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Im Bauch der Metropole -Stadtgeschichte im Untergrund

Das unterirdische Wien

Von Alexander Glück

Wer immer sich mit einer Stadt und ihrem geschichtlichen Hintergrund beschäftigt, wird dies zunächst auf die klassische Weise tun: bei Tageslicht und auf festem Boden. Die Geschichte von Architektur und Städtebau wird hauptsächlich da besehen, wo die Sonne scheint - und doch handelt es sich bei den aus dem Stadtboden emporragenden Gebilden um nicht viel mehr als die Spitzen von Eisbergen, die sich in ihrer Hauptmasse doch unter der Oberfläche befinden.

Es bedarf nicht so großer Anstrengungen, wenn man die Geschichte einer Stadt unmittelbar von ganz unten aus kennen lernen will. In einer Stadt zumal, die schon seit den Römerzeiten am Schnittpunkt der Kulturachsen liegt und deshalb jahrhundertelang Schauplatz des Geschehens war. Hinzu kommt, dass Wien Residenzstadt vieler Herrscher war und auch nach Ende der Monarchie als Hauptstadt der Republik Österreich Weltgeschichte miterlebt hat.

Doch auch im ganz Kleinen lässt sich ablesen, was in der Geschichte Wiens geschehen ist. Minutiöse Aufzeichnungen über Bombenangriffe russischer Luftstreitkräfte gegen die Donaumetropole haben im Verborgenen die Jahrzehnte überdauert. An Kellerwänden kann man sie heute noch immer finden. So stellt sich die Geschichte des privaten Lebens neben die bedeutsamen Ereignisse, so stellt sich der infrastrukturelle Ausbau einer Millionenstadt neben unterirdische Kultstätten verschiedenster Art, neben römische Fußbodenheizungen, habsburgische Eiskeller und das Elend der Ärmsten, die unter Tage vom Sammeln von Fettbrocken aus dem Wasser der Kanalisation leben mussten.

Berge von Skeletten

Nicht alle Bereiche sind auf den ersten Blick spektakulär. Hier befindet sich ein verlassener Lagerkeller, in dem alte Weinfässer vor sich hindämmern. Dort wird die U-Bahn erweitert und man gewinnt Einblicke in den modernen Tiefbau. Wieder woanders befindet man sich zwischen Bergen von Skeletten oder zwischen offenstehenden Särgen aus dem Barock. Bei Grabungsarbeiten, die mitten im Stephansdom stattfinden, während vorne die Messe läuft, bürsten Archäologen die gebräunten Gebeine und Schädel von Menschen ab, die hier im Mittelalter bestattet wurden.

Auch die Kriege hinterließen ihre Spuren in der Unterwelt. Neben dem großen Bereich der Schutzräume und Bunker, unterirdischen Rüstungsanlagen und Munitionsdepots sind es auch die kleinen Hinweise, die faszinierend sind. In den Kellern befinden sich immer noch Hinweisschilder verschiedenster Art, Leuchtstreifen zur Orientierung und Mauerdurchbrüche.

Schon die Römer bauten nicht nur nach oben, sondern auch nach unten. In Wien ist das anhand begehbarer Ausgraben nachzuvollziehen, an denen man nicht nur den Aufbau antiker Fußbodenheizungen studieren kann, sondern gleichzeitig etwas über die römische Zeit Wiens erfährt. Einige der heutigen Straßen sind seit der Römerzeit ununterbrochen in Benutzung, unter ihnen und in ihrem Umfeld wird alte Geschichte lebendig.

Am Michaelerplatz gibt eine große Grabungsanlage den Blick in die Genese des Untergrunds frei: Neben römischen und mittelalterlichen Resten sind Teile der Kanalisation und der U-Bahn zu sehen, wodurch die Entwicklung der unterirdischen Strukturen unmittelbar abgelesen werden kann. So ist die Unterwelt auch nicht als intaktes Netz zu betrachten, sondern wurde vielerorts durch neue Anlagen zerschnitten und durchtrennt.

