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Geschlecht: Uneindeutig

Mann oder Frau? – Alex Jürgen ist "ein bisschen dazwischen"
Im Kindesalter wurde Alex Jürgen zum Mädchen gemacht. Foto: privat

Im Kindesalter wurde Alex Jürgen zum Mädchen gemacht. Foto: privat

Der 29-jährige Alex Jürgen akzeptiert sich selbst nach langen Konflikten heute als intersexuell.  Foto: Lehner

Der 29-jährige Alex Jürgen akzeptiert sich selbst nach langen Konflikten heute als intersexuell. Foto: Lehner

Von Birgit Lehner

Ich bin kein ganzer Mann und keine ganze Frau. Ich bin ein bisschen dazwischen. – Dass wir in unserer Persönlichkeit "männliche" und "weibliche" Anteile vereinen, ist ein zeitgeistiger Gemeinplatz. Auch in der Mode liegt Androgynität im Trend. Bei Alex Jürgen, 29, steht jedoch eine andere Geschichte dahinter. Als er geboren wurde, wusste man nicht, ob er ein Bub oder ein Mädchen sei. Sein Penis schien zu klein, die Hoden waren in den Leisten geblieben. Man entschied sich zunächst für einen kleinen Jürgen. Doch zwei Jahre später kamen die Ärzte zum Befund, "dass es das Beste für mich ist, wenn man mich als Mädchen aufzieht", erzählt Alex, wie er – bzw. sie – seither genannt wird.

Mit sechs Jahren wird Alex der Penis amputiert – "mir ist gesagt worden, da ist etwas falsch angewachsen" –, mit zehn entfernt man ihm die Hoden. Mit zwölf findet sie selbst heraus, dass sie keine normale Scheide hat und fühlt sich als "Missgeburt". Mit 14 nimmt sie weibliche Hormone, mit 15 lässt sie sich eine Vagina operieren, doch Normalität stellt sich nicht ein. Sie wird depressiv, drogenabhängig, versucht sich umzubringen. Mit 19 erkrankt sie an Leukämie – die Folge von jahrelangem Selbsthass, wie Alex heute meint. "Da ist mir klar geworden, dass ich mich so akzeptieren muss wie ich bin."

Vor zwei Jahren reifte in ihr der Entschluss zu einer neuerlichen Transformation: Alex ließ sich die hormonerzeugte weibliche Brust entfernen und begann eine Testosteron-Therapie. "Nicht weil ich ein Mann sein will, sondern weil ich keine Frau mehr sein wollte. Was bleibt einem da anderes übrig?"

"Hermaphroditen"

Nach gängigen Schätzungen kommt eines von 2000 bis 5000 Kindern mit uneindeutigen körperlichen Geschlechts-Merkmalen auf die Welt. In Österreich sind also zwischen 16 und 25 Kindern pro Jahr in derselben Situation wie Alex. Im Volksmund nennt man sie, oft abwertend, "Zwitter", im literarischen oder veralteten Sprachgebrauch "Hermaphroditen", nach dem androgynen Sohn von Hermes und Aphrodite. Heute hat sich der Begriff "intersexuell" durchgesetzt. Die komplexe Problematik des Phänomens ist in der Öffentlichkeit kaum bekannt.

Intersexualität kann unterschiedlichste Erscheinungsbilder haben und wird durch zahlreiche, meist genetisch bedingte Ursachen wie Hormon- oder Enzymstörungen, aber auch durch Umwelteinflüsse ausgelöst. Wie viele weitere Auslöser es gibt, ist noch nicht geklärt.

Alex hat eine Form von partieller Androgenresistenz (PAIS). Er ist genetisch männlich, hat also ein XY-Chromosomenpaar, aber sein Körper reagiert nicht ausreichend auf männliche Hormone und hat sich daher nicht völlig männlich entwickelt. Bei einer vollständigen Androgenresistenz (CAIS) würde er weiblich aussehen und sich höchstwahrscheinlich auch so fühlen. Seine Hormonblockade wäre dann vielleicht erst aufgefallen, wenn die Menstruation in der Pubertät ausgeblieben wäre, weil statt innerer weiblicher Geschlechtsorgane im Bauchraum Hoden angelegt sind. Bei stark ausgeprägtem PAIS und ähnlichen Intersex-Formen können Betroffene als normale Mädchen erscheinen, bis sie in der Pubertät durch die verstärkte Hormonproduktion der innen angelegten Hoden einen Vermännlichungs-Schub erleben.

