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Lebende Fossilien

Tapire -Friedliche, scheue Vegetarier von archaischer Gestalt
Von Walter Sontag

Konrad Lorenz sprach spöttisch und zugleich mit Sympathie von den Forschern, die in ihre Beobachtungsobjekte verliebt und regelrecht "vernarrt" seien. Solche Menschen stellen viele Jahre ihres Lebens, womöglich ihre ganze erwachsene Existenz in den Dienst der Erforschung einer kleinen Tiergruppe, im Extremfall nur einer einzigen Tierart. Ihre Vernarrtheit bildet wohl den Boden für die Geduld und Hartnäckigkeit, die notwendig sind, um den Geheimnissen des tierlichen Daseins auf die Spur zu kommen.

Einen solchen Fall äußerster Hingabe repräsentiert wohl der Biologe Stefan Seitz.

Die Objekte seiner Begierde sind Tapire, jene etwas behäbig und langweilig wirkenden Tiergartenbewohner, denen Zoobesucher selbst im günstigen Fall nur mäßiges Interesse entgegenbringen. Dies war wohl auch dem angehenden Zoologen klar, denn bei aller Verliebtheit und Begeisterung für seine still und behutsam rüsselnden Unpaarhufer stellte der junge Dissertant dem Verhalten gleichrangig - welche Ironie - den "Schauwert" der urtümlichen Geschöpfe in den Mittelpunkt seiner Doktorarbeit.

So studierte er nicht nur 40 Tapir-Individuen in den unterschiedlichsten Tierhaltungen, vielmehr erfasste er auch Auftreten und Benehmen von 25.000 Zuschauern auf der anderen Seite des Grabens, gestaltete für die menschliche Spezies Fragebögen und wertete ein halbes Tausend Befragungen aus, reiste zu diesen Zwecken von Los Angeles bis Zürich und vertiefte sich in die Zuweisungen der Tapire in Kunst, Kultur und Film.

Familie der Pferdeartigen

Nicht einmal die zoologisch-verwandtschaftliche Fehleinschätzung zum vorzeitlichen Eohippos, die Thomas Mann der Romanfigur des Professor Kuckuck in den "Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull" in den Mund legt, entging dem akribischen Blick des Tapirkundlers. Umgekehrt vermochte er der latent schwelenden journalistisch-literarischen Neigung nicht zu widerstehen und verfasste mit Kate Wilson, einer kongenialen kalifornischen Tapirologin, einen sehnsüchtigen naturalistischen Tapir-Monolog.

Dem eigentlichen Lebensraum, den Anden, dem asiatischen und amazonischen Dschungel stattete der fahrende Tapirfreund lediglich eine Stippvisite ab - in dem Wissen von der Schwierigkeit, einen der scheuen Waldbewohner zu Gesicht zu bekommen, geschweige denn mehrere für längere Zeit zu beobachten. Und dies wäre ihm zu wenig gewesen: denn Tapir ist nicht gleich Tapir. Also machte der junge Lokalredakteur, Werbefachmann und Münzensammler Agathe, Rachel, Paul und ihren behüteten Kollegen regelmäßig seine Aufwartung, sei es im heimatlichen Heidelberg, im Ruhrpott oder im warmen San Diego jenseits des großen Teichs.

Vor rund 50 Millionen Jahren spalteten sich die Vorfahren unserer heutigen Tapire von den Pferdeartigen ab, sagen übereinstimmend Paläontologen und Molekularbiologen. Vier unterschiedliche Vertreter der einst artenreichen Gruppe sind erhalten geblieben. Eine Reihe altertümlicher biologischer Merkmale markieren sie als "lebende Fossilien", so etwa die Aufspaltung ihres heutigen Verbreitungsgebietes auf Südostasien und Lateinamerika sowie der Besitz von vier Zehen an den Vorderfüßen und drei an den hinteren Extremitäten.

Und unwillkürlich möchte man anfügen, ihre zurückgezogene und gemächliche Lebensart lässt sie uns angesichts des alles auffressenden urbanen Getümmels um so überkommener, "unzeitgemäßer" erscheinen. Allerdings passen ihre übergroßen Genitalien zum Geist unserer sexualisierten Mediengesellschaft, die allerdings erstaunlicherweise bislang davon kaum Notiz genommen hat. Deren wahrhaft pompöse Dimensionierung trug dem Bergtapir schon bei den Inkas den Namen "Macho de Monte"

und den Ruf eines Frauenverführers ein.

Ferner wurde in diesem Kulturkreis eine Verbindung zwischen Tapir und Epilepsie hergestellt. Die Krankheit verkörperte im Volksglauben dämonische und göttliche Energie. Verhalten und weiße Lippen des Bergtapirs ähneln in mancher Hinsicht den akuten Symptomen der Fallsucht, denen mit Körpereinschlüssen der stark behaarten Spezies Einhalt geboten werden sollte.