Anderes ist durch den allmählichen Verfall nicht mehr begehbar, etwa einige der unterirdischen Verbindungsgänge, die mittlerweile gepölzt sind. Im kulturellen Bereich sind unterirdische Kapellen und eine jüdische Tempelanlage zu besichtigen, ferner gehören hier auch die zahlreichen begehbaren Grabstätten hinein.

In der Michaelergruft im Herzen Wiens finden sich bestens erhaltene, nur etwas eingetrocknete Leichen, die nach 250 Jahren immer noch das bei der Bestattung mitgegebene Blumensträußchen auf der Brust liegen haben. Was kann man an ihnen nicht alles über Bestattungsgebräuche, Kleidung und Glauben ablesen. Die Kirchenleitung, die keineswegs die Bestatteten als große Sensation präsentiert, sondern auf die Wahrung der Totenruhe bedacht ist, will damit auch einen Einblick in die Realität des Todes gewähren. Die noblen Bestattungsriten der Habsburger brachten wieder andere Grüfte hervor.

In der Augustinerkirche ruhen die Herzen der Habsburger in silbernen Urnen, im Stephansdom die Eingeweide. Die Leichen selbst befinden sich in der Kapuzinergruft in kunstvoll angefertigten Sarkophagen. Hier erleben wir die andere Art der Bestattung: den Pomp für die Ewigkeit, die Pracht der Herrscherdynastie. Um die verschiedenen Grüfte ranken sich natürlich auch Legenden und Anekdoten. So soll Maria Theresia beim Begutachten des für sie vorgesehenen Sarkophags gesagt haben: "Hier wird gut ruhen sein." In den Grüften kann man unmittelbar etwas von der Grabesstille erleben und sich mit Leben und Tod auseinandersetzen.

Schon immer wurden die unterirdischen Welten von Wien auf interessante Weise genutzt. Gleich mehrere Filme wurden in der Kanalisation gedreht, von denen "Der Dritte Mann" der berühmteste ist. (Anton Karas übrigens, der die spannungsreiche Filmmusik beisteuerte, nahm seine Zither bezeichnenderweise mit ins Grab.) Auch "Kommissar Rex" und "Kottan ermittelt" nutzten die Kanäle als stimmungsvolle Kulisse.

In Bereichen, die man zunächst gar nicht im Auge hatte, erlebt man denn auch manchmal richtige Überraschungen. So hat sich beispielsweise herausgestellt, dass sich in den Katakomben von Sankt Stephan eine Tierwelt erhalten hat, die als ein Überbleibsel aus der Urzeit betrachtet werden kann.

Diese Milben, Springschwänze und Spinnen zehren seit Jahrhunderten von den Leichenresten der unzähligen Toten, die hier ihre letzte Ruhe gefunden haben. Der feste Untergrund ist voller organischem Material, unter anderem auch Resten von Holz und Textilien. In dieser aufregenden Fauna fand sich sogar eine Tierart, die noch nicht bekannt war und nun den Namen des Stephansdomes trägt.

Verwinkelte Gewölbe

Der Schriftsteller Adalbert Stifter gehörte zu den prominenteren Besuchern der Katakomben. Er hat seine Erlebnisse aus dem Jahre 1841 dichterisch verarbeitet, nachdem er an einem feuchten, nebeligen Novembernachmittag mit Freunden in die Grüfte hinabgestiegen war. Ein Führer geleitete sie durch etliche verwinkelte Gewölbe, und im Fackellicht entdeckten sie eine Mumie nach der anderen. Stifters Aufmerksamkeit wurde von einer Frauenleiche eingenommen: ". . . Mit welchem Pompe mag sie einst begraben worden sein! Und in welchem Zustande liegt sie jetzt da! Bloßgegeben dem Blicke jedes Beschauers, schnöde auf die Erde niedergestellt, und unverwahrt vor rohen Händen; das Antlitz und der Körper ist wunderbar erhalten, die Züge des Gesichts sind erkennbar, die Glieder des Körpers sind da, aber die züchtige Hülle desselben ist verstaubt und zerrissen, nur einige schmutzig-schwarze Lappen liegen um die Glieder und verhüllen sie dürftig, auf einem Fuße schlottert ein schwarzer Strumpf, der andere ist nackt, die Haare liegen wirr und staubig, und Fetzen eines schwarzen Schleiers ziehen sich seitwärts und kleben aneinander wie ein gedrehter Strick - diese Zerfetzung des Anzuges und die Unordnung, gleichsam wie eine Art Liederlichkeit, zeigte mir ins Herz schneidend die rührende Hilflosigkeit eines Toten und widersprach fürchterlich der Heiligkeit einer Leiche . . ."

