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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Neuere Daten lassen vermuten, daß die Besiedlung Amerikas

schon vor über 30.000 Jahren begann

Alte Wege in die Neue Welt

Von Peter Markl

Der Legende nach schien wenigstens soviel sicher: Als Christoph Kolumbus und seine Mannschaft vor nunmehr bereits mehr als einem halben Jahrtausend an Land gingen, waren sie die ersten
Europäer, welche ihren Fuß auf amerikanisches Land setzten. Die Details sind aber auch heute noch unklar. Man weiß nicht genau, wo das gewesen sein soll · mehr als ein halbes Dutzend Inseln kommen in
Frage. Und auch der Ort, wo Kolumbus die erste Siedlung gründete, ist immer noch umstritten. La Navidad, wo er die gestrandete Santa Maria am Weihnachtsabend 1492 zurückließ, ist wahrscheinlich
En Bas Saline an der Nordküste Haitis und ein sehr guter Kandidat.

Die ersten Europäer in Amerika waren Kolumbus und seine Mannen jedoch sicher nicht: Die Wikinger waren ihnen zuvorgekommen. Archäologen haben durch Ausgrabungen in Neufundland (Lanse aux Meadows)
bestätigt, was die Historiker seit langem vermutet hatten: Die Wikinger waren dort zwar gelandet, hatten aber · warum, ist wiederum ein Rätsel · keinen Versuch gemacht, „Vinland" zu kolonisieren.

Bis zu Kolumbus gibt es nur sehr spärliche Belege für eine zeitweilige Anwesenheit von Europäern in Amerika. Erst mit ihm begann die systematische Erkundung und Kolonisierung Amerikas. Es war
geradezu das Modell eines cultural clash, wie er heute gar nicht mehr möglich ist: da stießen zwei Kulturen aufeinander, die voneinander wirklich nichts gewußt hatten. Die Spanier begannen,
ihre Landkarten neu zu zeichnen und die eingeborenen Amerikaner sahen in der Landung die Rückkehr der Götter.

Auf die naheliegende Frage, woher die eingeborenen Amerikaner kamen, fand man reichlich prosaische Antwort: Sie kamen zu Fuß aus Sibirien · eine Erklärung, auf die man erst stieß, nachdem man
herausgefunden hatte, daß in der Eiszeit zwischen Sibirien und Alaska eine Landbrücke bestand, welche heute im Meer versunken ist. Diese Landbrücke sollen kleine Gruppen von „Clovis"-Jägern auf der
Verfolgung von Großwild überquert haben. Man stellte sich diese ersten Amerikaner bald als würdige Vorläufer der harten Männer der heutigen Legende von den amerikanischen Pionieren vor: Technologisch
etwas naive, aber unerschrockene Großwildjäger, die ihre Beute über Hunderte von Kilometern bis hinein in die großen südlicheren Ebenen verfolgten und dabei in ein wahres Nahrungsparadies kamen.

Niemand wird behaupten wollen, daß diese Paläo-Indianer dort voller Weisheit im Einklang mit der Natur lebten. Sie vermehrten sich in beängstigender Geschwindigkeit, rotteten an die 35
Großsäugergattungen aus · unter ihnen Mammuts und Tapire · und waren dann gezwungen, dem Wild immer weiter nach Süden zu folgen, bis nach Feuerland ins südliche Südamerika.

Einwanderung zu Fuß

Anfangs war man sich noch nicht im klaren darüber, wann diese ersten asiatischen Einwanderer die Landbrücke überquert haben sollen · man vermutete, daß das wahrscheinlich vor nicht zu langer Zeit
gewesen sein muß: vielleicht vor nur ein paar tausend Jahren. Dann aber entdeckte man 1927 in Folsom, New Mexiko, eine Speerspitze zwischen den Rippen einer Bisonart, die vor 10.000 Jahren, am Ende
der letzten Eiszeit, bereits ausgestorben war. Und nur fünf Jahre später fand man · wiederum in New Mexico, in einer Kiesgrube in der Nähe der Stadt Clovis · sogar noch primitivere Speerspitzen neben
den Skeletten von Mammuts.

Die Radiokohlenstoff-Datierung der ältesten Funde zeigte, daß diese Paläo-Indianer vor mehr als 11.000 Jahren eingewandert sein mußten. Und das paßte gut zu den Klimadaten, denn in der Zeit von
75.000 bis 10.000 Jahre v. Chr. waren die nördlichen Teile von Amerika unter einer 2 km dicken Eisdecke begraben und der Wasserstand des Meeres an die 50 m unter dem heutigen Wasserstand, so daß die
Beringbrücke passierbar war. Wenn die asiatischen Jäger über die Beringbrücke gekommen waren, dann muß das zwischen 35.000 und 11.000 Jahren v. Chr. gewesen sein. Die Daten zeigen aber auch, daß auf
Grund der Fluktuationen im Ausmaß der Eisbedeckung der weitere Weg in den Süden eigentlich nur während zweier Zeitfenster eisfrei möglich war: zwischen 35.000 und 28.000 v. Chr. und 14.000 und 11.000
v. Chr. Da die meisten der Fundstellen für Relikte der Clovis-Jäger sich in der Zeit um 11.000 v. Chr. häuften, nahm man lange Zeit an, daß Amerika im zweiten Zeitfenster, etwa um 11.500, besiedelt
worden war.

