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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Die irritierende Nähe von Geschäftsinteressen und akademischer Forschung / Von Peter Markl

Weitreichende Verflechtungen

Das Thema schwelt seit langem, aber in den letzten Monaten ist es immer häufiger auch in der internationalen Presse aufgetaucht und das selbst in Zeitungen, die nicht im Verdacht stehen, dem Venture-Kapitalismus grundsätzlich ebenso ablehnend gegenüber zu stehen wie allen anderen Formen der Dominanz des Kapitals: Am selben Tag - dem 16. August 2000 - erschienen sowohl in der "New York Times" als auch der "Neuen Zürcher Zeitung" Artikel, die sich sehr kritisch mit dem Einfluss der Pharmaindustrie auf die klinische Medizin befassen. Akademische Werte und Shareholder-Values mischen sich so schlecht, dass es für die Öffentlichkeit immer schwieriger wird, an die Objektivität der Wissenschaft zu glauben.

Die Symptome sind nur zu offensichtlich: Das "New England Journal of Medicine" ist die beste Medizin-Zeitschrift der Welt. Marcia Angell hatte dort 21 Jahre lang gearbeitet, in den letzten Jahren als Chefredakteurin. Im Frühsommer, als sie die Altersgrenze erreicht hatte, ging sie in Pension. Vorher aber schrieb sie eine Reihe von Leitartikeln, welche ein Schlaglicht auf die heutige Situation werfen. Das "New England Journal of Medicine" war die erste wissenschaftliche Zeitschrift, die von den Autoren ihrer Originalartikel verlangte, alle finanziellen Verbindungen zu Firmen, deren Produkte in dem Artikel zitiert werden, offen zu legen. Das erzwingt mittlerweile absurd erscheinende Lösungen: Die Autoren eines Artikels über die Behandlung von Depressionen hatten so weitreichende Verflechtungen mit Pharmafirmen, welche Antidepressiva herstellen, dass die Redaktion beschloss, darauf nur in einigen allgemeinen Sätzen hinzuweisen und alle Details nur auf der Website der Zeitschrift anzuführen.

Wenn in der Zeitschrift Übersichts-Artikel oder Leitartikel erscheinen, sind in Bezug auf die Offenlegung von Interessen die Auflagen für die Autoren aus guten Gründen noch strikter. Das hat zu in diesem Ausmaß nicht erwarteten Schwierigkeiten geführt. Als man einen Übersichtsartikel über Antidepressiva plante, war in den USA kein einziger renommierter Autor aufzutreiben, der mit der Pharmaindustrie nicht so weitgehende Beziehungen hatte, dass er als Autor nicht mehr in Frage kam. (Man hat dann in Schottland einen kompetenten Autor gefunden, der alle Anforderungen erfüllte.)

Fragwürdige Beziehungen

Nicht nur in den USA gehen heute die Verbindungen vor allem der klinischen Mediziner oft weit darüber hinaus. Es geht nicht mehr nur um die finanzielle Unterstützung von Forschungsprojekten, sondern um ein ganzes Spektrum von finanziellen Arrangements. Marcia Angell schreibt dazu: "Forscher arbeiten als Konsulenten von Firmen, deren Produkte sie untersuchen, sind Mitglieder von Beiräten, haben gemeinsame Patente und Absprachen über Patenterträge, sie stimmen zu, als Autoren von Artikeln angeführt zu werden, welche Ghostwriter der interessierten Formen verfasst haben, sie machen auf Symposien, die von den Firmen gesponsert werden, Reklame für deren Pharmaka und erlauben ihnen, sie durch teure Geschenke und Luxusreisen zu verwöhnen. Viele von ihnen haben auch selbst Anteile an den Aktien der Firmen.

Obwohl die meisten Medizinfakultäten der amerikanischen Universitäten Richtlinien haben, welche die finanziellen Verbindungen zwischen den Fakultätsmitgliedern und der Industrie regeln, sind diese Regeln doch wenig einschränkend und sie werden das in Zukunft wahrscheinlich immer weniger sein. So hat es zum Beispiel die Harvard-Universität, die auf ihre ungewöhnlich strikten Regelungen immer stolz war, ihren Forschern verboten, mehr als 20.000 Dollar in Aktien von Firmen zu besitzen, deren Produkte sie untersuchen. Jetzt aber ist man dabei, diese Richtlinien aufzulockern, wobei betont wird, dass Modifikationen notwendig geworden seien, um zu verhindern, dass die Stars unter den Fakultätsmitgliedern zu anderen Schulen abwandern."