Während des Zweiten Weltkrieges wurden die Katakomben zum Luftschutzkeller umgerüstet. Dafür wurden die Grüfte mit Brettern verschlossen. "Und wenn man dann im Keller stand, wo die Luft nach dumpfer Feuchtigkeit und der Ausdünstung tausender Menschen roch, Leib an Leib mit ihnen, wenn dann das Licht zuckte oder gar ausging, und man das bekannte Rollen hörte und unter den Füßen zu spüren vermeinte, wenn das Stimmengewirr verstummte, so dass man manchmal sogar das Pfeifen und Quieken der Ratten hörte - dann kam es einem zu Bewusstsein, dass man ja machtlos war, vollkommen machtlos . . .", schrieb die "Arbeiter-Zeitung" zu Neujahr 1946.

So ist die städtische Unterwelt keineswegs nur mit dem Tod verbunden, sondern weit mehr noch mit dem Leben oder der Errettung desselben. Auch die Menschen, die in dieser Stadt ihr Schicksal fanden, stiegen oft in den Bauch Wiens hinab, um dort ihr Auskommen zu finden, zu hausen, zu morden, zu flüchten oder zu sterben.

Heute sind die sozialen Gegensätze zwischen oben und unten in Wien nicht mehr so spürbar wie noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es gibt zwar immer noch eine gewisse Auswahl von unterirdischen Räumlichkeiten, die von Obdachlosen aufgesucht werden, doch ist das Bild der Kanalisation nicht mehr von armen Menschen geprägt, so wie es früher allgemein zu sehen war. Die unterirdische Stadt bot immer Raum für Arme, Vergessene und Halbseidene, für Kriminelle und Habenichtse.

Während über dem Stadtboden die Oberschicht einem angenehm leichten Leben frönte, Bälle besuchte, sich an den Erzeugnissen der Kunst weidete und über die neue Ringstraße flanierte, herrschte unten die blanke Not. Oben feierte sich die Weltstadt in ihrer kulturellen Bedeutung, während unten die Fettfischer ihr Dasein fristeten. Ein großer Teil der Bevölkerung Wiens lebte im Kanal. Im Prater saßen schnittige Offiziere beim Bier, und in den Schächten der Franzensbrücke lauste man sich gegenseitig.

"Der Polizei kam vor einigen Tagen die Meldung zu, dass sich im Sammelkanale in der Karl-Walder-Gasse in Rudolfsheim eine mehrköpfige Gesellschaft aufhalte, sich dort häuslich eingerichtet habe und auch dort zu übernachten pflege. Auf Grund dieser Mitteilung nahmen Polizei-Agenten und Wachmänner eine Durchsuchung des Sammelkanales vor und es wurden wirklich vier Burschen angetroffen und verhaftet."

So zu lesen in der "Illustrierten Kronen-Zeitung" Nr. 21 vom 13. Jänner 1906. Es waren keine Einzelfälle, wenn jemand im Kanal schlief. Männerwohnheime hatten ebenso Konjunktur wie die berüchtigten Proletarierwohnungen in lukrativen Zinskasernen, in denen ganze Familien auf wenigen Quadratmetern vegetieren mussten, oft unter erbärmlichen hygienischen Bedingungen. Diejenigen, die im Kanal ihrem Tagesgeschäft nachgingen, lebten freilich nicht allesamt dort unten. Es gab wohl ebenso viele, die oben wohnten und unten arbeiteten, wie umgekehrt.