Fülle neuer Daten

Diese Vorstellungen über die Besiedlung Nordamerikas und das Leben der Paläo-Indianer sind jedoch jetzt ernsthaft ins Wanken geraten: Eine Fülle neuer Daten und naturwissenschaftlicher Belege hat
das einfache, paradigmatische Bild immer komplexer gemacht und Spekulationen Respekt verschafft, nach denen die ersten Amerikaner bereits im ersten Zeitfenster, vor mehr als 25.000 Jahren, eingelangt
sein könnten · nicht nur zu Fuß, sondern auch auf dem Seeweg. Unter den Ostasiaten · die verblüffendste Vermutung · könnten sogar einige Europäer gewesen sein!

Die Vermutung, daß die Besiedlung Amerikas bereits vor 12.000 v. Chr. erfolgt sein könnte, war seit den fünfziger Jahren nie ganz aus der Diskussion verschwunden gewesen · und sie war im Zusammenhang
mit der sehr kontroversen Diskussion um einige Fundstellen mit noch älteren Radiokohlenstoff-Daten immer wieder aufgetaucht. „Es war", so Tom Dillehay von der Universität Kentucky und
„Hauptverantwortlicher" für den Fall des alten Paradigmas, „mehr als eine akademische Frage, denn das Datum der ersten Anwesenheit von Menschen in der Neuen Welt hing entscheidend mit den
Vorstellungen darüber zusammen, wie die Besiedlung abgelaufen sein könnte. Jedes Zeitfenster implizierte ganz verschiedene Episoden im Klima des späten Pleistozän, verschiedene Lebensformen und
verschiedene technologische Fertigkeiten. Selbst wenn die Einwanderung nur 2.000 oder 3.000 Jahre vor den herkömmlichen 11.500 Jahren v. Chr. erfolgt sein sollte, eröffnete das drastische neue
Möglichkeiten für den Ablauf der Landnahme."

Es waren dann nämlich nicht mehr die mittlerweile halbmythisch gewordenen Clovis-Paläo-Indianer, die auf den Spuren ihrer Beute dem Großwild in nur weniger als 500 Jahren über beide Kontinente hin
folgten · eine Geschwindigkeit, die selbst einigen der prominenten Vertretern des Paradigmas schwer möglich schien. Auf der anderen Seite aber hatte keine der „älteren" Fundstellen in den letzten 60
Jahren der wissenschaftlichen Kritik standhalten können · und das aus den verschiedensten Gründen: Das reichte von falschen Radiokohlenstoff-Daten bis zu irrtümlich für Artefakte gehaltenen, aber von
der Natur geformten Steinfunden.

Das alte Paradigma fällt

Die Wende kam mit der Entdeckung von Monte Verde, nur etwa 1.500 km von der Südspitze Südamerikas entfernt, wo Tom Dillahay 1977 begann, einen Lagerplatz von etwa 30 Menschen auszugraben, welche
dort irgendwann zwischen 12.800 und 12.300 Jahren v. Chr. gelebt haben. Diese Fundstätte ist ein Glücksfall. Normalerweise finden die Archäologen bei einem Fund aus dem späten Pleistozän nicht mehr
als ein paar Steinwerkzeuge und die Knochen von Beutetieren. In Monte Verde aber hatte ein feiner Schlamm, der sich nach dem Abgang der Menschen über den Lagerplatz gelegt hatte, sehr viel
Vergänglicheres konserviert: nicht nur die Knochen eines Mastodons, sondern auch den Fußabdruck eines kleinen Kindes in der Nähe der Feuerstelle.

Anfangs war die Skepsis der Experten groß. Aber im Jänner 1997 erlebte Tom Dillahay seinen großen Triumph: Er lud neun Archäologen · unter ihnen auch hartgesottene Skeptiker · ein, eine Woche lang
Monte Verde zu besuchen. Selbst Vance Haynes von der Universität Arizona, zu dessen Spezialität die kühle Sichtung anderer Fundstellen und Hypothesen geworden war, gestand zu: „Das hier sprengt
das Paradigma."

