird gern auf den expandierenden Radverkehr der Zwischenkriegszeit verwiesen. Demnach hätten zu dieser Zeit die "Räder die Straßen dominiert". Dabei werden häufig deutsche oder Schweizer Zählungsergebnisse ungeprüft auf Wiener Verhältnisse übertragen oder feierliche Aufmärsche von Arbeiterradfahrern verallgemeinert und mit dem Verkehrsalltag gleichgesetzt. Ein starker Verkehrsanteil von Radfahrern in Wien lässt sich jedoch bei einer genaueren Betrachtung für die Zwischenkriegszeit stark bezweifeln - angesichts einer restriktiven Radverkehrspolitik nicht weiter überraschend. Ziehen wir die ersten Verkehrszählungen der Bundespolizei 1925 bis 1934 heran, so wies Wien lediglich ungefähr die Hälfte jener Radverkehrsdichte auf, die in deutschen Großstädten wie Berlin und Hamburg zur selben Zeit vorherrschte. Dies erklärt auch den Umstand, warum Radfahrer im Wiener Straßenbild der Zwischenkriegszeit, wie es uns in historischen Fotografien überliefert wird, kaum auftauchen.

Das Auto als Konkurrent

Die nächste Gelegenheit, den Radverkehr seinen Potenzialen entsprechend in den Stadtverkehr zu integrieren, bot sich in Wien nach dem Zweiten Weltkrieg. Mitte der Fünfzigerjahre schätzte der ARBÖ den Anteil des Radverkehrs in Wien immerhin noch auf 1 Prozent (heute beträgt er etwas über 4 Prozent). Zunächst nahm die Gemeinde tatsächlich den Ausbau der Radwege entlang der Ausfallstraßen in Angriff. Ab 1956 jedoch ging die Netzlänge abrupt zurück und erreichte in den 1970er Jahren mit elf Kilometern einen vorläufigen Tiefpunkt. Bezeichnend, dass der auch für heutige Ansprüche vorbildlich angelegte, breite Zweirichtungsradweg am inneren Westgürtel zu Beginn der 1950er Jahre während des Umbaus zur "modernsten Betonstraße Wiens" demoliert wurde. Er hatte einer zusätzlichen, dritten Fahrspur für den motorisierten Verkehr zu weichen.

Das bedeutet, dass man zeitgleich mit einer rapide zunehmenden Motorisierung das Wiener Radwegenetz zur Gänze eingehen ließ und damit dem städtischen Radverkehr die Grundlage entzog. Das Überraschende dabei ist aber, dass dies nicht allein mit der Ideologie der "autogerechten Stadt" und dem technophilen Fortschrittsglauben der Wirtschaftswunderjahre zu erklären ist. Denn etwa in West-deutschland, wo sich Stadt- und Verkehrsplanung in der Hauptsache ebenfalls dem Automobilismus verschrieben, schloss die forcierte Vollmotorisierung die Anlage von begleitenden Radwegen durchaus nicht aus. In diesem Sinne empfahl auch die 1. Wiener Straßenverkehrsenquete gerade im Jahr 1955 die Errichtung von Radwegen - im Interesse aller Verkehrsteilnehmer.

Die verkehrspolitische Entscheidung Wiens, den Radwegebau einzustellen, erscheint umso schwerwiegender, wenn wir einen Blick auf die Unfallstatistik werfen: Die Zahl der Unfälle mit Beteiligung von Radfahrern hat sich in den 1950er Jahren merkbar erhöht, was großteils auf die Zunahme der Kollisionen mit Personenkraftwagen zurückging. Damit wies die Stadt landesweit den größten Anteil der Radfahrerunfälle auf.

Ab 1950 stieg die Zahl der Radfahrerunfälle im Straßenverkehr noch stärker an als der Motorisierungsgrad. Ab Mitte der Fünfzigerjahre fielen jedoch die Unfallzahlen abrupt ab, während der motorisierte Verkehr weiterhin stark zunahm. Dies ging weniger auf Verkehrserziehung zurück, sondern schlicht auf die schwindende Zahl der Radfahrer im Straßenverkehr. Während bis 1965 die Gesamtzahl der Verkehrsunfälle um die Hälfte zurückging, verringerte sich die Zahl der beteiligten Radfahrer um den Faktor acht. Die Länge der Radwege stagnierte auf niedrigem Niveau.

Die Ignorierung des Radverkehrs in der Wiener Stadt- und Verkehrsplanung der Nachkriegszeit erfolgte offenkundig wider besseres Wissen, entgegen den Empfehlungen der Fachleute sowie den Forderungen der Radfahrerverbände. Ob dahinter das Kalkül stand, auf diese Art und Weise den Radverkehr endgültig aus der Stadt zu verdrängen, muss offen bleiben. Dass dieser Effekt Jahrzehnte anhielt und das Fahrrad zum Kinderspielzeug und Sportgerät herabgesetzt wurde, steht leider fest. Diese verkehrspolitische Weichenstellung hat zur Festigung und Verstärkung eines "fahrradfeindlichen" Klimas bei Planern wie Verkehrsteilnehmern beigetragen, dessen Folgen die Stadt heute noch verspürt.