Die Strotter hatten es vergleichsweise noch gut gegen die Fettfischer. In den Kanälen der Stadt lebten diese Entwurzelten wie "Grottenolme", die auch von den Bettlern gemieden wurden. Sie fischten in den Tiefen der Stadt; mittels behelfsmäßig aufgerichteter kleiner Wehre siebten sie das Abwasser der Kanalisation, um auf diese Weise Brocken von Fleisch und Fett, Knochen, Essensreste und Ähnliches zu gewinnen. Was davon für ihre Zwecke zu gebrauchen war, sammelten sie, um es den Seifensiedern für wenig Geld zu verkaufen. Sie mühten sich im Gestank der Kanalisation ab, um das Rohmaterial für die Seife zu fördern, mit der man sich überirdisch die Hälse wusch. Unterirdisch blieben die Hälse dreckig.

Unterwelt - in jeder Hinsicht

Die Sensibilisierung für das unterirdische Wien setzte bereits um das Jahr 1870 ein, und man kann nicht ausschließen, dass durch die Thematisierung der Unterwelt Leute auf diese Quartiermöglichkeiten aufmerksam wurden, die sie zuvor gar nicht in Betracht gezogen hatten. Jedenfalls setzte bald eine romantisierende Verklärung der Unterwelt ein, die freilich mit den Bestattungsgängen unter dem Stephansdom auch ein sehr unheimliches Element bekamen.

Viele Menschen bewohnten zur damaligen Zeit noch mittelalterliche Häuser, deren ausladende Kelleranlagen einen direkten Zugang zu manchen unterirdischen Grabstätten aus den Zeiten von Pest und Türkenkriegen erlaubten. Gerüchte und gewisse Vorfälle taten ein Übriges. Man vermutete unter der Stadt eine weiträumige Fälscherwerkstatt für Banknoten sowie geheime Versammlungsorte der Freimaurer zwischen Schädeln und Gebeinen.

Das Verbrechen stand schon immer in engem Bezug zur Unterwelt, sowohl soziologisch als auch räumlich. In diesem Fall dienten die Kellergänge als Fluchtweg - was sich in der Nachkriegszeit noch lange nicht änderte, weil zwischen den verschiedenen Kelleranlagen Durchbrüche erfolgt waren, um Schutzsuchenden die Flucht zu ermöglichen, falls ein Keller nach Bombentreffern verschüttet sein sollte. Noch heute kann man in vielen Häuserkellern Spuren davon sehen: Die Durchbrüche wurden inzwischen wieder zugemauert, sind jedoch farblich vom umgebenden Mauerwerk zu unterscheiden.

Wo Mord, Totschlag und Grausamkeit in den unterirdischen Weiten der Stadt Wien besonders eindringlich zutage traten, befindet man sich im doppelten Sinne in der Unterwelt.

In den Tiefen der Stadt ereigneten sich immer wieder Morde - sie boten einen abgeschiedenen Tatort und ideale Fluchtmöglichkeiten. Hinzu kommt auch, dass die Bereiche der Kanalisation den Randfiguren der Gesellschaft durchaus vertraut waren, teilweise waren sie sogar ihr Lebensraum. Wenn ein Mensch, der einen gewissen Teil seines Lebens im Kanalnetz verbracht hat, dort einen Mord begeht, verwundert dies kaum. Allen übrigen, die in der Wiener Unterstadt zu Mördern wurden, mag die Umgebung für ihr Unterfangen so geeignet erschienen sein wie anderen ein Wald, ein Steinbruch oder die offene See. Besonders interessant sind die sozialen und historischen Umstände, die psychologischen Hintergründe, die zu den grausamen Taten führten.

Ermordet und zerteilt

So hatte am 1. Dezember 1861 der Schneidergeselle Raimund Lewisch seine Freundin Anna Gangisch ermordet. Er hatte ihr versprochen, sie zu heiraten, lernte jedoch ein anderes Mädchen kennen und wollte nun seine Freundin, derer er überdrüssig geworden war, loswerden. Skrupellos ermordete er sie, zerteilte sie daraufhin und warf die Leichenteile in den Hauskanal der Mölkerbastei. Der skrupellose Mörder ging anschließend in gespielter Sorge selbst zur Polizei, um eine Abgängigkeitsanzeige aufzugeben.