Gesellig im Gehege

Wie umgänglich die kompakten, im Maximum immerhin bis etwa acht Zentner schweren Unpaarhufer tatsächlich sind, lässt sich an der beachtlichen Zahl sogenannter Gesellschaftshaltungen ablesen, wie sie in zoologischen Gärten immer mehr in Mode kommen. Dabei werden in möglichst weitläufigen Gehegen verschiedene Tierarten gemeinsam gepflegt. Die Auswahl der Gehegegenossen, die Tapiren beigesellt werden, reicht von Lamas und Nandus bis zu Affen. Besonders beliebt unter den Tiergärtnern sind in dieser Partnervermittlung der Große Ameisenbär und Capybaras, die größten Nagetiere der Welt, die im übrigen den gleichen Lebensraum besiedeln wie der Flachlandtapir Amazoniens.

Mit Vorliebe beschnüffeln und belecken Ameisenbären mit ihrer merkwürdigen röhrenförmigen Schnauze und ewiglangen Zunge die artfremden Mitbewohner, die sich das ohne weiteres gefallen lassen, ja offenbar zu solch traulichem Treiben auffordern. Selbst das Melken einer milchspendenden Tapirmutter wurde beobachtet.

In einem deutschen Zoo entwickelte sich eine überraschende Beziehung der rüsselnden Gattung zu freilebenden Elstern, die einen Sommer lang ein Tapirpärchen sozusagen in kosmetischen Sitzungen bis zu einer halben Stunde behandelten und sogar so sensible Körperstellen wie Maulöffnung

und Ohrmuscheln bepicken durften.

Die beiden als besonders träge geltenden Individuen gehörten zur Spezies des Schabrackentapirs, der sich als einzige Tapirform durch eine auffällige Kontrastfärbung auszeichnet. Der ganz helle "Sattel" über Rücken, Flanken und Oberschenkel unterscheidet diese südostasiatische Art von den lateinamerikanischen Verwandten. Eine Untersuchung ermittelte nicht weniger als 24 Gemeinschaftshaltungen unter Tapir-Beteiligung, wovon 21 "problemlos funktionierten".

Nicht nur das, sogar therapeutische Effekte scheinen von den stoischen Gesellen auszugehen. Im australischen Adelaide-Zoo zeigten die ansässigen Brillenlanguren und Siamangs, beide südostasiatische Affenarten, in einem naturalistisch eingerichteten Gehege zunehmend weniger abnormales Verhalten, nachdem ihnen ein Schabrackentapir beigegeben worden war. Der allerdings begann im Kreis zu laufen - vielleicht, weil ihm die Affen sein Futter entwendeten, wie es lakonisch heißt.

Tapire sind also friedliche, scheue Pflanzenfresser, in der Verbreitung auf tropische Wälder begrenzt und auf die Nähe von Wasser angewiesen. Sie schwimmen und tauchen hervorragend. Dank ihrer Größe vermögen ihnen nur wenige Angehörige ihrer Biozönose gefährlich zu werden, zumindest was die ausgewachsenen Exemplare anbelangt - und vom Menschen einmal abgesehen. Der in Mittelamerika beheimatete Baird's Tapir stellt dort sogar den größten Landsäuger dar. So ist die Liste der Raubfeinde - besser: Beutegreifer - in Thailand, Malaysia und Sumatra im Wesentlichen auf Tiger und Leopard beschränkt, in Südamerika auf Jaguar, Puma und Kaiman.

Als ungewöhnlichstes Kennmal im Habitus des gedrungen gebauten Vegetariers dürfen wohl die rüsselartig verlängerte, äußerst bewegliche Oberlippe und Nase gelten, die neben den ursprünglichen Aufgaben auch als Greiforgan dienen.

Die Jungen fallen dem Zoobesucher durch ihre Frischlingsstreifung auf. Doch verliert sich das Muster bereits im ersten Lebensjahr. Was freilich beim Fehlen natürlicher Deckung, beispielsweise im Zoo, ins Auge sticht, dürfte im Dickicht der Wildnis geradezu als Tarnkleid wirken, so wie umgekehrt später die düstere Grundfärbung den älter gewordenen Individuen das optische Verschwinden im dichten Urwald und in der Überschwemmungszone ebenfalls erleichtern sollte. Ähnliches trifft auf die beschriebene "Sattelzeichnung" des Schabrackentapirs zu, die den massiven Körper im Wechsel von Licht und Schatten auflöst und somit gleichfalls das Verbergen begünstigt.

Im Umgang mit seinesgleichen allerdings entwickelt das stille, ein verstecktes Dasein führende Tier unter Umständen ein verblüffend lebhaftes Wesen. Im sozialen Kontext kommt dem weich besohlten Waldbewohner vor allem das reiche Rufrepertoire zustatten, das quiekende und fiepende Laute, Pfiffe sowie Schnauben umfasst. Die Schreie können es bis auf einen Schalldruck von 135 Dezibel bringen, was einem uralten Düsenklipper zu Stolz und Ehre gereichen würde.

