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Zwei Neuerscheinungen erkunden die Rätsel der Quantentheorie

Auf unsicherem Terrain

Von Peter Markl

Die Problemsituation ist so vertrackt, dass sie ein Teufel erfunden haben könnte, um selbst die intelligentesten Menschen auf Dauer zu narren: Die Quantentheorie - die grundlegende Theorie aller Materie - ist in den letzten 100 Jahren wahrscheinlich mehr experimentellen Tests ausgesetzt worden als jede andere physikalische Theorie und sie hat selbst die raffiniertesten Widerlegungsversuche glänzend überstanden. Ihre Anwendungen - von den Lasern, welche CDs und DVDs abtasten, über Computerchips und alle ihre Einsatzmöglichkeiten bis hin zu Kernspintomographen - prägen längst das heutige Leben: Man hat geschätzt, dass in den USA etwa ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts auf Erfindungen beruht, welche erst durch die Quantentheorie möglich gemacht wurden.

Die Quantentheorie verstehen

Jeder, der sich mit naturwissenschaftlichen Theorien herumschlägt, kennt die Situation, dass man selbst bei der Anwendung einer gut verstandenen Theorie immer wieder vor dem Problem steht, dass sie aus vorerst rätselhaften Gründen in diesem Fall nicht zu funktionieren scheint. In der Quantentheorie ist es im Wesentlichen umgekehrt: sie funktioniert, aber auch nach hundert Jahren intensivster Bemühungen gibt es kaum jemand, der von sich behaupten wollte, er "verstehe" die Theorie wirklich. Das betrifft vor allem die Frage, welches Bild der Realität diese empirisch so überwältigend erfolgreiche Theorie zeichnet. Dazu wurde ein ganzes Spektrum von Deutungen des mathematischen Apparats der Theorie vorgeschlagen. Die meisten davon wurden ausgeklügelt, um Verständnisprobleme aus dem Weg zu räumen und die Theorie selbst für die Sicht klassischer Physiker akzeptierbar zu machen. Es gibt heute mindestens sechs mögliche "Quantenwelten", die verschiedene weltanschauliche Implikationen haben.

Das Problem aber ist, dass selbst die exotischesten Interpretationen - etwa die Theorie, dass die Quantenphysik eine Vielzahl potenzieller, in irgendeinem Sinn jedoch "realer" Welten beschreibt - zu denselben Vorhersagen führen, wenn man sie auf wirkliche Experimente anwendet. Was die Naturwissenschaften so erfolgreich macht - nämlich die Möglichkeit, unter einer Vielzahl von Hypothesen durch experimentelle Tests wenigstens die falschen herausfinden zu können -, versagt hier.

Besonders in den Jahren von etwa 1920 bis 1935 war das Unbehagen selbst bei den großen Baumeistern der Quantentheorie - etwa Albert Einstein oder Erwin Schrödinger - so groß, dass sie immer wieder Argumente dafür suchten, dass die Quantentheorie zwar unbestritten erfolgreich sei, aber anders gedeutet werden müsste, oder dass sie unvollständig sei und durch eine tiefere Theorie ergänzt werden müsste, deren bisher verborgene Parameter dann alles das wegerklären würden, was so befremdlich erschien. Andere wiederum - wie Carl Friedrich von Weizsäcker - sahen in solchen Bemühungen nur eine Art von "Trauerarbeit", erbracht von metaphysisch infizierten Physikern, die sich mit dem Verlust der vertrauten Welt der klassischen Physik nicht abfinden mochten.

Etwa ab 1940 wurden solche Versuche immer seltener. Zwei Generationen von Physikern wurden dann - wie es Richard Feynman einmal formulierte - an vielen Universitäten einer Art "Gehirnwäsche" unterzogen, nach der sie die Theorie anwenden konnten, ohne sich von unfruchtbaren Fragen belästigt zu fühlen.

