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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Zum Tod des Biologen Ernst Mayr, der im Alter von 100 Jahren verstorben ist

Ein großer Liebhaber der Natur

Von Peter Markl

Manchmal fällt es schwer, seinen Augen zu trauen, aber es muss wohl stimmen, wenn sich die Meldungen häufen. Erst kürzlich war wieder in der "New York Times" zu lesen, dass die amerikanische Kreationisten nach dem Wahlsieg von George W. Bush die Reihen so dicht geschlossen haben, dass ein Klima entstand, in dem es Biologielehrer ratsam finden, das heiße Thema "Evolution" erst gar nicht aufzugreifen.

Selbst in den Staaten, in denen die Kreationisten bei ihren Versuchen, die Lehrpläne zu purgieren, noch nicht erfolgreich waren, verzichten viele Lehrer auf die Evolution als Unterrichtsgegenstand, weil es in den Gemeinden "einfach zu viel Ärger gibt". Es fällt Lehrern immer schwerer, zu verhindern, dass die Unterrichtsstunden in den High-School-Klassen der Diskussion religiöser Spinnereien geopfert werden. Immer häufiger vergeht Zeit mit dem Versuch, Eltern gegenüber zu begründen, warum im Biologieunterricht nicht auch die Idee diskutiert wird, dass Gott Eva aus einer Rippe Adams schuf - bevor er Adam die Rippe wieder ersetzte und Evas Chromosomen entsprechend adjustierte; oder warum hartnäckig unterschlagen wird, dass sich in Noahs Arche selbstverständlich auch ein Dinosaurier befunden hat.

Die Argumente der Kreationisten haben sich gewandelt. Seit 1989 ist ein kaschiertes Update der alten Slogans in Mode. Es lautet: "Intelligent Design". Da wird auf Gott oder Religion kein direkter Bezug mehr genommen. Man behauptet einfach, dass die Biosphäre in ihrer Zusammensetzung mit all ihren Wechselwirkungen so komplex sei, dass es einfach lächerlich sei, die Welt als Produkt von Zufall und Notwendigkeit hinzustellen. Es sei vielmehr ein intelligenter Planer am Werk gewesen.

Als man vor zwei Jahren von Ernst Mayr - dem letzten Überlebenden der Generation, welche die moderne synthetische Evolutionstheorie schuf - wissen wollte, ob die Evolutionstheorie je außer Streit stehen würde, antwortete der damals 97-Jährige: "Ehrlich gesagt: Ich bin nicht sehr optimistisch. Die großen Grundzüge der Theorie sind jetzt seit mehr als 50 Jahren gut erforscht. Sie wurden in Colleges und sogar bereits vorher auf den High Schools unterrichtet, und die Studenten hören das und erzählen dann trotzdem weiter, was sie im Religionsunterricht und den Kirchen gehört haben, als ob es keine Wissenschaft gäbe". Er hatte dafür keine höfliche Erklärung.

Er selbst hat nie aufgehört, dagegen zu kämpfen. Immer wieder versuchte er, die Grundzüge der Evolutionstheorie ohne verwirrende Einzelheiten einfach und klar vorzustellen - zuletzt in seinem faszinierenden, meisterhaften schmalen Band: "Das ist Evolution". Jetzt kam die Meldung von der Harvard-Universität, dass Ernst Mayr am 3. Februar, sechs Monate nach seinem 100. Geburtstag, nach kurzer Krankheit gestorben ist. Er war eine monumentale, überragende Figur - im Hinblick auf seine umfassende Sicht der Evolutionsbiologie unter den heutigen Biologen sicher derjenige, der Darwin am nächsten kam. Man wird seinesgleichen nicht mehr sehen.

