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Die Bartgeier sollen in Österreich wieder angesiedelt werden

Gefiederte Alpenbürger

Von Stefan Spath

Junge Bartgeier verbringen viel Zeit mit Nichtstun. Alle paar Minuten spähen die Beobachter durch das Fernrohr, das ihnen eine Felshöhle im Osttiroler Ködnitztal zeigt. Meist lautet die Eintragung ins Protokoll dann lapidar "SUS": "Sitzen und Schlafen". Nur manchmal kommen Toto und Hubertus nach vorne, um an den Knochen zu zupfen, die ihnen ihr Betreuer Michael Knollseisen vor die Füße geworfen hat. Erst wenn sie sich an die Umgebung gewöhnt haben, in die sie drei Monate nach ihrer Geburt versetzt worden sind, nimmt das Selbstbewusstsein der beiden Jungvögel zu. Und schließlich kommt der Augenblick, für den die Geier-Betreuer am Fuße des Großglockners zigtausend Mal durchs Fernrohr gestarrt haben: Toto, geboren am

30. März 2004 in Hannover, aufgezogen in Niederösterreich, künftig Alpenbürger mit ungewissem Wohnort, macht aus dem Stand ein paar Hüpfer. Dann hebt er ab und segelt in ein Geröllfeld. "Um 8.12 Uhr am 26. Juli 2004 ist Toto das erste Mal geflogen", berichtet Knollseisen stolz. Hubertus folgt seinem Nestkollegen einige Tage später in die Lüfte.

Die Bartgeier erobern sich ein Gebiet zurück, aus dem ihre Artgenossen vor mehr als 100 Jahren verschwunden sind. Heimlich, still und leise ist Gypaetus barbatus in Österreich, Italien, Frankreich und der Schweiz wieder heimisch geworden. Sein gefiederter Kopf, seine durchdringenden, rot umrandeten Augen, sein weiß oder braun gefiedertes Brustkleid und seine silbrig-schimmernden Schwungfedern machen ihn zum schönsten Vertreter der Geier-Sippe. Die bartähnlichen Federbüschel an der Unterseite des Schnabels haben ihm seinen Namen beschert.

Kinderstube in Haringsee

Die Fäden des wohl erfolgreichsten Artenschutzprojektes in Europa laufen an einem Ort zusammen, der eine Antithese zum Lebensraum der Bartgeier darstellt: mitten im Marchfeld. Auf einem 13.000 Quadratmeter großen Gelände in Haringsee lebt das Treibgut der Greifvögel: angeschossene Falken, aus dem Nest gepurzelte Eulen, ein Steinadler, der von seinem Besitzer auf Hunde abgerichtet wurde und rot sieht, wenn der hauseigene Beagle die Voliere entlang trottet. Unbestrittene Stars der Eulen- und Greifvogelstation sind aber die Bartgeier. In der "Vienna Breeding Unit" wird ihr Zuchtbuch geführt und entscheiden, welche Geier miteinander verpaart und welche für die Freilassung vorbereitet werden.

Der Startschuss für das Projekt fiel in den 1970er Jahren. Damals lösten die Bruterfolge eines Paars im Alpenzoo Innsbruck den Wunsch aus, den größten Vogel der Alpen wieder heimisch zu machen - so erinnert sich Hans Frey, der das Bartgeier-Projekt leitet und als Veterinär und Zoologe an der Veterinärmedizinischen Universität Wien tätig ist. Frey wurde von Winfried Walter, damals Geschäftsführer des WWF Österreich, gefragt, ob er die Station Haringsee zu einer Bartgeier-Zuchtstation ausbauen könnte. Er konnte und wollte, nicht zuletzt deshalb, weil sich die Zoologische Gesellschaft Frankfurt bereit erklärte, den Löwenanteil der Kosten zu tragen. Das Projekt stieß auf riesige Resonanz. Mittlerweile sind über 40 Tiergärten am "Europäischen Erhaltungszuchtprogramm" für Bartgeier beteiligt. Mittel steuern nationale Verbände des WWF, Naturschutzorganisationen, Regierungsstellen, die Europäische Union, Nationalparks und private Sponsoren wie die Österreichischen Lotterien bei.

Die Geier entwickelten Techniken, gefährdete Eier im Brutkasten auszubrüten und Küken von Ammengeiern aufziehen zu lassen. Der erste Bartgeier der neuen Generation, die auf Bestände aus Zentralasien zurückgeht, erblickte vor 25 Jahren das Licht der Welt. Weitere zehn Jahre dauerte es, bis ein ausreichender Zuchtstock zur Verfügung stand.