Objektivität umstritten

Marcia Angell schließt einen Leitartikel mit dem provokanten Titel: "Wem ist eigentlich die Pharmaindustrie verantwortlich?" mit den Sätzen: "Die Pharmaindustrie ist außerordentlich privilegiert. Sie zieht aus öffentlich finanzierter Forschung außerordentliche Vorteile, erhält Steuererleichterungen und erntet große Gewinne. Deshalb, und auch weil ihre Produkte für die öffentliche Gesundheit von so entscheidender Bedeutung sind, sollte sie nicht nur ihren Aktienbesitzern, sondern darüber hinaus der ganzen Gesellschaft gegenüber verantwortlich sein."

Besonders deutlich werden die Interessengegensätze zwischen den Firmen und den akademischen Forschern bei der klinischen Erprobung von Medikamenten. Die "Neue Zürcher Zeitung" schreibt dazu: "In den vergangenen Jahren hat sich diese Zusammenarbeit verändert. Vor allem ist sie komplizierter geworden. Einerseits sind die Richtlinien für klinische Studien drastisch verschärft worden, andererseits muss alles immer schneller gehen, denn jeder Tag, der bis zur Registrierung verstreicht, bedeutet für die Firmen Extrakosten. So entwickeln heute die schnellsten Unternehmen ein neues Medikament in weniger als vier Jahren - früher lag der Schnitt bei zehn bis zwölf Jahren. Eine einzige Substanz verschlingt bis zu ihrer Markteinführung rund eine halbe Milliarde Dollar."

Akademische Forschungsinstitutionen, die ja auch noch lehren müssen, können mit dem gewünschten Tempo nicht mehr Schritt halten. Man braucht heute - je nach Substanz - bis zu mehreren Tausend Probanden; die an einem einzigen Forschungszentrum nicht aufzutreiben sind.

Es ist daher notwendig, mehrere Forschungszentren zu koordinieren, was die administrativen Aufgaben bei der Durchführung einer großen klinischen Studie so weit erhöht, dass die Firmen mit der Organisation der Durchführung und Überwachung der klinischen Tests vielfach die Hilfe von externen Firmen in Anspruch nehmen.

Es sind besonders diese "Contract Research Organisations" (CRO), die im Mittelpunkt der Kritik stehen. Sie leben ausschließlich von Industrieaufträgen. Thomas Bodenheimer hat über den Missbrauch der Wissenschaft durch manche dieser Firmen im "New England Journal of Medicine" einen bestürzenden Bericht geschrieben.

Viele Kritiker dieser Institutionen sind der Ansicht, dass in Hinkunft ein Vertrag zwischen Industrien und Forschern regeln muss, wie die Studienresultate analysiert und publiziert werden.

In der Industrie beginnt man angesichts solcher Kritik in zunehmendem Ausmaß einzusehen, dass mehr Transparenz nicht unausweichlich auch schon einen finanziellen Nachteil mit sich bringen muss - eine Ansicht, welche der Vorsitzende von Glaxo-Wellcome bereits vor zwei Jahren im "British Medical Journal" deponiert hat. Es muss jedenfalls zum Grundsatz gemacht werden, dass die Kontrolle über die Daten und deren Publikation allein den Forschern überlassen bleibt.

Zu hoher Leistungsdruck?

Der große Leistungsdruck, der auf den akademischen Forschern lastet, hat auch gerade in der biomedizinischen Forschung dazu geführt, dass die akademischen Standards in der letzten Zeit immer häufiger verletzt wurden.

Natürlich hat es auch früher schon Fälle von Betrug oder Schwindel in der Wissenschaft gegeben - in dieser Kolumne war immer wieder auch davon die Rede. Doch das waren zumeist Einzelfälle. Sie hatten als Selbsttäuschung begonnen und erst in der Not, sich verteidigen zu müssen, die strafrechtlichen Grenzen überschritten. Was jetzt diskutiert werden muss, geht weit darüber hinaus und lässt sich nur mehr dadurch plausibel machen, dass man vor einem bisher nie aufgetretenen Versagen des Qualitätskontrollsystems steht.