Natürlich gab es Seminare über die "Philosophie der Physik", wo man auch den theoretischen Physiker treffen konnte, der durchblicken ließ, dass alle diese Fragen doch schon lange beantwortet seien und er auch die gerade diskutierte Frage beantworten könnte, falls er einmal 20 Minuten Zeit fände, darüber nachzudenken. Wer sich dennoch für solche Fragen interessierte, tat gut daran, sein Interesse zu verschweigen, so lange er keinen festen Posten gefunden hatte.

Dieses Klima begann sich überall in den frühen siebziger Jahren zu ändern, in Österreich vor allem durch die inspirierende Arbeit von Helmut Rauch am Atominstitut der Österreichischen Universitäten in Wien, wo eines der Zentren für Neutronen-Interferometrie aufgebaut wurde. Anton Zeilinger war schon im ersten Dreierteam, das am Atominstitut mit Experimenten zur quantenphysikalischen Grundlagenforschung begann. Diese Erfahrung hat ihn geprägt. Er ist dem einen großen Thema treu geblieben: Dem möglichst direkten, unmittelbaren experimentellen Test der konterintuitiven Vorhersagen der Quantenphysik für das Verhalten einfacher Teilchen und einfacher Teilchensysteme. Er war nach einem Umweg über das MIT nach Österreich zurückgekehrt, hatte an der Universität Innsbruck in neunjähriger Arbeit eine Arbeitsgruppe von Weltrang aufgebaut und dieses Kunststück an der Universität Wien wiederholt, sodass Österreicher heute zur Weltelite der quantenphysikalischen Grundlagenforschung zählen.

John Bell zu Ehren

Aus der Wiener Arbeitsgruppe stammen zwei neue und außerordentliche Veröffentlichungen, welche den Stand und die Intensität der heutigen Diskussion um die Grundlagen der Quantenphysik und ihre Anwendung in der Quanteninformatik dokumentieren. Die erste von ihnen ist John Bell gewidmet, der für das Wiedererwachen der quantenphysikalischen Grundlagenforschung wahrscheinlich mehr getan hat als irgendein anderer. Reinhold A. Bertmann und Anton Zeilinger haben als Herausgeber einen 2002 erschienenen Sammelband betreut, der die 30 Vorträge enthält, die im November 2000 an der Wiener Universität gehalten wurden, als sich viele der auf dem Gebiet der quantenphysikalischen Grundlagenforschung führenden Experten anlässlich des 10. Todestages von John Bell getroffen hatten. Der Band wurde zu einem bewegenden Dokument des Einflusses eines großen Mannes, von dem der Physik-Nobelpreisträger Jack Steinberger schrieb: "Bell gehörte zu den brillantesten Physikern, die ich gekannt habe; darüber hinaus aber hatte er sehr wichtige menschliche Qualitäten: er war für alle offen, unprätentiös und behutsam im Umgang mit weniger begabten Kollegen."

Der an Facetten reiche Band enthält Beiträge, die von allgemein zugänglichen, persönlichen Erinnerungen an John Bell über die rationale Rekonstruktion der Diskussionen um die Grundlagen der Quantentheorie in den letzten 30 Jahren bis zu hoch technischen Zwischenbilanzen reichen, die in ihrer Art nur den Experten zugänglich sind.

Was immer wieder auch explizit formuliert und in allen Beiträgen zwischen den Zeilen deutlich wird, ist heute eine große Seltenheit in der hochkompetitiven Welt der Wissenschaft: Dankbarkeit für die Inspiration, die Gespräche mit John Bell so oft brachten, sowie der Respekt und die Zuneigung, welche seine bescheidene intellektuelle Redlichkeit bei seinen Gesprächspartnern auslöste.

