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Eine Außenseitertheorie findet in der Wissenschaft allmählich Gehör

Übergewicht durch Viren?

Von Peter Markl

Manchmal gibt es selbst im heutigen Wissenschaftsbetrieb noch Geschichten, die wie Relikte aus einer vergangenen Welt anmuten - der Welt, in der einsame Wissenschaftler fernab von der Zentren der Forschung noch ein Kapitel beginnen können, das vielleicht einmal Wissenschaftsgeschichte sein wird. Die Geschichte von Nikhil Dhurandhar ist von dieser Art.

Nikhil Dhurandhar, ein Arzt, lebte in Bombay und er lebte dort von seinen wohlhabenderen Patienten gar nicht schlecht. Wie schon sein Vater hatte er sich auf die Behandlung von Fettsucht (Adipositas) spezialisiert und das brachte pro Jahr an die 1.000 Patienten in eine seiner drei Spezialkliniken.

So hätte das auch weitergehen können, wenn ihm nicht vor nunmehr bereits zwölf Jahren Sharad Ajinkya, ein alter Freund der Familie, der sich als Tierarzt auf Pathologie spezialisiert hatte, erzählte, dass er in seiner Klinik dabei war, eine katastrophale, von Viren verursachte Epidemie zu untersuchen, die in den Hühnerfarmen grassierte und dort Hunderttausende von toten Hühnern hinterließ. Was Ajinkya dabei aufgefallen war, schien seinem Freund so merkwürdig, dass die beiden beschlossen, es gemeinsam zu untersuchen.

Tiere, die an einer Virusinfektion sterben, verenden oft an einer Art Auszehrung - ihr Körper ist am Ende der verfügbaren Energiereserven angelangt. Bei diesen Hühnern war das entschieden anders: selbst bei ihrem Tod hatten sie noch überdurchschnittlich viel Fett in ihrem Körper.

Forschung von Außenseitern

Die beiden Freunde begannen mit einem naheliegenden Versuch. Sie isolierten das Virus, das unter der Kürzel SMAM-1 bereits bekannt gewesen war, und injizierten es einigen Versuchshühnern. Sechs Wochen später hatten diese Hühner fast 50 Prozent mehr Fett in ihrem Körper als eine Vergleichsgruppe. Das waren jedoch keine auf "normalem" Weg fett gewordenen Hühner. Normalerweise findet man in fetten Hühnern die Indizien für eine Stoffwechselstörung, die man auch von Menschen kennt: sie haben nicht nur überdurchschnittlich viel Körperfett, sondern auch einen höheren Cholesterinspiegel und erhöhte Triglycerin-Werte im Blut.

Das Immunsystem der Hühner hatte auch versucht, sich gegen die Attacke der Viren zur Wehr zu setzen und Antikörper gegen die Eindringlinge produziert. Die Viren selbst sind nur schwer nachzuweisen, aber man kann an der Präsenz dieser Antikörper erkennen, dass das Virus bereits am Werk ist. Man hatte bereits ein immunologisches Verfahren zur Fahndung nach diesen Antikörpern ausgearbeitet und es war Nikhil Dhurandhar, der auf die anfangs abenteuerlich anmutende Idee kam, doch einmal zu versuchen, ob man mit diesem Test die Antikörper gegen das Virus nicht auch in seinen Patienten aufspüren könnte.

Der Ausgang dieser Fahndung hat sein Leben geändert. Er hat das Serum von 52 seiner Adipositas Patienten getestet und bei zehn von ihnen die Antikörper gefunden. Nicht nur das: diese zehn Patienten waren die übergewichtigsten in seiner Testserie und - am allerverblüffendsten - auch diese zehn Patienten hatten niedrige Cholesterin-Werte im Blut.

Von da an war sich Nikhil Dhurandhar sicher, die Spur von etwas Bedeutendem aufgenommen zu haben. Er sah jedoch auch, dass es seine Möglichkeiten in Bombay überstieg, die Spur weiter zu verfolgen. Anfangs versuchte er, die prominentesten der in den USA arbeitenden Adipositas - Experten für seine Entdeckung zu interessieren. Er hatte - was niemanden überraschen kann - keinen Erfolg: ein Brief von einem unbekannten Arzt aus Indien, der mit einer im Licht aller diskutierten Theorien abstrus erscheinenden Vorstellung daherkommt, hat wenig Chancen auf eine faire Anhörung.

Und das hat auch gute Gründe: In großen Forschungsinstituten finden sich derartige Briefe immer wieder in der Post und sie sind fast immer von einzelgängerischen und hartnäckigen Außenseitern, deren Vorstellungen - obwohl offensichtlich falsch - doch gelegentlich schwer zu widerlegen sind. Wer sich darauf einlässt, findet einen Diskussionspartner, der eine andere Sprache spricht und ebenso schwer dazu zu bewegen ist, sich ernsthaft auf einen Diskussionspartner einzulassen, wie es manche Wissenschaftler sind. Am Ende solcher Gespräche steht dann Frustration auf beiden Seiten: Jemand mit einem großen Anliegen, das einmal mehr vom Establishment nicht angehört wurde und ein Wissenschaftler, der sicher ist, nur Zeit verloren zu haben.