1986 war es dann soweit: Die ersten Junggeier wurden im Rauriser Tal im Nationalpark Hohe Tauern ausgewildert. Es folgten Freilassungen im Raum Engadin/Stilfser Joch (Schweiz/Italien), Hochsavoyen (Frankreich) sowie in der Region Alpi Marittime/Mercantour (Italien/Frankreich). Insgesamt erlangten damals rund 130 zoogeborene Bartgeier die Freiheit.

Diskrete Fütterung

Der Umstand, dass Bartgeier rasch auf eigenen Beinen stehen, erleichterte die Entwicklung von geeigneten Freilassungs-Methoden. Im Alter von zwei bis drei Monaten können Junge selbstständig fressen. Die Altvögel kommen nur noch selten vorbei, um Futter zu bringen. Frey und seine Experten entwickelten die Idee, zwei Jungvögel im Alter von etwa drei Monaten in einen künstlichen Horst zu setzen und diskret zu füttern, damit sie nicht auf Menschen geprägt werden. Diese Aufgabe übernahmen Auswilderungsteams. Im Nationalpark Hohe Tauern, wo jedes Jahr zwei Vögel freigelassen werden, leitet der Südtiroler Michael Knollseisen die im Sommer bis zu fünf Mitglieder starke Gruppe. In der einmonatigen Kinderstube ohne elterliche Aufsicht prägen sich die Junggeier ihre Umgebung ein und entwickeln eine Ortsbindung, erklärt Knollseisen den Vorzug der Methode.

Dass die Alpen nach wie vor ei nen geeigneten Lebensraum darstellen, hatten Artenschützer schon lange vermutet. Geeignete Reviere sieht Frey "überall dort, wo Kalkformationen sind, wo es ein gutes Angebot an Gämsen und Steinwild und auch viel Weidehaltung gibt, speziell Schafe. Sechs bis sieben Prozent Verluste bei den Schafen muss man in den Alpen rechnen. Das ist für die Bartgeier ein reich gedeckter Tisch". Bartgeier sind reine Aasfresser. Aufgrund ihres Faibles für Knochen, Sehnen und Haut machen sie kaum einem anderen Tier Futter streitig. Ihr erweiterter Schlund und ihr hochspezialisierter Verdauungstrakt gestatten es Bartgeiern, große Knochen zu schlucken und zu verwerten.

Die Einstellung der Bevölkerung zum Wiederansiedelungsprojekt war zunächst skeptisch, erinnert sich Frey. "Das war mit ein Grund, warum in Rauris die erste Freilassung erfolgt ist. Dort übersommerten immer schon Gänsegeier aus Istrien. Den Bauern war es nur recht, dass die Gänsegeier die abgestürzten Schafe verwerteten und ihnen die Arbeit abnahmen, die Kadaver wegzuräumen. Es war also in diesem lokalen Bereich eine positive Einstellung da".

Als die ersten freigelassenen Bartgeier ihre Kreise in den Alpen zogen, konnten die Bauern bald selbst beobachten, dass die Neuankömmlinge - im Unterschied zu den Steinadlern - von den Schafen völlig ignoriert wurden. Ein Unbedenklichkeitszeugnis par excellence. Trotzdem kommen auch heute noch Anfragen, ob Bartgeier nicht doch Lämmer schlagen oder Tiere in den Tod hetzen.

Ihr schlechter Ruf, der sich im kollektiven Gedächtnis der Alpenbewohner auch noch Generationen nach dem Tod des letzten Bartgeiers erhalten hat, stammt aus jener Epoche im 19. Jahrhunderts, als es wenig Wild in den Bergen gab und dafür Sündenböcke gesucht wurden. Je abgeschiedener die Gegend und je abergläubischer die Bevölkerung war, desto leichter war es, einem mächtigen Vogel mit beinahe drei Meter Spannweite alle möglichen Missetaten zuzuschreiben. Bald wurde behauptet, Bartgeier würden Lämmer durch die Lüfte davontragen. Von da war es nur mehr ein Schritt zu der Mär, den "Lämmergeiern" die Verschleppung von Kleinkindern anzudichten, wozu sie schon allein wegen ihrer schwachen Fänge nicht in der Lage sind.