Er teilte dem Kommissar mit, dass er mit seiner Freundin noch in einem Gasthaus gewesen sei. Schon wollte man Lewisch entlassen, als die Leiche der Frau gefunden wurde. Der angeschwemmte Rumpf der Ermordeten wurde im Donaukanal in der Höhe des Kettensteges gefunden, wo sich heute die Salztorbrücke befindet. Anhand der Übereinstimmung des Mageninhaltes musste Lewisch zugeben, dass es sich bei der Leiche wohl um seine ehemalige Freundin handelte.

Dass er ihr Mörder war, verschwieg Lewisch. Beim Abführen nach dem Verhör im Landesgericht erkannte er die Ausweglosigkeit seiner Situation und stürzte sich über das Geländer des Stiegenhauses. Als Schwerverletzter im Spital wurde er geständig. Noch bevor er verurteilt werden konnte, erlag er kurz darauf den Verletzungen, die er sich bei dem Selbstmordversuch zugezogen hatte. Der Mörder, der sich seiner Sache einst so sicher war, hatte nicht damit gerechnet, dass der Hauskanal direkt an jener Stelle mündete, wo man die Leiche entdeckt hatte. In seiner Schneiderwerkstatt fand man später ein Strumpfband der Ermordeten.

Makabrer Fund

Am 4. Mai 1929 ging im Bezirkspolizeikommissariat Hietzing die Meldung ein, dass ein Kanalarbeiter im Wienfluss einen menschlichen Kopf entdeckt hatte. Der Fundort war eine der Staumauern im Wienfluss. Dort gab es Durchflusslöcher mit Stahlscheiben und eine Stangenzugsperre, die dazu dienten, Äste und Holzstücke - und nun auch Köpfe - aufzufangen, damit sie sich nicht an einer anderen Stelle des Flusslaufes verkeilen. Ein herangezogener Gerichtsmediziner nahm die Obduktion vor. Der Kopf wurde vom Schlamm gereinigt und man stellte fest, dass der Mörder den Kopf mit einem scharfen Messer abgetrennt haben musste. Es waren zwei schwere Hiebverletzungen zu sehen. Zunächst vermutete man, dass der Kopf von der Leiche eines Ertrunkenen stamme. Der Verwesungsprozess hätte es erklärlich gemacht, dass, als sich der Leichnam im Fluss irgendwo verfing, der Kopf vom Rumpf getrennt wurde.

Bald war man jedoch überzeugt, dass es sich um einen Mord handeln musste, da zwei bis auf das Gehirn reichende Wunden nur von einem scharfen Messer stammen konnten. Abgängigkeitsanzeigen halfen bei der Identifizierung der Leiche. Es handelte sich um den 65-jährigen Michael Sack, einen alleinstehenden Trafikanten, der als Einzelgänger galt. Er war ein Invalide, ging auf Krücken und trug eine Beinprothese. Sack bezog nicht nur Einkünfte aus seiner Trafik, sondern war nebenher als Bettler tätig. So hatte er sich ein Vermögen angehäuft. Zeit seines Lebens unterhielt er viele Frauenbekanntschaften, war jedoch stets misstrauisch, so dass er nicht gerade beliebt war.

Allein in seiner Trafik gaben sich im Laufe der Zeit rund 40 Verkäuferinnen die Klinke in die Hand. Sack wurde am 28. März 1929 zum letzten Mal lebend gesehen, als er mit zwei unbekannten Frauen eine Gaststätte besuchte. Rund zwei Wochen, nachdem man seinen Kopf im Wienfluss entdeckt hatte, fand man seinen verwesten Rumpf im Mühlbach in Hütteldorf. Der Leiter der Ermittlungen erhoffte sich durch diese Entdeckung Anhaltspunkte auf den oder die Täter, doch der Fall konnte bislang nicht aufgeklärt werden.