Gelegentlich aber geht dabei Wichtiges unter und dafür wäre Nikhil Dhurandhars Entdeckung ein weiterer Beleg geworden, wenn er sich nicht entschlossen hätte, alles auf eine Karte zu setzen: er gab seine Kliniken in Bombay auf und übersiedelte mit seiner Familie in die USA - in der Hoffnung dort wenigstens im Gespräch Experten davon überzeugen zu können, dass man nicht ausschließen könne, dass Fettsucht auch die Folge einer Virus-Infektion sein könnte.

Glück in letzter Minute

Fast zwei Jahre lang sah es dann so aus, als ob sein mutiger Entschluss vergebens gewesen wäre. Dhurandhar fand zwar einen Job in einem Forschungslabor der Universität von North Dakota in Fargo, aber alle seine Bemühungen, Geld für seine Forschung über die Hühner-Virusinfektion aufzutreiben, waren erfolglos. Dhurandhar war schon entschlossen, diese Idee aufzugeben und nach Bombay zurückzukehren, als er mit Richard Atkinson in Kontakt kam, der an der Universität von Wisconsin in Madison über die Ursachen der Fettsucht forschte.

Richard Atkinson war in der Tat sein Mann. Er war sich nämlich der Tatsache bewusst, dass es drei andere Viren gibt, von denen man weiß, dass sie bei Tieren Fettsucht auslösen, weil sie im Gehirn die Zentren attackieren, durch die der Appetit geregelt wird. (Unter diesen Viren findet sich übrigens auch der Erreger der Hundsstaupe.) Atkinson hatte das allerdings nie wirklich ernst genommen. Es hatte ihm aber immer einen sicheren Lacher eingetragen, wenn er in seinen Vorlesungen die Möglichkeit erwog, dass Fettsucht auch bei Menschen eine Infektionskrankheit sein könnte: "Stellen Sie sich das vor", hatte er gelegentlich in seine Vorlesung eingeflochten, "Sie fahren nichtsahnend im Aufzug, jemand niest Sie an - und schon haben Sie sich die Fettsucht eingefangen."

Die Zusammenarbeit zwischen Nikhil Dhurandhar und Richard Atkinson wäre dann aber fast an einer administrativen Hürde gescheitert. Natürlich wollte man in einer ersten Phase die Experimente aus Bombay wiederholen und dazu brauchte man Proben der SMAM-1 Viren, die nur als Import aus Indien zu beschaffen waren. Dazu wiederum ist eine Erlaubnis des amerikanischen Landwirtschaftsministeriums notwendig und die haben die amerikanischen Behörden nicht gegeben - nicht ganz unverständlich, wenn man bedenkt, dass eine Panne bei der Arbeit mit diesen Viren nicht nur für die Hühnerzüchter katastrophal hätte enden können, sondern dass diese Viren eben auch im Verdacht standen, bei Menschen Fettsucht auslösen zu können.

In dieser Situation wollten Nikhil Dhurandhar und Richard Atkinson noch einen letzten Anlauf wagen: sie sahen sich nach verwandten Viren um, die es zu kaufen gibt. SMAM-1 Viren sind sogenannte Adenoviren. Davon sind an die 50 auf dem Markt, worunter sich ein Virus, das AD-36, befindet, das sich von den anderen immerhin so weit unterscheidet, dass seine Antikörper ohne ein zu hohes Risiko von falsch positiven Resultaten nachweisbar sein sollten. (Dieses Virus war übrigens erstmals aus dem Darm eines deutschen Mädchens isoliert wurden, das an Durchfall litt). Es war eine sehr gute Wahl: schon die ersten Versuche zeigten, dass das Virus Hühner um 75 Prozent fetter machte als die Kontrollgruppe und dass auch diese Hühner einen niedrigen Cholesterinspiegel hatten.

In den folgenden Versuchsreihen konnte man zeigen, dass AD-36 Infektionen auch bei auch Mäusen und Affen ähnliche Symptome auslöste - alle litten an zu viel Fett bei niedrigem Cholesterinspiegel. Und Menschen waren auch in Wisconsin keine Ausnahme: man fand dort in 32 Prozent der übergewichtigen Versuchspersonen jene Antikörper, welche ein Indiz für eine AD-36 Infektion sind, während sich in der Kontrollgruppe von 92 schlanken Amerikanern nur vier als infiziert herausstellten.

Kein Beweis bei Menschen

Bei Tieren ist der Befund eindeutig: es gibt eine Form infektiöser Fettleibigkeit, die von bestimmten Viren verursacht wird. Bei Menschen aber bleibt immer noch Raum für Skepsis. Selbst Nikhil Dhurandhar ist heute noch nicht bereit zu behaupten, dass es bewiesen sei, dass auch manche Fettleibige Opfer einer Virusinfektion geworden sind.

