Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon   Glossen    Bücher    Musik 

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Warum Raben Wölfe lieben -und Götter Raben befragen

Lieblingstiere des Feuilletons

Von Walter Sontag

Warum drängen Raben und Wölfe ins Feuilleton? Vor zwanzig Jahren hätte ich mit dieser Frage nichts anzufangen gewusst. Denn für einen gewissenhaften Zoologen besteht zwischen dem Geschehen in der Natur und den künstlichen und literarischen Hervorbringungen unserer Spezies eine scharfe Trennung. Irritationen gegenüber solcherlei unzweideutigem Weltverständnis wurden damals umgehend beseitigt, Begriffsverschmutzungen drakonisch entsorgt. Das galt schon für den tier- und zoo-infizierten Schüler. Im Bücherregal meines Vetters fiel mir damals ein Titel auf: "Der Steppenwolf". "Ein sehr gutes Buch", versicherte mein gerade leicht revoltierender Cousin und stimmte - gewiss ahnunglos - in seinem Urteil mit Geistesgrößen wie Thomas Mann und Susan Sontag überein.

Gab es tatsächlich ein ganzes Buch über eine Spezies, von der ich noch nie gehört haben sollte? Beim Durchblättern bemerkte der junge Artensammler, dass an der Abhandlung etwas faul war - zoologisch gesehen. Damit wurde der Kultroman der 68er-Generation als unsaubere, nicht überprüfbare und somit belanglose Recherche weggelegt - und erst ein Dutzend Jahre später in anderem, literarischem Zusammenhang wieder hervorgekramt.

Seit je geht das menschliche Interesse an der Wolfsgattung über das Naturkundliche hinaus. Die hochbeinigen, schlanken Raubtiere verkörpern den Schrecken der Natur schlechthin: "Der Wolf und die sieben Geißlein" lehren es jedems Kind bis heute. Andererseits säugte eine Wölfin Remus und Romulus, die Gründer Roms laut abendländischem Kanon. Und immerhin stellt der Wolf, das Rudelwesen, den Ahnherrn des Hundes, des treuen Begleiters des Homo sapiens.

Zum gezähmten Abkömmling und anhänglichen Weggenossen legte der Wiener Philosoph und Lorenz-Adept Erhard Oeser kürzlich eine Studie vor. Bereits in der Überschrift "Der Anteil des Hundes an der Menschwerdung des Affen" kommt diese außergewöhnlich intime und mutmaßlich folgenreiche Assoziation zwischen dem Menschen und einer Tierart zum Ausdruck. Demnach traten hierbei die natürliche und die kulturelle Evolution in Wechselwirkung. Dem wölfischen Vorfahren wurde es freilich nicht gedankt. So verschwand die Spezies, ein wichtiger Beutegreifer im Haushalt der Natur, aus weiten Teilen ihres Verbreitungsgebietes. Doch langsam kehrt sie wieder zurück. Auf einem vereinsamten sächsischen Truppenübungsplatz wachsen nach einem mehr oder weniger wolflosen deutschen Jahrhundert erstmals wieder Wolfswelpen auf. Auch in Skandinavien erholte sich die Population. In den Pyrenäen und den Abruzzen hat sich die verfemte Art erhalten.

Wölfe sind der Inbegriff der Rastlosigkeit. Selbst in Grzimeks - allen wohlgesinntem - "Tierleben" lautet ein Zwischentitel "Der Wolf als Hetztier". Allerdings ein nützliches. Wie nützlich, erkennt man etwa daran, dass Wölfe im Yellowstone National Park vor zehn Jahren - ein halbes Jahrhundert nach ihrer Austilgung - wieder ausgesetzt wurden. Dieselbe Behörde, die mit Gift, Fallen und Dynamit für die Ausrottung gesorgt hatte, packte nun die Reue. Elche, Bisons und Wapitis drohten das symbolträchtige Reservat zu überweiden. In Wyoming war 1872 die Nationalparkidee zum ersten Mal Wirklichkeit geworden. 9.000 Quadratkilometer Land, ein ganzes Ökosystem, ein Stück des legendären amerikanischen Westens, sollte der Nachwelt unversehrt erhalten bleiben, als Idylle im Schlachtfeld.

