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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Über das gestörte Verhältnis der Menschen zu diesem Tierchen

Lieber, schädlicher Maikäfer

Von Peter F. N. Hörz

Menschen - zumindest in Mitteleuropa - haben im Allgemeinen keine sentimentalen Beziehungen zur Welt der Insekten. Vielmehr erscheint ihnen, zumal den Stadtbewohnern, alles, was da in Wohnungen, Gärten, Parks und in freier Natur so kreucht und fleucht, schwirrt und brummt, reichlich suspekt. Na gut, Schmetterlinge sind schön anzuschauen und erfreuen somit das Auge beim Sonntagsspaziergang. Bienen liefern Honig und sind somit, so lange sie nicht stechen, immerhin nützlich. Nachtfalter hingegen haben den gravierenden Nachteil, dass sie bei ihrem Ableben auf der Windschutzscheibe klebrige Reste hinterlassen, die nur mit Mühe zu entfernen sind, und auch über Motten im Kleiderschrank kommt keine wirkliche Freude auf . . .

Folgt man den Urhebern apokalyptischer Zukunftsvisionen, dann werden es die Insekten sein, die es am längsten auf diesem Planeten aushalten werden. Weil wir aber all das Krabbelzeug so ekelhaft finden, vergönnen wir der Insektenwelt nicht einmal das kärgliche Überleben auf einem kontaminierten, kahl gefressenen Globus. Oder findet es etwa jemand korrekt, wenn die Menschheit vor der Stubenfliege ausstirbt?

Schaden in Wald und Flur

Wie auch immer, unser Verhältnis zu Insekten ist gestört. Deshalb haben wir uns so furchtbar geekelt, als Daniel Küblböck fürs Privatfernsehen in die Kakerlaken-Wanne gestiegen ist. Deshalb greifen wir sofort hysterisch zur Spraydose, wenn hinterm Bücherregal irgendetwas krabbelt. Ganz zu schweigen von all den Chemikalien, die wir im Schuppen aufbewahren, um Kohlrabibeete gegen Maulwurfsgrillen und Erdäpfelpflanzen gegen Kartoffelkäfer zu verteidigen. Es mag ja sein, dass in anderen Regionen der Welt die Vorstellung an einen eiweißreichen Heuschreck Appetit anregend wirkt, bei uns jedenfalls sind Insekten pfui. Oder doch nicht?

Nun, einige Ausnahme-Insekten erfreuen sich in unserer Kultur einiger Beliebtheit: Da wäre zum Beispiel das Marienkäferl, das uns als Begleiter durch den Sommer lieb und wert ist. Nicht nur, weil es die Blattläuse in Schach hält, sondern auch, weil es dem Kinderlied folgend - Frauenkäferl, flieg nach Mariabrunn! - als Garant für sonnige Tage gilt. Eine Zuneigung, die irgendwie nachvollziehbar ist, weil das kleine Käferchen mit seinen schwarzen Punkten auf der roten Flügelaußenseite ja wirklich recht putzig designed ist.

Weit weniger verständlich indessen ist unsere Liebe zum Maikäfer. Der nämlich ist alles andere als putzig anzuschauen, kommt eher ein bisschen tumb und unbeholfen daher und ist - anders als der Marienkäfer - ein zumindest unter Land- und Forstwirten unumstrittener Schädling für Wald und Flur. Und dennoch entblöden wir Städter uns nicht, den Frühling mit Schokoladen-Maikäfern zu zelebrieren und das Nichterscheinen von Maikäfern als Zeichen dafür zu nehmen, dass das Ende der Welt nicht mehr ferne sei. Seit Reinhard Mey in den siebziger Jahren in seinem Käfer-Requiem "Es gibt keine Maikäfer mehr" so hinreißend glaubhaft versicherte, dass das brummende Insekt im neu erbauten Parkhaus seiner Stadt keinen Lebensraum mehr fände, halten wir den Käfer für fast ausgestorben, möchten ihn am liebsten auf der Artenschutzliste sehen und würden ohne zu zögern für eine Maikäfer-Aufzuchtstation in Schönbrunn spenden. Doch halt! Der Maikäfer auf der Roten Liste der aussterbenden Spezies - ist das nicht übertrieben? Und haben wir uns Reinhard Meys Molltöne nicht vielleicht ein wenig zu sehr zu Herzen genommen?

