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Naturwissenschaftliche Auskünfte zum Thema Tierschutz

Unsere stummen Verwandten

Von Peter Markl

Die Frage, ob Tiere denken können, hat eine lange Geschichte, die bis zu Aristoteles zurückreicht: Er war der Meinung, dass eben das Denken die Menschen von den Tieren unterscheide; und René Descartes, der seinem Lieblingshund, Monsieur Grat, von Herzen zugetan war, vermutete, dass Tiere eine Art von Maschinen seien, die weder denken können noch Bewusstsein haben - und eine Seele schon gar nicht.

Nicht weniger alt ist die Versuchung, tierisches Verhalten mit menschlicher Psychologie zu erklären. Wer sich im Zoo einem Schimpansen gegenüber sieht, macht allerdings ein Wechselbad von Gefühlen durch: Manchmal verhält sich das Tier, als ob es ein Mensch wäre, wenig später ist klar, dass man ein Tier vor sich hat. Denken also die Primaten wie Menschen? Haben sie ein Bewusstsein?

Das ist keine rein akademische Frage. Wenn Tiere tatsächlich denken würden und Bewusstsein hätten, wäre es dann gerechtfertigt, an ihnen medizinische Experimente zu machen? Oder sollte man zumindest einigen Tieren - etwa den Menschenaffen - auch rechtlich einen ähnlichen Schutz gewähren wie Menschen? Prominente Wissenschaftler und Philosophen - etwa Richard Dawkins, Peter Singer und Jane Goodall - wollen dies gesetzlich festgeschrieben haben. Sie treten dafür ein, zumindest Schimpansen und alle anderen großen Menschenaffen zu juridischen Personen zu erklären und ihre Würde und körperliche Unversehrtheit wie die von Menschen zu schützen.

Das tierische Denken

Es ist jedoch schwierig, diesen Vorschlag mit rationalen Argumenten zu stützen. Zwar neigt die große Mehrheit der Wissenschaftler zu der Ansicht, dass es auch bei Tieren Denkprozesse gibt, doch wird ebenso häufig angenommen, dass sich dieses tierische Denken vom menschlichen in entscheidenden Punkten unterscheidet: Ja, es gibt auch bei Tieren Kommunikationssysteme, die man "Sprache" nennen kann, doch sind sie mit der symbolischen Sprache der Menschen nicht gleichzusetzen. Ja, auch Tiere haben wahrscheinlich eine Art von Bewusstsein, aber eben nicht das volle Selbstbewusstsein der Menschen.

Volles menschliches Bewusstsein konnte sich erst entwickeln, nachdem mehrere vormenschliche kognitive Fähigkeiten in einem synergistischen Zusammenwirken die Vorbedingung dafür geschaffen hatten, dass sich ein einzigartiges Kommunikationssystem entwickeln konnte: die spezifisch menschliche, symbolische Sprache. Eine der wesentlichen Grundlagen für die sprachliche Kommunikation muss die Fähigkeit gewesen sein, sich Vorstellungen darüber machen zu können, wie andere eine bestimmte Situation sehen. Ob dieses Hineindenken in das Denken anderer auch bei den menschenähnlichsten Tieren, den Schimpansen, vorkommt oder nicht, ist zur Zeit noch heftig umstritten.

Manche Verfechter neuer Normen für den Umgang mit Tieren stützen ihre Vorschläge mit naturwissenschaftlichen Argumenten. Vor allem die Nicht-Naturwissenschaftler unter ihnen berufen sich dabei zuweilen auf Argumente, auf die man sich besser nicht berufen sollte. In allen Diskussionen wird z. B. auf die große genetische Ähnlichkeit zwischen Menschen und Schimpansen hingewiesen. In der Tat sind rund 99 Prozent der menschlichen Gene auch bei den Schimpansen zu finden. Doch ist das in diesem Kontext irrelevant, da es nicht auf die Zahl der Nukleotidbasen und auch nicht auf die Übereinstimmung ihrer linearen Anordnung in den Fadenmolekülen der DNA ankommt, sondern auf die funktionale Organisation des Genoms. Einige wenige, unterschiedliche Schlüsselgene können zu dramatischen Unterschieden führen. Aus der Zahl der gemeinsamen Basenpaare lässt sich nicht ableiten, welche psychologischen Charakteristika zwei Organismen gemeinsam haben.