Jäger, die Prämien für jeden Abschuss kassierten, schmückten die Ammenmärchen weiter aus. Zum Verhängnis wurde den Bartgeiern ihre Neugier. "Sie sind im Verhalten völlig anders als Steinadler. Diese sind extrem vorsichtig, wenn sie bejagt werden und halten Distanz. Wenn ein Bartgeier einen Schuss hört, schaut er nach, was los ist", sagt Frey. 1880 wurde in Kärnten der letzte österreichische Bartgeier vom Himmel geholt, knapp vor dem Ersten Weltkrieg im italienischen Aostatal das vermutlich letzte Exemplar der Alpen.

Bevölkerung eingebunden

Heute sind Bartgeier "sexy". In Kals in Osttirol strömten Anfang Juli 2004 400 Schaulustige zusammen, um die Auswilderung von "Toto" und "Hubertus" zu feiern. Dass die Identifikation mit den Vögeln steigt, ist nicht nur auf ein größeres Verständnis für die Natur zurückzuführen, sondern auch auf Aufklärungsarbeit. Hörer lokaler Radiostationen befinden über die Namen der Bartgeier, die abwechselnd in Kärnten, Tirol und Salzburg freigelassen werden. Und von den Tausenden von Wanderern, die von Juli bis September auf dem stark begangenen Weg vom Lucknerhaus zum Fuß des Großglockners unterwegs waren, ließ kaum einer die Gelegenheit aus, sich am Infostand über die Bartgeier zu erkundigen und sie im Fernrohr zu suchen.

Nicht wenige der ausgewilderten Jungvögel starten ihre große Freiheit mit einer Tour d'Horizon durch die Alpen. "Französische", "schweizerische" und "österreichische" Geier pflegen einen regen Austausch. Einige wenige treibt es ganz besonders um. Bis in eine Christbaum-Kolonie in Dänemark verschlug es den 2002 in den Hohen Tauern ausgewilderten Franz, während einer seiner Artgenossen den Sprung über die Nordsee bis in die norwegischen Fjorde wagte. Nach ihren Lehr- und Wanderjahren siedeln sich die Bartgeier vorwiegend in jener Region an, in der sie ausgewildert wurden. Mit 300 bis 500 Quadratkilometern haben ihre Reviere die zehnfache Größe eines normalen Steinadler-Reviers.

Trotz eines dicht geknüpften Monitoring-Netzes von rund 4.000 Geier-Freunden - Jäger, Hüttenwirte, Bauern und Nationalparkwarte - wissen die Betreuer nicht immer genau, wo sich ihre Schützlinge gerade aufhalten. Unterscheiden lassen sich die Bartgeier bis etwa zum dritten Lebensjahr durch individuell gebleichte Federn, mit denen sie in die Freiheit entlassen werden. Doch dann wird die Zuordnung immer schwieriger: Sie ziehen weit herum, und oft verschwinden die Ringe, ihr zweites Erkennungsmerkmal, unter den Beinfedern.

Die nächste Generation

Derzeit kreisen rund 100 Geier in den Alpen. "Wir wissen von 83 Tieren sicher, dass sie überlebt haben. Und wir vermuten es von weiteren 10 bis 15 Tieren", sagt Projekt-Chef Frey. Was ihn besonders freut: Seit Beginn der Auswilderungen sind 20 Jungvögel aus Freihorsten dazugekommen - alleine 2004 waren es 5. "Der Bruterfolg liegt bei etwa 0,70 pro Paar und ist damit höher als in den Pyrenäen".

Der erste Bartgeier der "zweiten Generation" schlüpfte 1997 in Frankreich. Mittlerweile hat er bereits einen Brutpartner gefunden - die dritte Generation kündigt sich an. Lediglich in Österreich wurde noch kein Nachwuchs verzeichnet. Drei Mal verschwand über den Winter - das ist die Brutzeit der Bartgeier - ein Vogel, erklärt Knollseisen. Einmal hätten Steinadler ein Brutpaar vertrieben, andere Missgeschicke kamen dazu.

Nachhaltig ist die Wiederansiedelung erst, wenn sich die Bartgeier in der Freiheit ausreichend fortpflanzen. Hans Frey berichtet, Berechnungen hätten ergeben, dass der Bestand groß genug sei, um sich selbst zu erhalten. Dennoch wolle man so schnell wie möglich auf etwa 200 Exemplare kommen. "Das wäre eine solide Population für den Alpenraum. Wir sind auf dem besten Weg dorthin, aber es wird noch ein bisschen dauern", sagt der Leiter der Operation Wiederansiedelung. Und für die weitere Zukunft wird überlegt, die bestehenden Populationen in den Pyrenäen (etwa 100 Brutpaare) und auf Korsika (etwa 10 Paare) mit den Alpen-Geiern zu vernetzen.

Freitag, 28. Jänner 2005

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