Obwohl die Fettfischer im Regelfall den Kontakt zur Obrigkeit nicht gerade suchten und daher mancherlei "Fang", der ihnen ins Netz gegangen war, für sich behielten, wandten sich drei von ihnen am 10. April 1932 an die Polizei. Ihnen waren, als sie ihrem armseligen Tagwerk nachgingen, insgesamt etwa 280 menschliche Fleischteile in ihre Anlagen im Simmeringer Hauptkanal beim Donaukanal geraten, die klar erkennen ließen, dass es sich um eine zerstückelte Leiche handelte. 80 Brocken handtellergroße Fleischstücke, die sich als Leichenteile von der Bauchdecke einer korpulenten Frau identifizieren ließen, wurden nacheinander dort angeschwemmt.

Statt zum Seifensieder gelangte das Konvolut in die Gerichtsmedizin. Nach einer Großfahndung meldete sich ein Hilfsarbeiter, der seit einiger Zeit seine Freundin, die Büglerin Maria Walter, vermisste. Aufgrund der Körpermerkmale konnte er die Frau identifizieren. Nun war der Weg der Kriminalisten zur Schwester der Toten und deren Lebensgefährten, dem 38-jährigen Hilfsarbeiter Franz Gruber, nicht mehr weit. Sowohl in der Wohnung der Ermordeten als auch in der Wohnung Grubers konnten reichlich Blutspuren sichergestellt werden. Bei den Ermittlungen ergab sich, dass der Verdächtige mit den beiden Schwestern ein Dreiecksverhältnis unterhalten hatte. Als er Maria Walter loswerden wollte, erdrosselte der bereits 18-mal Vorbestrafte die Frau. Als ein Verbrennen der zerstückelten Leiche misslang, zerkleinerte er die Leichenteile weiter und warf sie nacheinander in den Kanal. Die Schwester wusste von dem Vorhaben und beging nach der Klärung des Verbrechens Selbstmord. Der Täter wurde zu 20 Jahren schweren Kerkers verurteilt und verstarb 1942 in einer Strafanstalt.

"Zu unserem nächsten Fall schalten wir um nach Wien - bitte, Peter Nidetzky . . ." - wie oft hat man die Überleitung ins ORF-Sendezentrum in dieser oder ähnlicher Weise schon gehört, und wie oft stand Wien im Brennpunkt des internationalen Drogenschmuggels, der Bandenkriminalität oder des heimtückischen Mordes.

In einem dieser Fälle ging es unblutig zu, und der Zuschauer war von der

gewissenhaften Vorbereitung und arbeitsreichen Durchführung eines großangelegten Juwelenraubs durchaus fasziniert.

Da suchen unbekannte Männer ein Juweliergeschäft im 9. Bezirk auf und fangen an, es mittels Regenschirmen zu vermessen. Und nicht nur im Verkaufslokal, sondern auch auf der Straße müssen die Täter oft Schritte gezählt und Entfernungen gemessen haben. Es gelang ihnen schließlich, durch die Kanalisation einzusteigen und mehrere Mauern zu durchbrechen.

Ihr Weg, den sie mitsamt ihrem schweren Arbeitsgerät per Schlauchboot zurücklegten, führte sie schließlich durch verschiedene Häuserkeller bis an den Ort, der nur noch durch den Fußboden vom Juweliergeschäft getrennt war.

Als sie auch dieses letzte Hindernis überwunden hatten, befanden sie sich jenseits des Alarmsystems hinter dem Verkaufstisch des Geschäfts; genau an der Stelle also, wo sie einfach nur noch die Schubladen aufzuziehen und tüchtig einzusammeln brauchten.