Doktor Peter Cate von der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES), Spezialist für Fragen des Umgangs mit allerhand Krabbeltieren in der Landwirtschaft, weiß, dass der Maikäfer nicht ausgestorben ist, und findet die Idee des Artenschutzes für diesen Käfer geradezu absurd! Vielmehr, so Cate, gäbe es in zahlreichen europäischen Regionen Europas große Probleme mit Maikäfern, vor allem mit Engerlingen. Im süddeutschen Kaiserstuhl-Gebiet etwa, in den Wäldern zwischen Darmstadt und Frankfurt am Main und in Südtirol, dürfte es - den Worten Cates zu Folge - immer wieder recht heftig brummen. Aber auch im kärtnerischen Gailtal, im Inntal in Vorarlberg und in Niederösterreich tritt der Käfer nach wie vor regelmäßig auf. Niederösterreichische Weingärten seien durch den Wurzelfraß der Engerlinge zum Teil schwer geschädigt worden.

Drei Arten von Maikäfern

Wie ist das aber überhaupt mit Maikäfern und Engerlingen, mit Fraßschäden in Wäldern und landwirtschaftlichen Kulturen? Und was ist überhaupt ein Maikäfer? Die Entomologen, jene Käferkundler, die wir uns gerne als ergraute Männer mit langen Bärten vorstellen, die unentwegt, über Vitrinen voller verstaubter Krabbeltiere gebeugt, darüber nachdenken, was ihnen in ihrer Sammlung noch fehlt, haben dort Ordnung geschaffen, wo ignorante Städter einfach nur Maikäfer sehen: Eingeordnet in die Familie der Scarabaeidae, der Blatthornkäfer, unterscheiden wir in Mitteleuropa drei Arten von Maikäfern: Erstens gibt es den Feldmaikäfer, Melolontha melolontha, 20 bis 30 Millimeter lang und der immer noch am meisten verbreitete Krabbelbursche. Zweitens haben wir Melolontha hippocastani, den Waldmaikäfer, der üblicherweise 22 bis 26 Millimeter Länge erreicht und heute nicht mehr häufig zu finden ist. Richtig selten aber ist dritte Maikäfergattung: Von Melolontha pectoralis heißt es nämlich, er sei zuletzt nur mehr an einigen Orten in Süddeutschland gesehen worden . . .

Allen Arten gemeinsam ist, dass sich die weiblichen Käfer mit ihren zu Grabewerkzeugen ausgebildeten Vorderbeinen Mitte Mai bis Juni etwa 20 Zentimeter tief in den lockeren Boden eingraben, um dort 20 bis 30 Eier abzulegen. Eine Prozedur, die sie nach etlichen Fresspausen im jungen Laub der Bäume in der Regel noch zweimal wiederholen, bis insgesamt rund 60 Eier abgelegt sind. Und aus diesen Eiern schlüpfen nach vier bis sechs Wochen jene Engerlinge, die in der Land- und Forstwirtschaft so sehr gefürchtet sind. Drei bis vier Jahre leben die Engerlinge im Boden und fressen dort nichts anderes als Wurzeln. Und zwar am liebsten zarte Wurzeln von Jungbäumen, Gemüsen, Getreiden, frisch gepflanzten Rebstöcken und anderen Kulturpflanzen, die Förstern und Bauern am Herzen liegen.

Im Sommer des dritten oder vierten Jahres verpuppen sich die Engerlinge im Erdreich, um sodann als voll entwickelte Käfer (Imago) noch einmal im Erdreich zu überwintern. Mitte April des vierten oder fünften Jahres schließlich krabbeln die Käfer ans Licht, brummen durch die Frühjahrsluft und ernähren sich fortan vom frischen Laub der Bäume. Folgt man dem Experten Cage, so sind die von den Käfern selbst verursachten Schäden im Vergleich zu dem, was die Engerlinge anrichten, eher gering. Bei massenhaftem Auftritt jedoch - Experten sprechen davon, dass es alle 30 bis 45 Jahre zu zyklischen Massenvermehrungen kommt - können auch die Käfer selbst einen desaströsen Appetit auf Grünzeug entwickeln. Kein Wunder, dass man den Maikäfer seinerzeit, als man seiner noch nicht mit chemischer oder biologischer Keule Herr werden konnte, strafrechtlich verfolgte: Im Jahre 1320 lautete das Urteil einer kirchlichen Gerichtsverhandlung im französichen Avignon: ". . . dass sich die Maikäfer binnen drei Tagen auf ein ihnen durch Tafeln bezeichnetes Feld zurückzuziehen hätten, woselbst Nahrung für sie vorhanden sei, und die Zuwiderhandelnden als vogelfrei behandelt und ausgerottet werden sollten."

Doch wie diese mittelalterliche Gerichtsdrohung der Ausrottung ins Leere gelaufen war, so scheiterten letztlich auch alle weiteren Versuche, dem Maikäfer endgültig den Garaus zu machen. Was immer auch der Mensch unternahm, um das krabbelnde Tierchen auszumerzen, die Vernichtung der Spezies ist ihm nicht gelungen. Wie viele Generationen von Kindern in ganz Europa wohl zum Maikäfersammeln abkommandiert wurden? Wie viele Kiloprämien wohl in all den Jahrhunderten für die Käfer fangenden Jungen und Mädchen gezahlt wurden? Wir vermögen es nicht zu sagen . . .

Sicher hingegen ist, dass in der berüchtigten hessischen Maikäfergegend rund um Darmstadt kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 15.000 Kilogramm Maikäfer eingesammelt wurden, was geschätzten 20 Prozent der Gesamtpopulation in dieser Region entsprach. Im schweizerischen Kanton Zürich hatten eifrige Jäger 1909 etwa 350 Millionen Tiere bei den Sammelstellen abgeliefert, und ältere Wiener mögen sich noch daran erinnern, dass 1951 rund eine Milliarde Käfer aufgeklaubt wurden, die in der Städtischen Tierkörperverwertungsanstalt tonnenweise zu Maikäfermehl verarbeitet wurden - als proteinreiches Futter für Hühner und Schweine.

Kein Einzelfall, denn allerorten in Europa fanden die gesammelten Käfer - ganz, in Stücken oder als Mehl - Verwendung als Vieh- oder Fischfutter. Und aus eigener Anschauung kann ich sagen: Hühner sind von Maikäfern geradezu begeistert. Dass man in jüngerer Zeit oft dazu überging, Maikäfer einfach nur zu verkompostieren, mag angesichts derart vielseitiger Verwendungsmöglichkeiten geradezu als Verschwendung erscheinen.

Und dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass Maikäfer auch den Speiseplan der Menschen um wertvolle Proteine bereichern können: Um dem Hungertod zu entgehen, ernährten sich die Bewohner der irischen Grafschaft Galwan im Jahre 1688 ein Frühjahr lang von den Krabbeltieren. Aber auch ohne die Hungersnot im Nacken verspeiste man in einigen Regionen Frankreichs Maikäfer, oder kochte aus ihnen, etwa in einigen deutschen Gegenden, eine kräftige, energiespendende Suppe. Wenn man einer deutschen Tageszeitung aus dem Jahre 1925 Glauben schenken mag, dann aßen damals "unsere Studenten (. . .) die Maikäfer ganz roh, ganz wie sie sind und nicht wenige ohne den geringsten Nachteil. In vielen Konditoreien sind sie verzuckert zu haben, und man isst sie kandiert in Tafeln zum Nachtisch."

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Käferbekämpfung technisiert und das Tier aus den Speiseplänen getilgt: Insektizide, die von Flugzeugen aus über die Landschaft versprüht wurden, sollten den Käfer zu einem Relikt der Naturgeschichte machen. Doch der dicke Brummer hat am Ende sogar das berüchtigte Spritzmittel DDT überdauert. Dezimiert zumindest wurden die Populationen in der Tat. Allerdings nicht nur durch die Insektizide, sondern auch infolge von natürlichen Krankheiten und Parasitenbefall. Die Bestände haben sich - wie man hört - inzwischen "erholt" und nicht nur Experten wie Peter Cage warnen davor, den Maikäfer zur schutzwürdigen Gattung zu erklären.

Die chemische Keule wird in Österreich nicht mehr geschwungen. Aus Umweltgründen wird heute nur noch gelegentlich auf Bodenpestizide zurückgegriffen, um die Zahl der Engerlinge zu dezimieren. Seit etwa zehn Jahren ist ein parasitischer Pilz auf dem Markt der Maikäfer-Bekämpfungsmittel, der mit Hilfe von Sämaschinen im Grünland ausgebracht wird, um die

Engerlinge zu infizieren. Laut Cage eine biologische Bekämpfungsmethode mit Langzeitwirkung und obendrein noch ohne Nebenwirkungen, denn nur die Engerlinge des Maikäfers und keine anderen würden von diesem Pilz befallen.

Für all jene, die sehnsüchtig auf den schwirrenden Frühlingsboten warten und des scheinbaren Verschwindens des Maikäfers wegen Trübsal blasen, mag die Umweltfreundlichkeit dieser Bekämpfungsmethode nur ein schwacher Trost sein. Cage selber indessen sieht für die Sentimentalisierung des Käfers keinen "wirklichen Grund", denn "die, die mit ihm in der Wirklichkeit zu tun haben, lieben ihn nicht sehr."

Der Käfer in der Kunst

Umso mehr lieben den Käfer eben jene Stadtbewohner, die ihn nur als gemütlichen Brummer vor dem Wohnzimmerfenster, als Frühjahrssymbol und als altes Postkartenmotiv kennen. Professor Axel Schopf vom Institut für Forstentomologie an der Wiener Universität für Bodenkultur kann diese Liebe durchaus nachvollziehen: "Mit dem Austreiben der Bäume tritt der Maikäfer auf." Und weil der Beginn der Vegetationsperiode verbunden ist mit heiteren Gefühlen, so wird auch der Maikäfer als positive Erscheinung erlebt.

Anders als andere Käfer müsse man, so Schopf, den Maikäfer nicht fürchten, denn dieser bewegt sich auf dem Boden langsam und plump. Seit jeher machen Kinder die Erfahrung: Der tut einem nichts. Und ein Käfer, der nichts Ekelhaftes, nichts Gefährliches an sich hat und mit seinen im Vergleich zur Körpergröße so kurzen Beinen geradezu gemütlich wirkt, ist schon fast ein idealer Freund zum Spiel im Park.

Unsere Großeltern und Eltern, die oft noch viel sehnsüchtiger auf die Wiederkehr des Frühlings gewartet haben als wir, haben diese Erfahrung gemacht, haben den Maikäfer idealisiert, ihn zum Gegenstand von Illustrationen gemacht, ihn literarisch verarbeitet ("Peterchens Mondfahrt"), über ihn gefühlsschwangere Lieder geschrieben ("Maikäfer, flieg . . .") und ihn zum Vorbild für schokoladige Frühlingsgrüße gemacht.

Bei so viel Rührseligkeit um das Krabbeltier ist es kein Wunder, dass wir den Käfer vermissen, wenn er nicht oder nur selten zu sehen ist. Und überhaupt: Spätestens dann, wenn der dicke Brummer hilflos auf dem Rücken liegt, bekommen wir fast schon wieder Mitleid mit ihm . . .

Freitag, 07. Mai 2004

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