"Einheit alles Lebendigen"

Ein zweites Argument wird seltener explizit formuliert, obwohl es emotional wahrscheinlich eine größere Rolle spielt. Darwins Theorie von einer gemeinsamen Abstammung aller Lebewesen ist für manche zu einer tief empfundenen, quasi religiös getönten Weltanschauung geworden - gleichsam die naturwissenschaftliche Bestätigung einer "Einheit alles Lebendigen", welche die Menschen einschließt, die als alles Materielle transzendierende Wesen der Höhepunkt der Evolution sind.

Darwins Theorie zeigt jedoch nur, dass alle Lebwesen mehr oder minder nah verwandt sind, nicht aber, dass sie alle gleich sind. Was die kognitiven Fähigkeiten betrifft, zählen Menschen sicher zu den Höhepunkten der Evolution. Was das menschliche Hirn kann, wie es fühlt und denkt, ist nicht einfach zu erklären als Summe all der emotionalen und kognitiven Eigenschaften der Organismen in der Entwicklungslinie, die zum Menschen führte.

Darwins Selektionstheorie machte klar, dass eine Art nur überleben kann, wenn sie durch Mutation und Selektion hinreichend gut an ihre besondere Nische angepasst wurde. Das gilt auch für die kognitiven Fähigkeiten einer Spezies. Clive D. Wynne, Professor für Psychologie an der Universität von Florida, spezialisiert auf die kognitiven Fähigkeiten von Tieren, schreibt dazu: "Ich glaube, es ist wichtig zu verstehen, wie ähnlich oder verschieden die kognitiven Fähigkeiten von Tieren im Vergleich zu unseren eigenen kognitiven Errungenschaften sind."

In seinem jüngsten Buch "Do Animals Think?" (Denken die Tiere?) versucht Wynne alle Relikte früherer, offen oder versteckt anthropomorpher Deutungen tierischen Verhaltens hinter sich zu lassen und zusammenzufassen, was die Wissenschaft über die kognitiven Fähigkeiten von Tieren weiß. Er unterscheidet dabei drei Schichten von kognitiven Leistungen, die ähnlich den Lagen in einem Sandwich übereinander liegen.

In der untersten Schicht sind die Wahrnehmungsorgane angesiedelt, welche die Eingangssignale liefern, die in den darüber liegenden Schichten verarbeitet werden. Diese Schicht ist von Tier zu Tier - entsprechend den Überlebensbedingungen in der jeweiligen ökologischen Nische - verschieden. Dies führt dazu, dass jede Spezies in

ihrer eigenen Wahrnehmungswelt lebt: Vögel sehen ultraviolettes Licht, Insekten nehmen Infrarotstrahlung wahr, Fledermäuse orientieren sich im Dunklen über Echolot-Systeme, einige Fische haben Sensoren für elektrische und magnetische Felder, Tauben nehmen die Polarisation des Sonnenlichts wahr und verfügen über 6-Kanal-Farbsehen, während Katzen mit einer monochromen, unscharfen Welt zurecht kommen müssen.

In der mittleren Schicht befinden sich neuronale Verarbeitungsmechanismen, die bei allen Lebewesen sehr ähnlich sind - etwa die elementaren Mechanismen für assoziatives Lernen oder das Speichern und Wiederabrufen von Informationen.