Bell, der im Europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf an der Theorie der Elementarteilchen und der Verbesserung von Teilchenbeschleunigern arbeitete, hielt das nur für seinen Brotberuf: "Ich bin", so konstatierte er 1983 einmal vor einem erstaunten Publikum, "ein Quanteningenieur, am Sonntag aber habe ich Prinzipien." Er hat auf all seinen Arbeitsgebieten Außerordentliches geleistet; seine bedeutendste Leistung waren aber die Arbeiten über die "Prinzipien" der Quantentheorie - wunderbar präzise und klar geschrieben, gelegentlich mit erhellendem Humor. (Eine seiner Arbeiten ist ein Nachhall von Diskussionen über die Realität, wie sie die Quantentheorie beschreibt, die er mit einem der Herausgeber geführt hat. Sie trägt den Titel: "Bertlmanns Socken und die Natur der Realität" und hat Prof. Bertlmann einen Bekanntheitsgrad eingetragen, wie es seine eigenen Mühen wahrscheinlich nicht geschafft hätten.)

Bells wichtigste Arbeit, die 1964 erschien, hat die Hoffnung, die gespensterhaften Fernwirkungen der Quantentheorie mit Hilfe bisher verborgener Parameter wegerklären zu können, auf verblüffend einfache Weise endgültig begraben. Man hat die berühmten "Bell'schen Ungleichungen" mit einem Pathos, das John Bell ganz fremd war, als "die profundeste Entdeckung seit Kopernikus" bezeichnet.

Ein nicht minder großer Glücksfall, wenn auch ganz anderer Art, ist die zweite jüngst erschienene Veröffentlichung: das für Laien gedachte Buch, in dem Anton Zeilinger seinen experimentellen Zugang zur faszinierenden Quantenwelt und seine heutige Deutung der Quantenphysik erklärt. Martin Gardner, als Autor der berühmten, im "Scientific American" erschienenen, mathematischen Kolumnen ein Wissenschaftsjournalist von Weltrang, hat einmal angemerkt, dass es für jeden Wissenschaftsjournalisten eine Standard- Herausforderung gebe - nämlich Nichtfachleuten die Relativitätstheorie zu erklären.

Heute liegt die Herausforderung bei der Erklärung der Quantentheorie. Selbst wenn man einmal von den verdrießlichen Versuchen absieht, die der Alltagserfahrung widersprechenden Charakteristika der Quantentheorie verkaufsfördernd fernöstlich zu drapieren, gibt es zur Quantentheorie auf dem heutigen Stand der Diskussion von Wissenschaftsjournalisten nur wenige halbwegs gelungene Versuche. (Der New Yorker Physiker Jeremy Bernstein, Kolumnist im renommierter "New Yorker", hat über die orientalisch-mystifizierenden Autoren einmal enttäuscht angemerkt, dass nach Entfernung des orientalischen Beiwerks nichts Neues übrigbleibt - "es ist einmal mehr das alte Mobiliar, wenngleich in 'bengalischer' Beleuchtung").

Wissenschaft für Laien

Zeilingers Buch ist anders. Das ist nicht das Buch eines um didaktische Eingängigkeit bemühten Wissenschaftsjournalisten, sondern das Buch eines von seinem Fach begeisterten Wissenschaftlers, der auch nicht in den Fehler verfällt, den Wissenschaftler nur zu oft machen, wenn sie sich Laien zuneigen: sie beginnen auf den ersten Seiten mit den besten Vorsätzen auf mitunter ärgerlich niedrigem Niveau, haben aber nach ein paar Dutzend Seiten dieses Spiel satt und schreiben dann einfach ohne Rücksichten weiter. Seit ein Herausgeber Stephen Hawking verraten hat, dass die Verkaufszahlen eines populärwissenschaftlichen Buches mit der Zahl der darin auftauchenden mathematischen Formeln eher dramatisch abstürzen, hat sich diese These zu einer Art Axiom der Branche verfestigt. Das geht meist nicht ohne Verluste an Klarheit ab.

