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Im Zentrum des Allerheiligsten

Von Willy Puchner

Am Rande der Wüste Thar im indischen Rajasthan liegt das kleine Dorf Deshnok. Es ist ein unbedeutendes Dorf mit einer außergewöhnlichen Attraktion: einem weißgekalkten Tempel. Ein Schild neben dem Eingangstor kündigt das Innere als achtes Weltwunder an. Schon auf dem Parkplatz treffe ich aufgebrachte Franzosen, die mich warnen wollen, dass es in dieser Kultstätte pestialisch stinke und sie es aus diesem Grund nur zehn Minuten ausgehalten haben. Wie sehr es auch zum Himmel stinken möge, denke ich, ich werde auf jeden Fall dieses Mysterium betreten. Der Eintritt in das Heiligtum kostet ein paar Rupees und die Erlaubnis, Fotos zu machen, weitere 50. Kleine Verkaufsstände rund um den Tempel bieten Obst, Süßigkeiten, Nüsse und verpackte Getreidekörner an.

Pilger gehen bedächtig in das Allerheiligste, Frauen bekleidet mit bunten Saris, Männer oft mit Kurtas, weißen Pyjamas und farbigen Turbanen. In ihren Händen tragen sie kleine Gaben, Käse, Milchpulver, Früchte, Kartoffel oder Karotten, manche bringen kleine bunte Päckchen mit farbigen Bändern verschnürt. Nach wenigen Schritten auf dem Marmorboden des Tempels läuft mir eine Ratte über den Weg. Die erste Ratte!

Der Karni-Mata-Tempel ist ein heiliger Ort. Verehrt werden alle Arten von Ratten, Hausratten, Wanderratten, indische Pest- und Maulwurfsratten und jede Art von Mäusen ist auch willkommen. Der Tempel ist ein Paradies für diese kleinen und größeren Säuger. Zahllose unterirdische Stollen schaffen ein verzweigtes System und es ist unmöglich zu sagen, wie viele Ratten im Tempel leben. Zu den Tunneln und Gängen hat man keinen Zugang - da müsste man eine Ratte sein -, sichtbar sind die heiligen Tiere in Nischen, am Rande der Wasserbecken, auf Futterplätzen und im Herz des Tempels.

In das Zentrum des Allerheiligsten komme ich durch einen schmalen Gang, in dem sich zahlreiche Pilger drängen. Eine Messe hat gerade begonnen. Wuchtige Trommelschläge werden auf einer Mridanga geschlagen, dazwischen hört man zarte Töne, gespielt auf einer Santor, einer trapezoid geformten Zither. Atemberaubend die Lautstärke der Trommel! Manche Menschen überreichen ihre Geschenke einem Priester, der sie seinem Gehilfen weiterreicht, die anderen stehen gebannt und lauschen der Musik.

Nur die Ratten laufen umher. Überall Ratten. Unvorstellbar! Babyratten, ausgefressene dicke Ratten, manche von ihnen haben ein räudiges Fell, andere sind am Kopf verletzt, wieder andere sitzen in der Sonne und putzen ihren Pelz.

Noch lange stehen die Menschen und hören andächtig den Trommelschlägen zu, während ich schon beginne, in dem großen Tempel herumzuspazieren. Es ist unheimlich, den Gestank nehme ich nicht wahr. Ich empfinde es auch nicht als abstoßend oder ekelerregend, vielmehr komme ich aus dem Staunen nicht heraus.

In Wien hat mir ein Freund, der den Tempel vor einiger Zeit besucht hat, erzählt, dass die Ratten manchmal innerhalb der Hosen hinaufkriechen. Deshalb verschließe ich vorsichtshalber meine beiden Hosenbeine mit Gummiringerln.

Weiters hat er mir empfohlen, Tempelsocken anzuziehen. Das war klug, denn immer wieder kommen neugierige Tiere und schnuppern an meinen Socken. Plötzlich kriecht eine lebhafte Ratte empor, weit über das Knie hinauf. Ich schüttle sie durch eine ruckartige Bewegung ab.

Nachdem ich mehr als eine Stunde umhergehe und immer wieder versuche, Ratten zu fotografieren, entdecke ich etwas Unglaubliches: Auf einem riesengroßen Teller haben sich zwei bis drei Dutzend Ratten versammelt. Der Teller ist mit Milch gefüllt und die Ratten sitzen wie aufgefädelt am Tellerrand und schlürfen die Milch. Die Gierigsten unter ihnen baden inmitten der weißen Flüssigkeit. Es herrscht ein Gedränge, und es wird mir bewusst, dass nicht alle auf der Welt vom süßen Kuchen naschen können.

Als ich nach mehr als zwei Stunden den Tempel verlasse, habe ich kein mulmiges Gefühl, ich verspüre auch keine Abscheu. Im Grunde empfinde ich große Freude. Es ist ein wunderbarer Anblick gewesen! Als ich mir das erste Mal meine Fotos anschaue, erschrecke ich und denke, was habe ich da für unheimliche und scheußliche Tiere fotografiert. Nachdem ich die Bilder öfter anschaue finde ich die Balance. Mein westliches und mein östliches Bild hat sich zu einer neuen Einsicht verschmolzen.

Die Tempelsocken habe ich übrigens gleich nach dem Verlassen des Tempels ausgezogen und entsorgt, diese wollte ich nicht unbedingt als Souvenir nach Hause mitnehmen.

Wenn Sie mehr über das achte Weltwunder wissen wollen, besuchen Sie die Internetseite

http://www.karnimata.com

Freitag, 05. April 2002

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