Die oberste dritte Schicht ist wiederum von Art zu Art verschieden; in ihr befinden sich das Selbstbewusstsein und die Sprache - also die neuronalen Mechanismen, die Menschen von allen anderen Primaten unterscheiden. Die Entwicklung dieser höchsten Fähigkeiten baut auf den in der mittleren Schicht angesiedelten neuronalen Prozessen auf, und es ist bis zu einem gewissen Grad eine Frage der Konvention, ob man einzelne Teilprozesse in dieser Schicht bereits als "Denken" bezeichnen will oder nicht.

Denken - so lautet eine weithin akzeptierte Definition - besteht in neuronalen Prozessen, welche es möglich machen, Verhalten zur Lösung von Problemen zu adaptieren. Dieser sehr weit ausholenden Definition zufolge wäre das assoziative Lernen, das auch die Bienen vermögen, die neben den Menschen einer der kognitiven Höhepunkte der Evolution sind, bereits eine Form von Denken.

Meist aber versteht man unter Denken doch etwas, das darüber hinaus geht: nämlich die gültige, deduktive Ableitung von Schlüssen aus wahren Prämissen. Dass Tiere in einem bestimmten Kontext und in beschränktem Maß auch Aufgaben dieser Art lösen können, hat man in den letzten 20 Jahren in raffiniert ausgeklügelten Versuchen mit Tauben, Ratten, Schimpansen und anderen Tieren zeigen können. Clive Wynne merkt dazu an: "Es gibt sicher bei Vögeln und Säugetieren sogar einige Indizien für protomathematische Fähigkeiten, wie das Einschätzen der Größe von Mengen und die Fähigkeit, sie nach bestimmten Merkmalen zu ordnen, aber meiner Ansicht nach wurde arithmetisches Denken bisher noch bei keiner Tierspezies zweifelsfrei nachgewiesen."

Die Fähigkeit zu abstrahieren ist sicher nicht den Menschen alleine vorbehalten. Ebenso sicher ist allerdings, dass es zwischen der menschlichen Denkfähigkeit und derjenigen anderer Tiere gewaltige qualitative und quantitative Unterschiede gibt, denn: "Wenn man diese Denkprobleme in ihre Teilschritte zerlegt, dann sieht man, dass andere Spezies nur in einigen Teilschritten zur Lösung des Denkpuzzles erfolgreich sind". Die - sonst so oft irreführende - Analogie zu Computerprogrammen macht hier klar: Noch so intelligent wirkende Programme sind zusammengesetzt aus elementaren Teilschritten, mit denen niemand Intelligenz assoziieren würde.

Ganz anders steht es um diejenigen Unterschiede zwischen Tieren und Menschen, die in der Diskussion um den rechtlichen Schutz von Primaten als wesentlich angesehen werden: die Frage nämlich, ob die großen Primaten die neuronalen Voraussetzungen zum Erlernen einer menschlichen Sprache haben; ob sie sich selbst im Spiegel erkennen können und ob sie imstande sind, sich in die Gedanken eines anderen einzufühlen.

Affen als Fernsehstars

Es ist schwierig, darüber Aufschlüsse zu bekommen. Schimpansen können ja schon deshalb nicht sprechen wie Menschen, weil ihr Stimmapparat nicht dazu geeignet ist, die entsprechenden Laute zu erzeugen. Sie könnten ihre Gedanken aber in einer Gebärdensprache ausdrücken - etwa American Sign Language (Ameslan), also der Zeichensprache, in der in den USA taube Menschen miteinander kommunizieren.

Versuche in diese Richtung haben eine Reihe von Menschenaffen zu Fernsehstars gemacht. Washoe war der Erste von ihnen - ein Schimpanse, den Allan und Beatrice Gardner in vier Jahren intensiven Trainings dazu gebracht haben, 132 Gebärden der American Sign Language anzuwenden und im Kontext zu "verstehen". Man war vorher der Ansicht gewesen, dass Schimpansen nicht sprechen könnten, weil ihre neuronalen Hirnstruktur es nicht erlaubt, Sprachlaute zu produzieren und zu verstehen. Washoe schien das zu widerlegen. Jetzt dachte man, dass wenigstens die Anlagen zu einem Sprachvermögen bei Schimpansen vorhanden sein müssten. Es schien im Wesentlichen eine Frage von Geld, Geduld und Training zu sein, eine Affen zu finden, der Washoes Fähigkeiten übertreffen würde.