Selbstverständlich geht die Bedeutung der Angelegenheit über die Tageskriminalität einer Einbrecherbande weit hinaus. Hier zeigt sich, dass die Wiener Unterwelt sich zu Zeiten darauf besinnt, dass sie vom Untergrund aus effizient operieren kann. Mehr noch: Hier griffen Leute zu, die in einer jahrhundertelangen Tradition dem Kanalsystem als Heimstatt des Verbrechens zuzurechnen sind. Und auch wenn dieses Delikt natürlich als Straftat keinerlei Billigung verdient, so kommen wir doch nicht umhin, die Ortskenntnis und Präzision der Täter anzuerkennen - eine Präzision, der letztlich zu verdanken ist, dass keine Menschen zu Schaden gekommen sind.

Besonders dreist an dem Vorgehen der Täter war die Tatsache, dass sich das Verbrechen praktisch vor der Tür des zuständigen Kommissariats zugetragen hat.

Kein Wunder, dass ausgerechnet das Wiener Kriminalmuseum teilweise unterirdisch angelegt ist, denn so wird es seinem Anspruch, die Unterwelt zu zeigen, in zweifacher Hinsicht gerecht. Das auf wissenschaftlicher Basis gegründete Museum wurde 1991 neu eröffnet.

Gezeigt werden unter anderem originale Tatwerkzeuge wie beispielsweise Revolver, Messer, Feilen und Äxte sowie Beweisstücke verschiedenster Art, die schon zuvor im ehemaligen Polizeimuseum gesammelt worden waren.

Museum des Grauens

Wenn man durch die eng konzipierten Räume des Museums geht, ist man vielleicht von den antiquierten Revolvern, verrosteten Messern, ramponierten Totschlägern, aber auch von den Gesichtsmoulagen der Opfer mit teilweise entsetzlichen Verletzungen schockiert. Die meisten Besucher in den Ausstellungsräumen schweigen. Stufen führen in den Keller. Wirklich unter die Haut gehen die vergrößerten Fotos der gefundenen und verstümmelten Leichen.

Negativ anheimelnd ist der ausgestellte Wäschekorb, indem einst eine zerstückelte Leiche lag. Auch die großen Schwarz-Weiß-Fotos diverser Leiche auf den Seziertischen oder in einer Blutlache in einer schäbigen Wohnung um die Jahrhundertwende gehen unter die Haut. Das Personal des Museums berichtet von feixenden Schulklassen, die nach erfolgter Besichtigung still und bedrückt den Heimweg antraten, und auch uns liegt ein Kloß im Magen. So deutlich und schonungslos wie hier ist das Verbrechen anderswo kaum zu sehen.

Römerstraße und U-Bahn

Streiflichter einer unterirdischen Stadt - auch wenn einiges davon mittlerweile zu den touristischen Attraktionen gehört, liegt doch das meiste davon unentdeckt im Erdreich verborgen. Ab und zu tritt etwas davon ans Tageslicht, wenn beispielsweise eine Heizung in den Boden des Stephansdoms eingebaut wird und man dabei ein Grab findet, anhand dessen das sakrale Bauwerk umdatiert werden muss; oder wenn die U-Bahn nach Simmering vorgetrieben wird und man dabei auf die stummen Zeugen der alten Römerstraße nach Ungarn trifft.

Eine Reise in den Untergrund der Stadt lohnt sich auf jeden Fall: Ob nun im Rahmen einer Fackeltour durch das Kanalnetz oder auf den Spuren längst verstorbener Bürger bleibt dem Gusto des Reisenden überlassen.

Die Donaumetropole Wien in einer Weise zu zeigen, die jene Bereiche ins Licht rückt, die unter der Oberfläche verborgen liegen, haben sich Alexander Glück, Peter Ryborz und Marcello La Speranza zum Ziel gesetzt. Was sich unterhalb der sichtbaren Stadt in der Tiefe des Bodens befindet, wurde erkundet, beschrieben und fotografiert. Auf diese Weise kam Material zusammen, aus dem in Form eines historisch angelegten Bildbandes eine Geschichte Wiens aus bislang unbekannter Perspektive präsentiert werden soll. Das Buch "Unter Wien" wird im Mai 2001 im Berliner Ch. Links-Verlag erscheinen, der sich bereits mehrfach unterirdischer Themen angenommen hat.

Freitag, 30. März 2001

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