Wie sonst soll man erklären, was drei Gutachter von der Universität Würzburg fanden, welche die Arbeiten von Friedhelm Hermann, bisher einer der angesehensten deutschen Krebsforscher, auf ihre Seriosität hin sichteten. Hermann hatte an den Universitäten Mainz, Freiburg und Ulm und am Berliner Max-Delbrück-Zentrum für Molekulare Medizin gearbeitet. Von 347 Arbeiten konnten nur 132 von einem anfangs bestehenden Verdacht auf Verstöße gegen die ethischen Standards der Wissenschaft befreit werden. Jenseits von 94 Arbeiten, bei denen Manipulationen als erwiesen gelten, gab es noch eine breite Grauzone von 121 Arbeiten, unter denen die Kommission weitere Fragwürdigkeiten vermutet.

Brisante Schwachstellen

Das Versagen der Qualitätskontrolle ist gerade in den biomedizinischen Fächern von besonderer Bedeutung, da es diese Fächer sind, welche in den nächsten Jahrzehnten besondere ethische Fragen aufwerfen - durch die neuen Möglichkeiten der Gendiagnostik sowie alles das, was infolge der Aufklärung des menschlichen Genoms und die Anfänge des Einsatzes von embryonalen und anderen Stammzellen an Therapiemöglichkeiten in Reichweite kommt:

Hier - wie selten vorher - ist für die unumgängliche öffentliche Diskussion objektive Information notwendig. Es geht nicht nur darum, dass der mit der Jagd nach Finanzierungsmöglichkeiten für geplante neue Forschungsprojekte verbundene Leistungsdruck immer häufiger Forscher korrumpiert, sondern auch darum, dass sich die Korruption auch auf die Institutionen auszuweiten droht, welche die eigentlichen Wächter über wissenschaftliche Objektivität sind.

Es war Karl Popper, der immer wieder darauf aufmerksam machte, dass die Wissenschaft sicher nicht so erfolgreich wäre, wenn ihr Erfolg allein davon abhinge, wie objektiv die einzelnen Wissenschaftler sind. Die "Objektivität" der Wissenschaft ist nicht in erster Linie die Objektivität der einzelnen Wissenschaftler, sondern das Resultat der institutionell abgestützten wechselseitigen Kritik der Wissenschaftler. Erst diese sozialen Institutionen erzwingen jene Kritik, welche die Wissenschaft für die Gesellschaft wertvoll machen, auch wenn die einzelnen Wissenschaftler fehlbar sind wie alle anderen Menschen auch. Es sind soziale Institutionen wie wissenschaftliche Gesellschaften, konkurrierende wissenschaftliche Zeitschriften oder eben das ganze System der Qualitätskontrolle, welche die öffentliche, kritische Diskussion fördern und so entscheidend dazu beitragen müssen, wissenschaftliche Werte wie die Wahrheitsnähe einer Theorie von immer präsenten nicht-wissenschaftlichen Werten wie der Relevanz eines wissenschaftlichen Ergebnisses für eine bestimmte Ideologie oder die Notwendigkeit, die wissenschaftliche Basis für einen neuen Projektantrag zu werden, zu trennen.

Erst durch die informierte öffentliche Diskussion können verbliebene Reste von Voreingenommenheit, ideologische Verzerrungen und Irrtümer aus der Diskussion eliminiert werden. Jetzt aber drohen die heutigen Trends gerade in den brisantesten Forschungsgebieten in steigendem Ausmaß nicht nur die einzelnen Forscher zu korrumpieren, sondern auch genau die wissenschaftlichen Institutionen auszuhöhlen, welche Offenheit und kritische Diskussion fördern sollen.

Literatur:

Marcia Angell: Is Academic Medicine for Sale? New England Journal of Medicine, 18. Mai 2000; The Pharmaceutical Industry - to Whom is it Accountable? New England Journal of Medicine, 22. Juni 2000.

Thomas Bodenheimer: Uneasy Alliance - Clinical Investigators and the Pharmaceutical Industry. New England Journal of Medicine, 18. Mai 2000.

Freitag, 08. September 2000

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