Star bei Stanley Kubrick

Die Mischung von archaischem Eindruck, Fremdartigkeit und - praktischerweise auch - Friedfertigkeit war es vermutlich, die Tapire zu Akteuren in Stanley Kubricks Kino-Klassiker "2001 - A Space Odyssee" prädestinierte. In dem Science-Fiction-Opus leben (echte) Tapire mit - von Menschen gemimten - Affen so lange einträchtig zusammen, bis das Affengeschlecht am Tapirfleisch Geschmack findet. Der Streifen gewährte dem lebenden Fossil mehr Darstellerzeit als mancher der ohnehin raren Naturfilme.

Die verwandtschaftliche Zuordnung bleibt für den Laien eine Rätselfrage. Nicht weniger als 2.000 Missdeutungen und Falscheinschätzungen wertete der Tapirologe aus. 79 andere Tierarten mussten ersatzweise als Erklärungs- oder zumindest Vergleichsmodelle herhalten. Ganz hoch im Kurs standen Ameisen- und Nasenbär. Aber selbst Schnabeltier, See-Elefant und Chamäleon wurden genannt. In einem dokumentierten Monolog rang ein älterer Herr in seinen Interpretationsversuchen vor seiner Frau zwischen Wildschwein, Flusspferd, Ameisenbär und Pferd.

Was Wunder, da selbst Carl von Linné, der erstbeschreibende Naturforscher und große Systematiker, den Tapir in die Gattung Hippopotamus, also zu den Flusspferden, gestellt hatte - freilich vor einem knappen Vierteljahrtausend.

So pluralistisch unsere Alltagsmutmaßungen ausfallen mögen, so unauffällig die ruhigen Tiere in freier Natur agieren mögen, so wenig ist doch ihr gestalterischer Einfluss auf die artenreichen tropischen Habitate zu bezweifeln, die sie mit zahlreichen anderen, fast ausnahmslosen kleineren Organismen teilen.

Beispielsweise wurden in einem malaysischen Schutzgebiet für den Schabrackentapir 115 Nahrungspflanzen ermittelt; in einer anderen Studie verkostete der Bergtapir des Kordillerenraumes über 200 Gefäßpflanzenarten. Schließlich besteht der Speiseplan bis zu einem Drittel aus Früchten. Welche Wirkungen die Ernährungsgewohnheiten auf die örtliche Vegetation im Einzelnen ausüben, entzieht sich bislang noch unserer Kenntnis. Doch eine Reihe von Untersuchungen

ergab dazu bereits wertvolle Hinweise.

Auf dem nährstoffreichen Dung des Bergtapirs etwa keimen über

40 Prozent der von dieser Spezies verzehrten Pflanzenvertreter. Mit der fortschreitenden Zerstörung der Regenwälder unterschiedlichster Provenienz gehen freilich auch die Biotope dieser großen Säugetiere verloren. Und so sieht es um ihre Zukunft nicht gut aus. Von der bedrohtesten Form, dem Woll- oder Bergtapir, sollen ganze zweieinhalbtausend Individuen in den Ostanden übriggeblieben sein.

Gefährdete Tierart

Um der endgültigen Auslöschung der Spezies entgegenzutreten, verfügte der Internationale Zoodirektoren-Verband schon vor rund 30 Jahren ein Ausfuhrverbot für Tiergärten. Mittlerweile schlossen sich innerhalb der international führenden IUCN-Artenschutz-Kommission weltweit gegen 80 Tapirexperten zur Tapir Specialist Group zusammen, um durch Tagungen, Forschungsvorhaben und Förderung lokaler Schutzprojekte sowie regionaler Erziehungsprogramme dieser Huftierabteilung Unterstützung in der Not zukommen zu lassen. Selbst den romantischsten Tapirverehrern ist klar: ohne in der Öffentlichkeit Flagge zu zeigen, ist ihren Schützlingen nicht zu helfen.

Im vergangenen Jahr trafen sich die Tapir-Aktivisten zu ihrem ersten Symposium in Costa Rica, einem der Heimatgefilde des ebenfalls gefährdeten Baird's Tapirs. Naturgemäß stammen die meisten Tapir-Aktivisten aus Nord- und Lateinamerika.

Einer der raren Europäer in der Runde ist Stefan Seitz. Er fungiert als einer der beiden Herausgeber des Newsletter, des Mitteilungsblatts des Verbands. Das ruhige, zurückhaltende Auftreten scheint auf den ersten Blick dem Streben nach Verantwortung vor größerem Publikum zu widersprechen. Freilich sagt die langjährige Tätigkeit als Redakteur in der Mannheimer Szene Gegenteiliges. Und spätestens seit dem kommunalpolitischen Engagement in seiner Geburtsstadt wird auch dem Außenstehenden ein Leitmotiv des nun Dreißigjährigen einsichtig: Handeln, wo der Einzelne jetzt Wirkung erzielen kann.

Und manchmal frischt er die Träume auf, wie neulich in Costa Rica.

Weiterführende Literatur:

Stefan Seitz: Vergleichende Untersuchungen zu Verhalten und Schauwert von Tapiren (Familie Tapiridae) in zoologischen Gärten. Cuvillier Verlag. Göttingen 2001. 363 Seiten, 241 Abbildungen, 23 Tabellen.

Freitag, 05. April 2002

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