Das Adreno-Genitale Syndrom (AGS) hingegen betrifft als häufigstes Intersex-Phänomen genetische Mädchen. Dabei produziert die Nebennierenrinde männliche Geschlechtshormone, was bei Buben ohne Folgen bleibt, bei weiblichen Embryos aber zu einer penisähnlichen Vergrößerung der Klitoris und zu einer Verwachsung von Scheideneingang und Harnröhre führen kann. Die inneren Organe bleiben unbeeinträchtigt. Diese Hormonstörung ist oft mit einem lebensgefährlichen Salzverlustsyndrom verbunden, das durch Cortisol behandelt werden muss. Wenn Scheidenverwachsungen etwa zu einem Harnwegsinfekt führen, sind operative Eingriffe notwendig.

Soziale Anpassung

Die meisten Maßnahmen bei der Behandlung intersexueller Menschen sind allerdings weniger medizinisch als sozial motiviert. In den 50er Jahren wurde es Usus, Kinder mit intersexuellem Genitale möglichst frühzeitig operativ zu "korrigieren". Dabei wurde meist die weibliche Richtung gewählt, weil das technisch einfacher war und mehr Erfolg für ein "normales" Geschlechtsleben versprach. Um ihre Identifikation mit der zugewiesenen Geschlechtsrolle nicht zu gefährden, verschwieg man den Kindern später die Eingriffe, die oft schon in den ersten Lebensmonaten durchgeführt wurden.

Doch wie Alex hatten Betroffene immer wieder trotz – oder wegen – der körperlichen "Korrektur" massive Schwierigkeiten mit ihrem verordneten Geschlecht. Die Untersuchungen und die meist mehrmaligen Operationen in der Kindheit wurden von vielen als traumatisierend erlebt. Einige, die dabei auch ihre sexuelle Empfindungsfähigkeit einbüßten, sprechen von Genitalverstümmelung – wie Alex, der sich darum auch keiner weiteren Unterleibsoperation mehr unterziehen will.

Dank der Initiative von Bewegungen wie die Intersex Society of North America (ISNA) hat in den letzten zehn Jahren ein Umdenken eingesetzt, das auch innerhalb der Medizin zu einem kontroversen Diskurs geführt hat. Die ISNA plädiert dafür, Kindern ein provisorisches Erziehungs-Geschlecht zuzuweisen und sich bei der Behandlung auf medizinisch notwendige Maßnahmen, umfassende Aufklärung und psychologische Betreuung zu beschränken, bis die Betroffenen selbst mitentscheiden können. Irreversible Eingriffe müssten so lange unterbleiben, zumal intersexuelle Genitalien nicht, wie oft behauptet, zwangsläufig zu psychischen oder sozialen Problemen führen müssen.

Kolumbien hat deshalb Genitaloperationen an Kindern generell verboten. Laut Klaus Kapelari, Kinderarzt und Endokrinologe von der Universitätsklinik Innsbruck, besteht heute ein weitgehender internationaler Konsens darüber, dass die Bewahrung einer offenen Zukunft für die Patienten die oberste Prämisse jeder Behandlung sein müsse: "Man sollte möglichst lange zuwarten, bevor korrigierende Eingriffe am Genitale gemacht werden." Wichtig sei bei der Vielzahl möglicher Intersex-Ursachen eine individuell differenzierte, interdisziplinäre Diagnostik und Behandlung in darauf spezialisierten Zentren. Gemeinsam mit den Eltern und mit Psychologen müsse man beobachten, welche Geschlechtsrolle das Kind annehme. Diesebzügliche Prognosen versucht man auch an Hand früherer Krankengeschichten zu geben, wie Franz Waldhauser, Kinderarzt und Endokrinologe am Wiener AKH, erläutert. Man vermutet heute, dass die geschlechtliche Identität schon im Mutterleib durch die Menge der Androgene geprägt wird, die auf das embryonale Gehirn einwirken – "aber den genauen Parameter kennen wir noch nicht."