Er hat an die 25 Bücher geschrieben (oder herausgegeben) und als Autor (oder Mitautor) zwischen 600 und 700 wissenschaftliche Veröffentlichungen verfasst - 200 davon übrigens nach 1975, als er schon pensioniert worden war. Er hat wissenschaftliche Zeitschriften gegründet, wie "Evolution", die zu einer zentralen Plattform der Evolutionsforschung wurde. Er hat alle renommierten Preise gewonnen, die an Biologen vergeben werden: den Balzan-Preis (1983), den Internationalen Preis für Biologie (1994) und den Crafoord Preis (1999).

Eine Quelle von Ideen

Als ihn ein Reporter einmal mehr mit der Standardfrage überfiel, warum er denn noch keinen Nobelpreis habe, wies er geduldig darauf hin, dass es keinen Nobelpreis für Biologie gäbe, fügte aber hinzu, dass nicht einmal Darwin einen Nobelpreis bekommen hätte, wenn er nach derart von der Physik infizierten Kriterien vergeben würde wie die anderen naturwissenschaftlichen Nobelpreise.

Niemand hatte Mayr je in Verdacht, ein unterentwickeltes Ego zu besitzen. Er selbst hat sich im Alter gelegentlich gewundert, mit welcher Unverfrorenheit er sich schon in seiner Jugend in die Diskussion eingemischt hatte, wenn es ihn störte, was einer der ausgewiesenen Fachvertreter zu einem ihn interessierenden Problem von sich gab. Er war eine unerschöpflich scheinende Quelle von Ideen, hatte zu schlechthin allen Problemen, die in der Evolutionsbiologie in den letzten 80 Jahren umstritten waren, eine explizite Meinung, die er stets provokativ in den Raum stellte, so dass er immer wieder in polemische Infights verstrickt war.

Falls man unter einem Akademiker jemanden versteht, der leidenschaftslos sorgfältig ausgewogene Statements von sich gibt, dann war Ernst Mayr keiner. Er ist keinem Streit aus dem Weg gegangen. Im ersten Kapitel seines großen Buchs über die Geschichte der Ideen zur Evolutionsbiologie schrieb er: "Meine Taktik besteht darin, kategorische 'sweeping statements' zu machen. Man kann darüber verschiedener Ansicht sein, ob das in einer freien Welt mit unbehindertem Austausch wissenschaftlicher Ideen ein Fehler ist. Ich aber habe das Gefühl, dass es schneller zu einer gültigen Lösung wissenschaftlicher Probleme führt, als ein vorsichtiges Herumsitzen am Zaun des Turnierplatzes. Was über Geschichte geschrieben wird, sollte sogar polemisch sein. Derart geschriebene Geschichte wird Widerspruch hervorrufen und die Leser zu einer Widerlegung herausfordern. Dadurch wird in einem dialektischen Prozess die Synthese einer neuen Sicht eines Problems beschleunigt. Man darf das unzweideutige Einnehmen eines klar definierten Standpunkts jedoch nicht mit Subjektivität verwechseln."

Für die Leser ist diese Art der Geschichtsschreibung ein ziemlich sicheres Mittel gegen Langeweile, auch wenn sich - gerade bei Ernst Mayr - die beschriebenen Akteure in ihren Rollen nicht immer wiedererkannten. In seinen letzten Jahren feuerte er gelegentlich wahre Breitseiten gegen andere Biologen ab - vor allem, wenn sie von der Physik kamen und mathematische Methoden anwandten. Ernst Mayr war nicht bereit, das zu verzeihen. Er hat zwar die überragende Leistung des großen englischen Evolutionstheoretikers John Maynard Smith anerkannt, aber kritisch angemerkt, dass Maynard Smith letztlich in seinem Denken doch ein mathematischer Ingenieur geblieben sei.

Er selbst war der Prototyp des "organismischen" Biologen, Naturliebhabers und passionierten Vogelbeobachters. Als Watson und Crick 1953 die Struktur der DNA klärten, war Ernst Mayr als einer der Väter der "synthetischen Evolutionstheorie" bereits eine Zelebrität. Damals begann in der Biologie die große Zeit der Molekulargenetik und die organismischen Biologen, die vor dem das Feld dominiert hatten, mussten um ihre akademischen Positionen kämpfen, weil die zunehmend mit Molekularbiologen und Molekulargenetikern besetzt wurden.