Auch Zeilinger hält sich daran, aber die Art, wie er sein Buch geschrieben hat, lässt die Verluste nicht spürbar werden: man hat das Gefühl, mit dem Autor ein Gespräch zu führen. Es liegt Zeilinger nicht daran, mit brillant formulierten Paradoxa Eindruck zu machen. Er beschreibt in einfachen Sätzen ohne allen Fachjargon die Experimente, welche am direktesten vom Alltagsverständnis weg in die Welt der Quanten führen. Was ihn vor allem fasziniert, ist das Verhalten von Systemen mit verschränkten Quantenzuständen, wie sie bereits Erwin Schrödinger so fasziniert haben. Die Experimente, die Zeilinger bereits zu einer Art populärer Ikone der Quantenphysik gemacht haben - etwa die Quantenteleportation -, sind allesamt Erkundungen der konterintuitiven Eigenschaften verschränkter Quantensysteme. Zeilinger war lange Zeit sehr zurückhaltend, was die weltanschaulichen Implikationen der Quantenphysik betraf. Er bezeichnete sich gelegentlich als einfachen Experimentator, der Situationen meidet, in denen die Meute der Quantentheoretiker und Quantenphilosophen über einen herfallen könnte.

Was ist Wirklichkeit?

Jetzt aber hat er diese Zurückhaltung aufgegeben und ist - um es bildlich zu sagen - ins kalte Wasser gesprungen, und zwar dort, wo es am kältesten ist. Er hat einen Ansatz aufgegriffen und weiterentwickelt, den in Deutschland Carl Friedrich von Weizsäcker (und in den USA, auf andere Art, John Wheeler) angedacht haben, ohne dass ihnen viele gefolgt wären. Schon Niels Bohr hatte provokant formuliert, dass es nicht die Aufgabe der Physik sei, herauszufinden, wie die Natur beschaffen ist. Die Aufgabe der Physik bestünde nur darin, herauszufinden, was sich über die Natur sagen lässt. Es sind die quantenphysikalischen Experimente, die Informationen über die Wirklichkeit liefern - eine Wirklichkeit, zu der man nur sehr indirekten Zugang hat. Es macht, so Zeilinger, offenkundig keinen Sinn, über Wirklichkeit ohne die Information darüber zu sprechen, und es ist sinnlos, von Information zu sprechen, ohne dass sich diese auf irgendetwas bezieht. In der Alltagswelt und der klassischen Physik gibt es eine Wirklichkeit, über die man in dem Wechselspiel von Theorien und Experimenten etwas in Erfahrung bringen kann. Die Wirklichkeit ist dabei das Primäre. In der Quantentheorie hängt jedoch ein Versuchsresultat auch davon ab, welche Frage man stellt: je nach der Versuchsanordnung detektiert man Wellen oder Teilchen. Was man als Wirklichkeit bezeichnet, ist aus dieser Sicht sekundär - abgeleitet aus Versuchsresultaten. Zeilinger sieht in der Problemsituation etwas Analoges zu der Situation in der Relativitätstheorie: Einstein hat gezeigt, dass die Realität am besten durch ein Raum-Zeit-Kontinuum beschreibbar ist. Raum und Zeit sind aus dieser Sicht zwei Seiten derselben Medaille. Zeilinger vermutet, dass in einem ähnlichen Sinn sich überzeugend dafür argumentieren ließe, dass "Wirklichkeit und Information dasselbe sind".

Für seine durch eine so hohe Dosis kühner Metaphysik möglicherweise verschreckten Leser hat Zeilinger Trost bereit: "Wenn die Leserin oder der Leser auf den letzten Seiten vielleicht stellenweise das Gefühl hatten, sich auf unsicherem Terrain zu bewegen und einzelne Punkte nicht genau zu verstehen, so kann ich beruhigend mitteilen, dass es mir, dem Autor, ähnlich geht." Das sei wirkliches Neuland und noch nicht einmal klar, ob man auch nur die richtigen Fragen gefunden hat.

Literatur:

R. A. Bertlmann, A. Zeilinger (Hrsg.): Quantum(un)speakables. From Bell to Quantum Information. Springer Verlag, Heidelberg 2002, 483 Seiten.

Anton Zeilinger: Einsteins Schleier. Die neue Welt der Quantenphysik, Verlag C. H. Beck, München 2003, 256 Seiten.

Freitag, 11. April 2003

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