Vielleicht war ja das, was man sah, nur eine opportunistische Infektion und nicht die Ursache von Fettsucht: Viren, die nur eine Chance bekommen hatten, weil das durch Fettsucht beeinträchtigte Immunsystem der Patienten der Attacke der Viren nicht mehr standhalten konnte?

Nikhil Dhurandhar und Richard Atkinson suchten daher im Blut der Patienten Antikörper gegen drei weitere Adenoviren, die eigentlich auch zu finden sein müssten, wenn es sich um eine Infektion infolge des krankheitsgeschwächten Immunsystem handelte. Und man fand sie: gleich oft in den Schlanken wie in den Fettleibigen, aber nie begleitet von einem niedrigen Serum - Cholesterinspiegel. Es ist also immer noch nicht auszuschließen, dass es sich nur um eine opportunistische Infektion handelt.

Der überzeugendste aller Versuche, nämlich der Versuch, Menschen, analog zu den Tierversuchen, mit den Viren zu infizieren, ist aus ethischen Gründen ausgeschlossen. Also bleibt nur der Weg, durch eine Analyse der molekularen Wirkungsmechanismen der Viren ausfindig zu machen, ob dieser Mechanismus auch bei Menschen möglich wäre. Nikhil Dhurandhar, der mittlerweile Professor an der Wayne State University in Detroit geworden ist, setzt dazu - unter anderem - an einem Schlüsselpunkt an: Wieso findet man so wenig Cholesterin im Serum der virusinfizierten Patienten ? Beginnt die Leber weniger Cholesterin zu produzieren oder erhöht sich durch die Infektion die Geschwindigkeit, mit der die Leber Cholesterin abbaut ? Wenn die Leber ihre Produktion aufrecht erhält, wohin verschwindet dann das Cholesterin? Wenn weniger produziert oder schneller abgebaut wird, dann kann man beginnen, von Medikamenten zu träumen, welche die Wirkung der Viren nachahmen und so bei hohem Cholesterinspiegel hilfreich sein könnten.

Ansteckungsrisiko unklar

Jetzt, nach Nikhil Dhurandhars Kreuzzug, erhalten auch die Stimmen der Epidemiologen mehr Gewicht, welche seit langem vermutet hatten, dass die immer noch gültige herkömmliche Erklärung der Fettsucht - zu viele Kalorien und zu wenig Bewegung - nicht ausreicht: vielleicht, so vermuten jetzt viele der Experten, gibt es darüber hinaus doch auch eine virusausgelöste Fettsucht Epidemie ? Es gibt ja immerhin in der Geschichte der Medizin 1983 das faszinierendes Kapitel der Entdeckung der Ursachen von Magengeschwüren, Gastritis und manchen Formen von Magenkrebs: damals hatte der erst 32 Jahre alte australische Arzt Barry Marshall in einem Selbstversuch bewiesen, dass es das Bakterium heliobacter ist, welche diese Krankheiten verursacht. (Und nicht - wie manche Psychoanalytiker ihren gläubigen Gemeinden versichert hatten - eine Regression in einen infantilen Zustand, der einen inneren Konflikt zwischen "oral-rezeptiven und oral-sadistischen Impulsen" hervorruft, oder eine unglückliche Konstellation bei Elternpaaren, bei denen die Mütter "zu Haus dominant, antriebstark und obsessiv" waren, die Väter aber "ausgeglichen, passiv und auf ihren Ansichten wenig beharrend.")

Selbst wenn sich zeigen lässt, dass die Virusinfektion auch bei Menschen die Ursache von Fettleibigkeit sein kann, ist noch unklar, wie viele Prozent der Patienten Opfer einer Virusinfektion geworden waren. Man nimmt heute an, dass es an die 20 bis 30 Prozent sein könnten. Man weiß aber auch, dass selbst nach einer Infektion Zurückhaltung hilft: nicht jeder Infizierte wird auch fettleibig.

Noch ganz unklar aber ist eine der entscheidenden Fragen: wie lange kann - wenn überhaupt - die Infektion von Mensch zu Mensch übertragen werden ? Es steht zwar außer Frage, dass die Viren selbst sehr infektiös sind, aber man hat sie bisher bei keinem Menschen aufspüren können. Alles, was man finden konnte, waren die Antikörper gegen die bei Tieren pathogenen Viren und die sind harmlos. Bei den drei Versuchsaffen aber verschwanden die Viren aus dem Kot der Tiere 60 Tage nach der Infektion. Wenn etwas Ähnliches auch für Menschen zutrifft, dann liegt die Zeit, in der sie infektiös gewesen sein könnten, bereits weit zurück.

Literatur: Bob Holmes: The obesity bug. New Scientist vom 5. August 2000.

Freitag, 25. August 2000

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