Insbesondere in Fällen, wo man die spätere Geschlechtsrolle sicher vorhersagen zu können glaubt, werden freilich noch immer Eingriffe im Kleinkindalter durchgeführt. Das betrifft etwa Mädchen mit AGS, die sich, so die Argumentation, ohnehin fast alle später als Frauen fühlen und überdies bei einem Leben als Mann ihre Fruchtbarkeit einbüßen würden. Außerdem brächten frühzeitige Operationen bessere Ergebnisse und seien weniger traumatisierend als in der Pubertät. Die Annahme, dass Kinder derart frühe Eingriffe "vergessen", ist allerdings, so der Sexualmediziner Hartmut Bosinski, so wenig empirisch belegt wie die Bedeutung der kindlichen Genitalwahrnehmung für die Ausbildung der Geschlechtsidentität.

Umstritten sind vor allem Klitoris-Operationen aus kosmetischen Gründen, weil sie ein Risiko für die sexuelle Sensibilität darstellen. Während Kritiker schon deshalb auf das Mitspracherecht der Betroffenen pochen, berufen Ärzte sich gern auf all jene Patientinnen, die ein normales weibliches Leben führen und die angesichts von Aktivisten wie Michael Reiter, dem Wortführer der deutschen Intersex-Bewegung, leicht vergessen werden. Reiter ist einer der Ausnahmefälle mit AGS, die sich eben nicht als Frau fühlen – obwohl sie operativ dazu gemacht wurden. Er kämpft vor Gericht dafür, dass der Begriff "Zwitter" ins Personenstandsregister aufgenommen werde, um die Zweiteilung der Geschlechter als Fiktion zu entlarven und der Gesellschaft die Legitimation zur "Korrektur" zu entziehen.

Die Frage der Legitimation spaltet auch immer wieder eine von Professor Waldhauser initiierte interfakultäre Arbeitsgruppe zur Entwicklung von Behandlungs-Richtlinien. Während die Mediziner die Etablierung einer Fachkommission befürworten, die berechtigt sein soll, Empfehlungen abzugeben und Denkpausen zur Entscheidungsfindung zu erzwingen, gibt es auf juristischer Seite die Forderung nach der gerichtlichen Genehmigungspflicht von Eingriffen.

Der elterliche Schock

Noch liegt die Entscheidung für oder gegen medizinische Maßnahmen letztlich bei den Eltern. Diese aber stehen angesichts eines intersexuellen Kindes unter Schock – das ist die Erfahrung von Elisabeth Hasenauer, Psychotherapeutin an der Universitätsklinik Innsbruck. "Da ist man natürlich froh, wenn eine Korrektur angeboten wird." Eltern bräuchten daher psychologische Begleitung.

Die Sensibilisierung der Öffentlichkeit würde jedenfalls den Druck zur sozialen Anpassung lindern. Alex hat gute Erfahrungen damit gemacht. Er hat sich nach jahrelangem schamhaften Verleugnen geoutet, im Bekanntenkreis, aber auch im Radio und Fernsehen. Er hat mit der Filmemacherin Elisabeth Scharang eine Dokumentation über seine Lebensgeschichte gedreht, die nächstes Jahr ins Kino kommt, und er baut eine Selbsthilfegruppe auf. Irgendwann, so hofft er, "wird jeder Mensch als Individuum gesehen, ob Mann oder Frau oder eben intersex". Bis dahin, so fordert er, sollte zumindest die Krankenkasse für seine Psychotherapie aufkommen.

Birgit Lehner arbeitet als Kulturredakteurin bei der APA.

Homepage von Alex Jürgen: http://www.intersex.at

Freitag, 25. November 2005

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