Was für die Verkehrspolitik der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen gelten mag - dass sie sich auf die Förderung des öffentlichen Verkehrs konzentrierte und vielleicht aus diesem Grund den Radverkehr zurückstufte -, trifft auf die Fünfziger- und Sechzigerjahre gewiss nicht zu: In dieser Zeit wurde nämlich neben der Fahrradinfrastruktur auch das Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgeschraubt. Schuld am "Abdrehen" des Radverkehrs in Wien der Nachkriegszeit könnte auch das nachlassende Lobbying sein. Denn die größte Radfahrerorganisation im Lande, der ARBÖ, übernahm mehr und mehr die Interessensvertretung für den prestigeträchtigeren Individualverkehr und propagierte die "Volksmotorisierung". Aus dem einstigen "Arbeiter-Radfahrerbund" wurde mit der Zeit der "Auto-, Motor und Radfahrerbund."

Erst ab etwa 1980 erfolgte ein Umdenken auch bei den Verantwortlichen und eine Neubewertung der Rolle des Fahrrades im Stadtverkehr. Die Folge war ein merkbarer Ausbau der Radinfrastruktur mit über 800 Kilometer Radverkehrsanlagen bis zur Jahrtausendwende sowie Hunderten von Abstellanlagen in der ganzen Stadt. Von einem Durchbruch in der Radverkehrspolitik können wir in Wien jedoch auch für die letzten zwei Jahrzehnte nicht sprechen. Dafür ist die Ausrichtung des Radwegebaues zu problematisch, weil er häufig auf Kosten der Fußgänger erfolgt und daher tendenziell konflikt- und unfallträchtig ist. Auch in den neuen Niederflur-Straßenbahnen und in den neuen U-Bahn-Garnituren ist kein Abteil für Radfahrer vorgesehen, dem kombinierten Berufsverkehr weiterhin keine Entfaltungsmöglichkeiten bietend. Hinsichtlich Radverkehrsaufkommen bildet Wien im Vergleich mit anderen Landeshauptstädten oder anderen Großstädten im Ausland heute nicht zufällig das Schlusslicht. Während in Graz, Innsbruck oder Salzburg jeder siebte bis fünfte Weg mit dem Rad zurückgelegt wird, ähnlich in München, Basel oder Bern, verwendet man in Wien lediglich für jeden 25. Weg das Fahrrad. Zwar weist Wien in der Verkehrsmittelwahl ("Modal Split") einen hohen Anteil an öffentlichen Verkehrsmitteln auf, andererseits finden vermutlich zahlreiche Fahrten deswegen nicht mit dem Fahrrad statt, weil seine Benützung heute noch mit zu vielen Gefahren und Unannehmlichkeiten verbunden ist. Das heißt: Die Fahrt mit der Bim ist weniger an sich attraktiv, sondern ist vielfach quasi "erzwungen".

Fortschritt im unteren Bereich

Die Tatsache, dass die Benützung des Fahrrades als innerstädtisches Verkehrsmittel innerhalb des letzten Jahrzehnts in Wien verdreifacht werden konnte und heutzutage historisch neue Ausmaße erreicht, zeigt wiederum, wie wenig eine effiziente Radverkehrsförderung braucht und wie wenig die Stadtverwaltung bereit war und leider immer noch ist, in diese umweltfreundliche Verkehrstechnologie zu investieren. Denn die Ausgaben Wiens für straßenbauliche und verkehrstechnische Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Radverkehr bewegen sich im deutschsprachigen Vergleich im unteren Bereich. Sie betrugen in letzter Zeit durchschnittlich 1,5 Millionen Euro im Jahr - Tendenz sinkend.

Die Vernachlässigung des Radverkehrs seitens der öffentlichen Hand hat also in Wien eine lange Tradition, und sie ist bei weitem noch nicht überwunden. Ihre Ursachen liegen möglicherweise auch auf der kulturell-mentalitätsgeschichtlichen Ebene. Gemeint sind etwa jene halbfeudal bis orientalisch anmutenden Attitüden in einer wenig verbürgerlichten Stadt, die sich von einer muskelgetriebenen Technologie grundsätzlich abgrenzen wollen. Solche mentalen Positionen können bis hin zur Haltung der Sozialdemokratie bzw. ihrer Planungselite wirksam sein und somit verkehrspolitische Entscheidungen beeinflussen. Die Geschichte des Fahrrades als innerstädtisches Verkehrsmittel in Wien müsste unter diesem Gesichtspunkt geschrieben werden. Wer von radfahrenden Massen in der Vergangenheit träumt, geht jedenfalls nicht nur an den historischen Tatsachen vorbei, sondern verstellt möglicherweise den Blick auf Versäumnisse der Wiener Verkehrspolitik.

Freitag, 16. August 2002

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