Die Waffen der weißen Eindringlinge hatten die Prärie von den Millionenherden der Indianerbüffel geleert und damit den Ureinwohnern die Lebensgrundlage geraubt. Ende des 19. Jahrhunderts waren die massigen Zottelwesen nahezu ausgerottet. Mittlerweile ziehen sie wieder in beachtlicher Zahl über die Grasfluren. Im Yellowstone stieren sie stumm auf die Autokolonnen der Besucher und erfüllen so den Traum der urbanen Gesellschaft von der Wildnis. Jäger bildeten gegen die Flut der Huftiere ein notdürftiges Regulativ - bis Wölfe wieder zugelassen waren. Durchschnittlich drei- bis fünfmal pro Woche machen sie Beute unter den Geweih- und Hornträgern, durchtrainierte, 30 kg schwere Läufer gegen Pflanzenfresser von mehrfachem Gewicht. Erwachsene Elche, eine Lieblingsspeise, bringen 300 Kilo auf die Waage.

Mit der Heimkehr der Wolfsgattungen Timber, der Formierung der Druid Gang und des Soda-Butte-Rudels brachen für die Kolkraben im Yellowstone goldene Zeiten an. In vielen Gegenden Nordamerikas treten die mächtigen Krähenvögel als lästige, geradezu parasitäre Tischgenossen der Wolfstruppen auf. Was Isegrimms Horden zur Strecke bringen, scheint die sprichwörtlichen Unheilkünder magisch anzuziehen. Koyotenbeute oder verendetes Wild dagegen lassen die schwarzen Raben häufig ungerührt zum Himmel stinken. Nach vorsichtigen Schätzungen verzehren sie täglich zwei bis zwanzig Kilogramm Fleisch aus dem Riss des Wolfkollektivs. Den wirksamsten Schutz gegen übermäßigen Mundraub bietet den vierbeinigen Jägern der Zusammenschluss zu möglichst zahlenstarken Rudeln.

Die enge Verbindung zwischen Wolf und Rabe wird bereits in einem der Vorläufer des Feuilletons, in den alten Mythen, erwähnt. Odin, in der nordischen Sagenwelt der Herrscher über Menschen und Götter, hatte zwei Wölfe an seiner Seite und ein Rabenpaar auf seiner Schulter. Hugin (Gedanke) und Munin (Gedächtnis) schickte er in der Dämmerung zum Erkundungsflug bis ans Ende der Welt aus. Nachts kamen die beiden Vögel zurück und flüsterten ihm die Geheimnisse, die sie erfahren hatten, ins Ohr. Die heutige Wissenschaft bestätigt: Raben sind gesprächig. Die gesamte Krähenfamilie ist seit langem für ihre Intelligenz bekannt.

Neuerdings wird unter Kognitionsforschern die Frage diskutiert, ob Krähen "gefiederte Menschenaffen" seien. Die im fernen Neukaledonien heimischen Krähenvertreter haben nämlich eine regelrechte Kultur der Werkzeugherstellung entwickelt. Aus den Blättern der Schraubenpalmengattung Pandanus erzeugen sie bis zu dreißig Zentimeter lange, mehrstufige Sonden, die zum Ende hin stark verjüngt sind. Damit stochern sie in bis zu zehn Zentimeter tiefen Spalten nach Nahrung. Wer weiß, was sie noch an neuen Erfindungen in petto haben.

Walter Sontag lebt als Zoologe und Publizist in Wien und schreibt im "EXTRA" seit 1991 über biologische, ökologische und literarische Themen.

Freitag, 15. Oktober 2004

Aktuell

erlesen: Zwei verwandte Meister der kleinen Form
Kronauer, Brigitte: Sprache, Klang und Blick
Zum Werk der Georg-Büchner-Preisträgerin Brigitte Kronauer
Mann, Erika: Des Dichters Liebling
Zum 100. Geburtstag von Thomas Manns ältester Tochter Erika

1 2 3

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum