Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon   Glossen    Bücher    Musik 

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Möwen beschäftigen seit eh und je die menschliche Fantasie

Begnadete Segler

Von Ingeborg Waldinger

Was einem Strandspaziergänger nicht alles widerfahren kann! Da schlendert er dahin, gedankenverloren, um sich herum nur das Tosen der Brandung. Plötzlich erschallt eine Stimme aus dem Off und ruft ihm zu: "Jonathan Livingstone Seagull!" Genau so soll es sich zugetragen haben, damals im Jahre 1959, als Richard Bach an irgendeinem Gestade der Inspirationsfunke streifte. Ein Funke mit aufschiebender Wirkung, denn der Nutzen sollte sich erst Jahre später einstellen. Richard Bach hatte das Schlüsselerlebnis literarisch aufgearbeitet - und mit seinem Roman von der wundersamen Möwe "Jonathan Livingstone Seagull" 1970 einen Welterfolg gelandet.

Der außergewöhnliche Vogel kann nicht bloß denken und sprechen, er ist unsterblich. Nach seinem physischen Tod vollzieht sich die Wandlung zum "Spirit in the sky". Seine Geistgestalt steuert die Artgenossen durch die Lüfte, treibt sie zu kühnen, phantastischen Formationen. Doch die Breitenwirkung dieser Geschichte gründet nicht in atemberaubender Luftakrobatik. Jonathan Livingstone Seagull segelt auf esoterischen, kosmisierten Luftpolstern. Überwunden sind die Gesetze von Zeit und Raum, heraufbeschworen der Traum von Liebe und Freiheit. Die strahlend weiße Möwe entpuppt sich als diffuser Sinnstifter, als Federvieh mit Erlösergestus. Ein Stoff, wie gemacht für das Kino: "Die Möwe Jonathan" wird zum Kassenhit.

Vielleicht entquoll Richard Bachs Möwenmystik ja dessen oft kolportierter Mitgliedschaft bei der amerikanischen Glaubensgemeinschaft "Christian Church". Immerhin predigt diese Vereinigung den Sieg des Geistes über die Materie.

Boten und Vorboten

Um auf denkwürdige Möwen zu stoßen, bedarf es nicht unbedingt eines Ausflugs in die Esoterik. Auch im Volksglauben vieler Küstenbewohner spielen diese Meeresvögel eine besondere Rolle. So gelten sie den Bretonen - unter anderem - als Künder des Todes: Kehrt ein Seemann von den Weiten des Ozeans nicht mehr zurück, fliegen die Möwen zu seinem Haus und schlagen mit den Flügeln gegen die Fensterscheiben. Die Familie weiß das Zeichen zu deuten.

Eine russische Volkssage wiederum erzählt von einer Witwe, deren Mann von den Tataren ermordet worden war. Um die verschwundene Leiche des Gemahls aufzuspüren, schlüpft die gute Frau in die Gestalt einer Möwe. Der Blick von oben erleichtert das Manöver, die fliegende Witwe wird fündig. Im norddeutschen Wismar hingegen hielt sich der Aberglaube, kreischende Möwengeschwader überm Schiffsheck würden die Seelen ruheloser Seefahrer verkörpern.

All diesen Beispielen ist eines gemeinsam: Die Möwen schlagen eine Luftbrücke in überirdische Gefilde, stehen mit dem Jenseits in Verbindung. Ihr Aufstieg in lichte Höhen bringt sie in Verbindung mit dem Göttlichen. Dieser gängige Topos der Vogelsymbolik kulminiert schließlich in der Vorstellung, des Menschen Seele könnte den Körper nach dem Tod in Vogelgestalt verlassen.

Jenseits aller Transzendenz eignen sich Möwen auch für höchst profane Botendienste. Wie sang doch Hans Albers? "Kleine Möwe, flieg nach Helgoland; bring dem Mädel, das ich liebe, einen Gruß . . ."

Menschen, deren Existenz vom Rhythmus der Natur abhängt, beobachten diese besonders genau. Ob Indianer, Bauern oder Fischer, sie alle lesen im "Großen Buch". Um die Entwicklung des Wetters vorauszusehen, studieren sie die Wolken, die Farbe des Meeres, das Verhalten der Tiere. Gewiss, heute liefern komplexe Computermodelle meteorologische Prognosen, doch wer die Anzeichen der Natur zu deuten weiß, wird sie vermutlich miteinbeziehen. Noch einmal seien die Bretonen erwähnt: So mancher alte Fischer soll ihn noch verstehen, den ganz speziellen Schrei der Möwen, wenn sie unruhig über dem Dorfe kreisen. Dieser Laut verheißt Sturm. Kommen die Möwen hingegen an Land, um nach Würmern zu picken, nahen Regen oder große Kälte.

Wegweiser auf hoher See

Auf offener See können Möwen wertvolle Lotsendienste leisten, indem sie den Fischern ergiebige Fanggründe anzeigen. Oder einen Pottwal, dem verwegene Kerle

hinterherjagen wie einem Phan-tom. Wenn die weißen Vögel

dann endlich über dem Wasser

zu flattern beginnen und mit

freudigem Geschrei über einer Stelle kreisen, dann weiß auch Herman Melvilles Kapitän Ahab: hier taucht der "große Gott", dessen

Buckel einem Schneeberg gleicht. Hier taucht Moby Dick.

Man muss nicht unbedingt selbst zur See gefahren sein, um mit der wohl populärsten Dienstleistung dieser Seevögel vertraut zu sein: Möwen sind Künder der nahen Küste. Wir kennen die Szenerie aus unzähligen Geschichten: Von Hunger, Durst und Sturm geplagt, treiben Schiffbrüchige hilflos auf offener See. Da kommt das Auftauchen dieser Vögel freilich einer erlösenden Botschaft gleich. Erblicken die dem Schicksal Überlassenen auch nur eine einzige Möwe, schöpfen sie neuen Mut und mobilisieren ihre letzten Kräfte. Nicht selten stehen ihnen aber noch ungeahnte Prüfungen bevor: "Es wimmelte von Möwen. Manchmal ließen sie sich auf dem Wasser nieder, neben braunen, wogenden Tangteppichen. Gruppenweise dümpelten die Vögel bequem auf dem Meer . . . Oft kamen [sie] ganz nahe und starrten die Männer an mit ihren Augen wie schwarze Glasperlen. Ihr forschender Blick hatte dann etwas Unheimliches und Bösartiges, und die Männer suchten sie zu verscheuchen . . ." Es sollte noch qualvolle Stunden dauern, bis die vier Schiffbrüchigen aus Stephen Cranes Erzählung "Das offene Boot" endlich das rettende Ufer erreicht hatten.

Besuche an Land

Möwen sind begnadete Segler. Dennoch kommen auch sie gelegentlich an Land. Etwa, um in schwer zugänglichen Klippen ihre Brut aufzuziehen. Oder um sich Futter zu holen. Das besteht keineswegs nur aus Würmern und Bewohnern von Gezeitentümpeln. Möwen bedienen sich in Fischereihäfen oder holen sich, was der Mensch unbeaufsichtigt stehen lässt (offene Küchenfenster haben etwas unwiderstehlich Einladendes!). Auch Wegwerfware verschmähen sie nicht. Ganze Möwenpopulationen durchsuchen unsere Müllhalden, und dies nicht nur in Küstenregionen.

Winters scharen sie sich gerne um die Gewässer des Kontinents; manche bleiben das ganze Jahr. In Zürich erhob man die hurtigen, zügellosen Nahrungsverwerter in den Rang eines Warenzeichens: sie standen für die Gastronomiekette Mövenpick Pate.

In den Städten gibt das scharenweise Auftreten der luftigen

Gäste nicht nur zur Freude Anlass. Ihre kalkigen Spuren überziehen respektlos Straßen und Bauten, verursachen hohe Reinigungskosten. Die Munizipalverwalter suchen den Plagegeistern mit

allen nur denkbaren Mitteln an den Leib zu rücken: Man sterilisiert ihre Eier, hofft sie mit zischenden Geschossen zu vertreiben.

Im Städtchen Dieppe an der Ärmelkanalküste ließ man via Lautsprecher Hilferufe von Möwen erschallen - ohne Wirkung. Also holte man einen Falkner, um die geschützte Spezies zu vertreiben. Doch der losgelassene Falke bewirkte bloß, dass sich die Gegner massiv gruppierten und ein Ohren durchdringendes Gekreische losließen. Worauf dem Falkner

nichts anderes übrig blieb, als seinen Scharfmacher wieder einzuziehen.

Solch unerwünschte Nebenwirkungen vermögen aber die positive Aura der Möwe nicht zu trüben. Dieser Vogel nährt unser Fernweh, weckt ewige Sehnsüchte. Mit seinem Bild verbindet sich die Vorstellung grenzenloser Freiheit. Wer "Möwe" sagt, denkt an weite Horizonte, an Himmel und an Meer. Er denkt in Weiß und Blau, in den Farben der Klarheit und der Träume. Auf dieses Spektrum hat auch Nicolas de Stael sein Gemälde "Möwen" aus dem Jahr 1955 reduziert. Der französische Maler russischer Herkunft lässt den Bildbetrachter Möwen nachblicken, die einem unendlichen Blau entgegensteuern.

Der Weg in die Freiheit

Freiheit lautet auch die Losung der jungen Nina Michailowna Sarjetschnaja in Anton Tschechows Schauspiel "Die Möwe". Ist es

eine Komödie oder ist es eine

Tragödie? Was der Autor eine

Komödie in vier Akten nennt,

stellt sich als melancholisches Bild einer welkenden Gesellschaft heraus. Ort der Handlung: der an einem See gelegene Sommersitz einer alternden Schauspielerin. Gemeinsam mit ihrem pensionierten Bruder, ihrem erfolgreichen Dichterfreund Trigorin und ihrem perspektivelosen Dichtersohn Treplev schlägt sie dort die Zeit tot. Der Ennui greift um sich, man raucht, trinkt, angelt, spielt Kricket oder Theater.

Nina, die Tochter des gegenüberliegenden Landguts, Nina, hegt verbotene Schauspielerambitionen. Es zieht sie zum See "wie eine Möwe". Und Treplev zieht es zu ihr. Eines Tages schießt er eine Möwe und legt sie Nina zu Füßen, doch die derart Beschenkte reagiert gereizt auf den düsteren Symbolismus. Rivale Trigorin kommt hinzu, und leitet aus der Szene offenbar mehr ab als das Sujet für eine kleine Erzählung: ". . . am Ufer eines Sees wächst ein junges Mädchen auf, ein Mädchen wie Sie; sie liebt den See wie eine Möwe, und sie ist glücklich und frei wie eine Möwe. Aber da verschlägt es einen Mann an den See, er sieht sie, und vor lauter Nichtstun stürzt er sie ins Verderben, so wie diese Möwe."

Die geschossene Möwe findet, ausgestopft und präpariert, ihren Platz im Gesellschaftsraum. Eine traurige Trophäe in einer Atmosphäre tödlicher Langeweile. Für Treplev gibt es nur den angekündigten, düsteren Ausweg. Nina aber hat den Schwung der Möwe. Sie hat die Kraft, ihren weiten Weg in die Freiheit zu gehen.

Der Möwenarten gibt es viele. Lachmöwen, Silber-, Mantel- oder Zwergmöwen. Für Christian Morgenstern macht das keinen Unterschied:

"Die Möwen sehen alle aus,

als ob sie Emma hießen.

Sie tragen einen grauen Flaus,

und sind mit Schrot zu schießen.

Ich schieße keine Möwen tot,

ich lass sie lieber leben.

Und fütt're sie mit Zuckerbrot

und südlichen Zibeben."

Freitag, 09. Juli 2004

Aktuell

erlesen: Zwei verwandte Meister der kleinen Form
Kronauer, Brigitte: Sprache, Klang und Blick
Zum Werk der Georg-Büchner-Preisträgerin Brigitte Kronauer
Mann, Erika: Des Dichters Liebling
Zum 100. Geburtstag von Thomas Manns ältester Tochter Erika

1 2 3

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum