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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Über die Raben und ihren Erforscher Bernd Heinrich

Mit heiserem Krächzen

Von Walter Sontag

Ein durchschnittlicher Dezembertag in Hills Pond. Beim Morgengrauen beträgt die Temperatur draußen 12,5 Grad minus, drinnen 12 Grad minus. Die Außentemperatur steigt später etwas an, die Wärme des Feuers lässt in der Blockhütte etwas Schnee auf dem Dach schmelzen. Bald wachsen Eiszapfen vom Dachsims bis vor das Fenster, aber bei 60 cm Länge stellen sie ihr Wachstum ein. Der Mann in der Hütte wartet auf Raben. 400 Pfund Nierenfett sind ausgelegt. Aber an diesem Tag will nicht ein einziger Rabe kommen, nur eine Krähe lässt sich blicken. Und eine amerikanische Krähe, Corvus brachyrhynchos, ist kein Kolkrabe, Corvus corax. Da sind Welten dazwischen - zumindest für den Forscher. Am Tag drauf brüllt und jault der Sturm - ein Wetterumschwung. Am Abend zeigt das Thermometer im Forscherversteck minus 26 Grad. Aber noch immer lässt sich kein Rabe auf dem Fleischberg nieder. Warum? Die schwarzen Gesellen müssten sehr hungrig sein, der Schnee hat die meisten Nahrungsquellen zugedeckt, der Vogelkörper braucht Brennstoff gegen den Frost. Und Raben gibt es in Maine seit einiger Zeit wieder viele.

Wissenschaftler aus Passion neigen zur Unbedingtheit. Gegen den Forscherdrang bilden klirrende Kälte, physische Anstrengungen und Einsamkeit kein Hindernis. Schon gar nicht, wenn sich ein Ornithologe in "sein Tier", seine Art, sein "Beobachtungsobjekt" vernarrt hat. Bei Bernd Heinrich, dem gestandenen Verhaltensökologen, kommt noch sein spezifischer Werdegang hinzu. In Westpreußen geboren, verschlug es ihn mit seiner Familie nach dem Krieg für einige Jahre nach Norddeutschland. Karge, für den Jungen prägende Jahre, denn er wuchs in einer halbwegs natürlichen Umgebung heran. "Zu dieser Zeit war das Leben für uns ein einziges Abenteuer. Wir hatten Angst vor Hirschen und Wildschweinen, und als wir einmal tiefes Krächzen hörten und schwarze Vögel aus dem Dickicht auffliegen sahen, machte das die Sache nicht besser."

Bald wanderten die Heinrichs in die USA aus. Die Naturverbundenheit blieb dem späteren Verhaltensökologen erhalten. Auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wurde ihm nichts in den Schoß gelegt. So spülte er schon mal für 15 Dollar die Woche Geschirr, bevor für ihn eine glänzende Karriere in seinem eigentlichen Fach begann. Mit den Arbeiten über das Funktionieren des Hummelstaats, über das Brutverhalten der Hummelköniginnen und ihr raffiniertes Heizsystem errang er Weltgeltung als Verhaltensforscher. Hier erwies er sich als analytischer, rational beherrschter Wissenschaftler, der über die bepelzten Hautflügler präzise Kosten-Nutzen-Rechnungen erstellte. Mit seinen Experimenten und Kalkulationen setzte der junge Zoologe in der gerade aufstrebenden Verhaltensökologie Maßstäbe.

Dann leistete sich der zu Erfolg Gekommene einen Bruch, den sich nur unangefochtene Kapazitäten erlauben können, zu dem aber die Wenigsten dieser Gattung fähig sind. Aus dem anerkannten Entomologen wurde ein praktizierender Ornithologe. Der von Neugier getriebene exakte Naturwissenschaftler gestattete sich den Luxus und das Wagnis eines kaum abschätzbaren Forschungsvorhabens, eines Herzensabenteuers mit vielen Angriffspunkten für fachliche Kritik. Die Raben waren ihm seit der Kindheit nicht aus dem Sinn gegangen. Und bei den Streifzügen durch die Wälder seiner neuen Heimat war er einmal zufällig auf einen gestoßen. Von nun an lockte der Gedanke an eine etwas intimere Beschäftigung mit dem "Todesvogel".

Ein besonderes Tier

Entsprechend dem weiten Verbreitungsgebiet des Kolkraben, das - ursprünglich - ganz Nordamerika, Europa und große Teile Asiens bis zum Polarkreis umfasst hat, sind Rabenmythen Legion. Als Motive kehren in ihnen Wissen und Weisheit, Macht und die Verbindung mit Tod und Unglück immer wieder. Beispielsweise repräsentiert der Rabe bei verschiedenen Indianerstämmen jene Gottheit, die Erde, Mond, Sonne, Sterne und Menschen erschuf. In der nordischen Mythologie der Alten und der Neuen Welt spielt der Rabe eine tragende Rolle, in den Zeugnissen der Wikinger und in der frühen englischen Literatur tritt der Rabe als Schlachtvogel auf. Ganz allgemein wurde sein heiseres Krächzen in Europa und in Teilen Afrikas und Asiens für die Ankündigung drohenden Unheils gehalten. Shakespeares Raben symbolisieren Zerstörung und alle Übel der menschlichen Existenz.

Raben sind eben nicht nur zoologische Objekte. Dass seit dem 17. Jahrhundert im Londoner Tower sechs Raben gehalten werden, geht auf eine Anordnung Karls II. zurück. Dafür hatte der Monarch triftige Gründe, soll doch ein Rabenschwarm die königlichen Wachen vor einem Überfall Oliver Cromwells gewarnt haben. In einem mit pikanten Details gewürzten Brief legt der Raven Master des Tower dem deutsch-amerikanischen Rabenprofessor die Geschichte der herrschaftlichen Rabenpflege ausführlich dar. Nach dem großen Brand von 1666 taten sich die respektlosen Aasfresser an den Leichen gütlich. Sie vermehrten sich zum Missfallen der Einwohner so stark, dass die Forderung nach Ausrottung der Plagegeister laut wurde. "Ein Wahrsager erklärte dem König jedoch, dass England ein großes Unglück überkommen und der Palast zu Staub zerfallen würde, wenn er alle Raben aus dem Tower entfernte." Mag London unterdessen auch recht rabenleer sein, an diesem Verdikt mochte das königstreue Britannien nicht rütteln. Noch heute wird jeder verstorbene Rabe im Burggraben beigesetzt und namentlich in den Annalen vermerkt.

Das Rabenprojekt

Gut zwanzig Jahre nach der ersten Begegnung am Mount Tumbledown hatten die Kolkraben von Maine und Vermont Bernd Heinrich vollends in den Bann gezogen. Nicht mehr der nestplündernde Eiersammler stieg Baumstämme entlang, sondern der an der Naturgeschichte interessierte Zoologe. Das Rabenprojekt nahm seinen Lauf. Warum stehen hier - im Unterschied zu Norddeutschland - fast alle Nester in Kiefern und keines in den vielen Buchen? Und wie schaffen es die Raben überhaupt, im tiefverschneiten Maine den langen, harten Winter zu überstehen? Noch erstaunlicher erscheinen solche Fähigkeiten, wenn man weiß, dass Angehörige derselben Spezies auf der anderen Seite Amerikas, im Tal des Todes, in glühender Hitze Eidechsen fangen. Enorm anpassungsfähig, sind Kolkraben auf unwirtlichem Treibeis, in der Wüste, in Nadel- und Mischwald, auf Müllplätzen und an Autobahnen zu Hause, brüten auf arktischen Felsen, Hochhäusern und Telegrafenmasten.

Dass die Lebensentwürfe der Krähenfamilie weit gefächert sind, wird auch dem Laien bei der Aufzählung der Verwandtschaft leicht einsichtig: die Elster unserer Vorstadtgärten, der Eichelhäher unserer Nutzwälder gehören ebenso dazu wie Dohle, Alpen- und Nebelkrähe und die bei uns massenhaft überwinternden Saatkrähen. Nicht allein in der Flügelspannweite, auch in der Flexibilität des Verhaltens erweist sich freilich der Kolkrabe als der König der Krähenartigen. Weil er sich aus dem plebejischen Krähenvolk so hervorhebt, spricht der Volksmund kurz und eindeutig vom Raben. Ganz abgesehen von dem weiten Spektrum besiedelter Lebensräume, äußert sich die Fülle individueller Anpassungsmöglichkeiten vor allem "im Kleinen", also in Alltagsentscheidungen, die über Leben und Tod des einzelnen Vogels bestimmen. So lässt sich der Speisezettel des Raben bündig zusammenfassen: alle toten Tiere, die er entdeckt, alle lebenden Tiere, die er zu töten vermag, Früchte und Körner, wenn er sie erreichen kann. Gewilderte Elche, Überreste von Wolfsmahlzeiten, Vorräte von Bergsteigern, Fast Food in Mülltonnen - die Liste deutet es an: Raben verbünden sich mit allen Lebewesen, die für gehaltvollen Nachschub sorgen. Aber sie ernten auch Blaubeeren, vertilgen Mormonenheuschreckeneier oder stehlen Ottern, Falken, Eulen und Artgenossen die Beute. Ja, ein Vogelkundler beobachtete sogar, wie zwei Raben eine Felsentaube in einer Schlucht solange hin und her trieben, bis sie einer mit einem gezielten Schnabelhieb am Ufer des Bachlaufs regelrecht erlegte. Gewöhnlich sind die allermeisten verrückt klingenden Anekdoten über wild lebende Tiere als Jägerlatein oder Übertreibungen abzutun. "Doch bei Raben verhält es sich umgekehrt", so der amerikanische Rabenexperte Mark Pavelka. Mag die Story noch so merkwürdig erscheinen, die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass es irgendwo doch Raben gibt, die genau dies getan haben. Sie baumeln kopfüber an den Füßen, schlittern und baden im Schnee, vollführen Luftrollen, fliegen auf dem Rücken, werfen zur Nestverteidigung mit Steinen, tragen ihre Nestlinge und erfinden eigene Spiele.

Solche seltsamen Begebenheiten und erstaunlichen Handlungsweisen sind keine Vorgänge, die nach den festen Regeln eines Aktions-Reaktions-Schemas ablaufen. Vielmehr spiegeln sich hier eher individuelle Taktiken oder Strategien wider, zum Teil vielleicht sogar persönliche Eigenschaften verschiedener Kolkraben. Das war ganz anders bei den Vorgängern in Bernd Heinrichs zoologischen Studien. Bei den Hummeln läuft alles eher nach Plan, ist mathematischem Kalkül leichter zugänglich. Individuelle Abweichungen halten sich im Rahmen, Neuerfindungen und Absonderlichkeiten fehlen oder fallen nicht ins Gewicht. Demgegenüber macht die unkalkulierbare, fintenreiche Existenz das Faszinosum der Raben aus. Ihre variantenreichen Wunderlichkeiten sind gewissermaßen als lebendige Beispiele der ausgeprägten Verhaltensplastizität dieser Vogelart und überdies auch als Belege ihrer Intelligenz anzusehen.

Eine Experimentreihe

Zur Intelligenz tritt die soziale Ader hinzu, auch ihre Gesprächigkeit und das reiche Stimmrepertoire. Zwar leben geschlechtsreife Raben als standorttreue Einzelpaare in einem Revier, doch die noch nicht erwachsenen Artgenossen schließen sich zu Schwärmen zusammen - zumindest in Maine. Zu Beginn seines Rabendaseins überraschte Bernd Heinrich einmal 15 Raben, die von einem versteckt liegenden Elchkadaver aufflogen. Warum hatten sich hier so viele Raben versammelt, wo doch die einzelnen Brutpaare weit verstreut leben? An anderem Aas war häufig kein einziger Rabe zu entdecken.

Das erste Forschungsziel war formuliert. Heinrich, der genuine Naturmensch, schleppt Schlachtabfälle, ob Schaf, Kalb oder Holsteinkuh, zwischen 20 und 1.000 Pfund schwer, verteilt sie über weite Strecken in den heimatlichen Gefilden. Er gewinnt zahlreiche Helfer für die unbequemen Aktionen. Eine Experimentreihe besteht etwa darin, gleichzeitig an zehn weit auseinander liegenden Orten Köder auszulegen und das Geschehen simultan zu erfassen. In generalstabsmäßiger Manier lockt er Raben in beköderte Käfige; dann werden die wehrhaften Vögel gefangen, vermessen, markiert und wieder freigelassen. Heinrich legt Nestlingen Halsmanschetten um, um ihre Nahrung zu erfassen, zieht Rabenkinder auf und beobachtet die Galgenvögel in selbsterrichteten Volieren. Da der etablierte Hochschullehrer Dünkel nicht zu kennen scheint, erlaubt er sich das Quellenstudium bis Anfang des 20. Jahrhunderts, einschließlich nichtenglischer Literatur: so zeigt er seine Missachtung des gängigen Wissenschaftsbetriebs. Dank der Ausdauer der Forscher lüftet sich schließlich das Rabengeheimnis vor den Beobachtungsverstecken. Die Revierpaare teilen ihre Kadaverfunde anderen Raben nicht mit, unauffällig genießen sie das Aas. Die nachkommenden Generationen dagegen rekrutieren an den gemeinschaftlichen Schlafplätzen ihre Genossen für das gemeinsame Mahl. Dieses Prinzip des Teilens sichert allen Schwarmmitgliedern eine möglichst kontinuierliche Nahrungsversorgung, da ein einziges erfolgreiches Augenpaar ausreicht.

Weiterführende Literatur: Bernd Heinrich: Die Weisheit der Raben. Begegnungen mit den Wolfsvögeln. Aus dem Englischen von Hainer Kober. List, München 2002, 542 Seiten.

Freitag, 27. Dezember 2002

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