An der Harvard-Universität hatten diese Auseinandersetzung eine besondere Färbung: da stand ein Feldlager organismischer Biologen um Ernst Mayr gegen die Fraktion um den gerade nobelpreisgekrönten James Watson. Die persönlichen Beziehungen der beiden waren friedvoller: Watson hatte sich in Christa, eine der Töchter Ernst Mayrs, verliebt. Für Watson war das Ereignis von solchem Gewicht, dass er es noch 2002 für notwendig fand, in seiner Autobiographie eine nichtssagende Postkarte von Christa zu reproduzieren. (Eine amerikanische Rezensentin hat Christa Mayr später dazu gratuliert, dass die beiden nicht auf Dauer ein Paar wurden).

Mühelose Leichtigkeit

Wer die Bedeutung von Ernst Mayrs Beiträgen zur Evolutionsbiologie verstehen will, muss sie im Kontext der Entwicklungen in den letzten 80 Jahren sehen; auch um bewundern zu können, wie sehr der Hundertjährige diese Entwicklungen rezipiert hat. Als seine letzte Zusammenschau der Evolutionstheorie erscheinen war, schrieb Mark Ridley, einer der prominentesten jüngeren Evolutionsforscher, über den fast Hundertjährigen: "Er erklärt die Mechanismen des evolutionären Wandels - Themen wie die natürliche Selektion oder die Mechanismen der Bildung neuer Arten. Er demonstriert geradezu die mühelose Leichtigkeit, mit der er die Geschichte der Wissenschaft skizziert, eingebettet in den großen begrifflichen Kontext. Noch erstaunlicher aber, wie up to date er ist. Er scheint über die jüngsten Forschungsresultate nicht anders nachzudenken als irgendeiner unserer Studenten am Ende seiner Ausbildung."

Organismische Biologen haben noch heute großen Respekt vor Mayrs Arbeiten zur Philosophie der Biologie, die alle dem Ärger über die Dominanz von Vorstellungen, die der Philosophie und Wissenschaftstheorie der Physik entlehnt waren, entsprungen zu sein scheinen. Trotzdem muss man sagen, dass dieser Teil seiner Arbeiten in den letzten 20 Jahren am schnellsten gealtert ist. Er hat dabei auch unglückliche Begriffe ins Feld geführt - am irreführendsten war vielleicht seine immer wieder aufgegriffene Formel von der "Autonomie der Biologie". Man hat das immer wieder so missverstanden, als ob die Biologie von etwas handele, das physikalisch nicht erklärbar wäre. Dabei wollte Mayr nur darauf aufmerksam machen, dass die Biologie vor allem komplexe Systeme behandelt, die eine Geschichte haben, ohne deren Berücksichtigung wesentliche Aspekte ihres Systemverhaltens nicht verstanden werden können. Was da unvereinbar scheint, sind nur die Sprachen, in denen man in der Wissenschaft über Systeme verschiedener Komplexität (mit verschiedenen emergenten Eigenschaften) redet. Ernst Mayr hat sicherlich mit vielen Klarstellungen zur Philosophie und zur Wissenschaftstheorie der Biologie beigetragen. Er konnte in den letzten Jahren noch erleben, dass eine neue Generation von kompetent Biologie betreibenden Philosophen und kompetent philosophierenden Biologen die Disziplin auf ein Niveau gehoben hat wie nie zuvor - und er hat sich darüber gefreut.

Viele Biologen sind heute der Ansicht, dass Ernst Mayrs bahnbrechende Arbeiten über den Begriff der biologischen Art und die Mechanismen der Artbildung seinen wichtigsten Beitrag zur Evolutionsbiologie darstellen dürften. Seine Ansichten unterschieden sich radikal von denen Darwins radikal, und sie werden heute von fast allen Biologen als Meilensteine anerkannt - auch wenn ihnen nicht mehr die Bedeutung zugebilligt wird, die Mayr ihnen zuschrieb.

In der Tat spielte Mayr bei der Entstehung der modernen synthetischen Evolutionstheorie eine herausragende Rolle. Karl Popper - übrigens ein Freund Mayrs - hat sich mit dem Charakter der Evolutionstheorie ein Leben lang herumgeschlagen und dabei seine Meinungen dazu immer wieder geändert. Popper hat vor allem darüber nachgedacht, was die Evolutionstheorie von einer physikalischen Theorie wie etwa der Quantentheorie unterscheidet: Was man "Evolutionstheorie" nennt, besteht nicht aus Gesetzen, die ohne Ausnahme überall und jederzeit gültig sind. Sie gleicht eher einem Rahmen, in den spezifischere Theorien eingefügt werden.

Ernst Mayr hat erkannt, dass schon Darwins Evolutionstheorie aus fünf unabhängigen Theorien bestand und nicht - wie Darwin selbst meinte - ein einziges langes Argument war. Zwei dieser Theorien waren schon von Darwins Zeitgenossen akzeptiert worden: Sie zweifelten nicht mehr am Wandel der Arten (an der "Nicht-Konstanz der Spezies", wie das Darwin nannte), und auch nicht daran, dass alle Lebwesen einen gemeinsamen Ursprung haben.

Die entscheidende Synthese

Die Theorien von einer Evolution in kleinen Schritten, vom Auftreten einer immer größeren Zahl von Arten und von der natürlichen Auslese wurden nur von einer Minderheit der Zeitgenossen Darwins akzeptiert. Erst Ende der 1940er Jahre setzen sie sich in der Wissenschaft allgemein durch. Vorher existierte ein Konglomerat von Forschungsgruppen, die jeweils nur in Grenzen von der Arbeit der anderen wusste. Ernst Mayr hat diese Forschungslandschaft aus einer Art Vogelschau beschrieben: Da gab es Gruppen, die ein Problem schon gelöst hatten, ohne dass andere Gruppen davon erfahren hätten. Mayr kannte in den vergangenen 80 Jahren fast alle Hauptakteure aus den verschiedenen Gruppierungen.

Die entscheidende Synthese war aber die Zusammenschau der Arbeiten, vor allem von Theodosius Dobzhansky, Ernst Mayr, Julian Huxley, George Simpson, Berhard Rensch und Ledyard Stebbins. Eine Art Konsens bildete sich heraus und wurde - vor allem in den Büchern Dobzhanskys, Mayrs und Huxleys - niedergeschrieben.

Mittlerweile haben Wissenschaftshistoriker das Geflecht von Beziehungen, in dem diese Synthese geboren wurde, wiederholt analysiert. Wie eine Anekdote illustriert, kann man sich bei solchen Versuchen jedoch leicht irren: Als Ernst Mayr und der Paläontologe G. Simpson an den Ideen arbeiteten, welche später in die "neue Synthese" eingingen, waren sie beide am New Yorker "Museum of Natural History" angestellt. Fast 20 Jahre lang saßen sie mittags zusammen mit anderen Kollegen am Tisch, der den Angestellten reserviert war und beide bestätigten, dass sie in diesen Jahren nie über Biologie gesprochen haben!

Zu seinem 100. Geburtstag hat Ernst Mayr für die Zeitschrift "Science" einen Essay über 80 Jahre Arbeit an der Evolutionsbiologie geschrieben. Er führte darin aus, dass die neuen Methoden der Genetik auch neues Licht auf die Evolutionsmechanismen werfen würden. Und er schloss seine Überlegungen mit dem Satz: "Ich bedaure nur, dass ich nicht mehr da sein werde, um mich über die neuen Entwicklungen zu freuen."

Literatur: Ernst Mayr: Das ist Evolution. C. Bertelsmann Verlag, München, 2001.

  • : 80 Years of Watching the Evolutionary Scenery. In: "Science", 2. Juli 2004, S. 46-47.

Freitag, 18. Februar 2005

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