Noam Chomsky, Star-Linguist von der Harvard Universität, war entschieden anderer Ansicht. Für ihn ist das Sprachvermögen angeboren und somit eine menschliche Einzigartigkeit. Herbert Terrace - ein Schüler von Skinner - wollte Chomsky widerlegen und nannte seinen Schimpansen Nim Chimpsky. In den vier Jahren, die es dauerte, bevor Terrace das Geld ausging, erlernte Nim Chimpsky zwar auch 125 "Ameslan"-Gebärden, aber das ist kein Weltrekord: Francine Patterson hat ihrem Gorilla Koko in 25 Jahren rund 1.000 Gebärden beigebracht und naive Beobachter kann Koko damit ziemlich verblüffen.

Worte, aber keine Syntax

Nicht aber Herbert Terrace, der alle Äußerungen sprachtrainierter Primaten einer Analyse unterwarf und zu dem ernüchternden Schluss kam, dass sie zwar sehr langsam ein begrenztes Vokabular erlernen können, aber keine Spur von Verständnis für die Syntax der menschlichen Sprache zeigen. Sie reihen Worte aneinander, aber ihre meist kurzen Wortketten haben keine innere Struktur. Es ist ihnen wahrscheinlich unmöglich, zu verstehen, dass der Satz "Was Noam Chomsky sagt, ist furchtbar einfach" etwas anderes heißt, als der Satz "Was Noam Chomsky sagt, ist einfach furchtbar".

Was die Fähigkeit betrifft, sich im Spiegel selbst zu erkennen, sind Hunde, Katzen, Fische, Elefanten, Papageien, viele Affenarten und wahrscheinlich auch Delphine, überfordert. Sie erblicken im Spiegel ein anderes Tier. Schimpansen, Orang-Utans und vielleicht auch Gorillas scheinen sich dagegenselbst zu erkennen. (Wobei allerdings der diesbezügliche Test nicht über allen Zweifel erhaben ist.)

Am verwirrendsten ist die Problemsituation zur Zeit bei der Fähigkeit, sich in jemanden hineinzudenken. Selbst bei Schimpansen kommen die beiden weltweit führenden Teams zu diametral unterschiedlichen Urteilen: Michael Tomasello und Brian Hare vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig sind der Ansicht, dass Schimpansen dies in einem gewissen Ausmaß können; Daniel Povinelli und sein Team am New Iberia Research Institute in Louisiana, die früher einmal auch dieser Ansicht gewesen sind, bezweifeln mittlerweile selbst die raffiniertesten Testergebnisse. Verblüffenderweise verhalten sich jedoch Krähen manchmal so, als ob sie wüssten, was im Kopf anderer Krähen vor sich geht. In ihrer ökologischen

Nische scheint das vorteilhaft zu sein. All das illustriert sehr gut, wie fragwürdig es ist, ethische Normen im Umgang mit Tieren mit ihren kognitiven Fähigkeiten in Zusammenhang zu bringen. Kognitive Fähigkeiten sind entscheidend von den Nischen geprägt, in denen ein Tier lebt. Da kann es zufällig zu Ähnlichkeiten mit kognitiven Fähigkeiten von Menschen kommen, obwohl denselben Tieren andere bei Menschen vorkommende kognitive Fähigkeiten vollkommen fehlen. Die so wichtigen ethischen Regeln für den Umgang mit Tieren brauchen also eine tragfähigere

Basis.

Literatur: Clive D. L Wynne: Do Animals Think? Princeton University Press, 2004. 368 Seiten.

Freitag, 24. September 2004

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