Seither ist das Feld für Spekulationen wieder sehr viel weiter offen · so weit, daß Ryk Ward von der Universität Oxford davor warnt, den Enthusiasmus über die Standards der Kritik an neuen
Szenarios siegen zu lassen: „Wir müssen jetzt die Ärmel hochkrempeln und neue Daten sammeln und bei der Analyse die bereits vorliegenden Daten kritischer sichten." Anlaß dazu gibt es genug,
denn der Fall des Paradigmas wirft neue Probleme auf. Wenn die Klimadaten für das erste Zeitfenster stimmen, dann fanden die Menschen erst vor mehr als 25.000 Jahren eine andere Gelegenheit, über
einen eisfreien Korridor die beiden Amerikas zu besiedeln.

Wieso hat man dann (fast) keine Funde aus der Zeit von 12.500 bis 25.000 Jahren v. Chr. entdecken können? Für manche Experten ist das leicht erklärlich: Es ist einfach eine Frage der „Sichtbarkeit".
Wenn Menschen in ein neues Land mit einem Überfluß an Ressourcen kommen, bleiben sie nicht lange an einem Ort, aber das ist die Vorbedingung für eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, etwas später
Ausgrabbares zu hinterlassen.

Wenn alle Experten heute darin übereinstimmen, daß es noch lange dauern kann, bis sich ein neues Paradigma abzeichnet, dann liegt das auch an der „Weichheit" der neuen Daten, welche nun von
Sprachwissenschaftern und Molekulargenetikern kommen und das Bild sehr viel komplexer und vorerst etwas verwirrend scheinen lassen.

Stammbaum der Sprachen

Verblüffenderweise war es schon Darwin, der den Grundgedanken niederschrieb: „Wenn wir einen volkommenen Stammbaum der Menschheit besäßen, würde eine genealogische Ordnung der Menschenrassen
die beste Klassifizierung der Sprachen erlauben, die heute auf der ganzen Welt gesprochen werden." Mittlerweile haben die Experten für Sprachgeschichte Vorschläge für einen Stammbaum der Sprachen
ausgearbeitet und Gen-Analytiker neue Details der Evolutionsgeschichte menschlicher Populationen herausgefunden.

Die Evolution der Sprachen entsprach · wenigstens in ganz großen Zügen · dem, was die Gene über die Herkunft der Sprechenden vermuten ließ. Das Bild, das sich anfangs für die Besiedlung der beiden
Amerikas ergab, schien lange Zeit ziemlich genau dem zu entsprechen, was man erwartet hätte, wenn die Einwanderung in beiden Zeitfenstern erfolgte. Seither aber hat ein Strom neuer Gen-Analysen das
klare Bild verwirrt. Die letzten, noch nicht veröffentlichten Resultate eines Teams um Douglas Wallace an der Emory Universität in Atlanta lieferten die bislang rätselhafteste Entdeckung: Man fand
unter den mitochondrialen Genen von Indianern aus der Gegend der großen Seen Nordamerikas eine Abstammungslinie von Genen, die es, wenn auch nur selten, unter Europäern gibt, nicht aber in
asiatischen Populationen.

Natürlich war man darüber nicht überrascht: Schließlich konnten sich die Nachfahren von Kolumbus mit den Indianern vermischt haben. Aber auch das konnte die Gen-Diagnostik ausschließen. Dazu Douglas
Wallace: „Es sieht zur Zeit so aus, als ob es eine europäische Population gegeben hat, die von Europa ausgehend ohne nennenswerte Vermischung durch Asien wanderte und über die Beringbrücke nach
Alaska ging." Und das vor mehr als 30.000 Jahren, wenn das Datum für das frühere Zeitfenster wenigstens annähernd stimmt.

Viele Paläontologen halten Derartiges für reichlich windige Spekulationen. Aber auch für sie gab es eine Überraschung: Erst letztes Monat berichtete die „Science" von einem Dorf im Süden von
Peru, wo schon vor 13.000 Jahren Fischer lebten, die gewandte Seefahrer gewesen sein müssen. Sie könnten ganz gut mit ihren Schiffen dorthin gekommen sein.

Vorläufige Bilanz: Die Besiedlung Amerikas war ein weit komplexerer Prozeß, als man bisher annahm. Die paar Ostasiaten, welche über die Beringstraße gingen und dann immer weiter marschierten, sind
Teil einer unrealistischen, simplifizierenden Legende. Neue naturwissenschaftliche Belege haben gezeigt, wieviel Vorurteile in der Legende steckten. Jetzt scheint sicher: Die Menschen kamen in
mehreren Wellen, über lange Zeiträume und auf verschiedenen Wegen.

Literatur:

Roger Lewin: Young Americans. New Scientist 17. Oktober 1998;

Die molekulare Uhr der Evolution. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, Berlin 1998.

Brian Fagan, Ed.: The Oxford Companion to Archaeology. Oxford University Press 1996.

Freitag, 06. November 1998

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