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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Das Los der Tiere unter der Herrschaft des Menschen

Menschenrechte für Affen?

Von Walter Sontag

Wenn die Tiere sich schon einen Himmel teilen müssen, den sich die Menschen ausgedacht, haben sie erst recht mit ihm als Erdbewohner zu rechnen.

Dieser Satz Hugo Loetschers hat im Jahrhundert geklonter Schafe, von BSE und von Menschenhand geschaffenen tierischen Chimären (also "Artenzwittern") noch weit größere Berechtigung als in den vergleichsweise harmlosen Zeiten des Thomas von Aquin. Der hatte nämlich in seiner Summa theologica Tieren und Pflanzen beschieden, dass sie keine Aussicht auf Eintritt in das Himmelreich besäßen. Mochte ihnen das ewige Leben auch versagt bleiben, so hatten sie in der Wildnis doch wenigstens als Individuen die Chance, eine irdisches Dasein zu bestreiten - denn für sie gab es noch Platz auf Erden: Wälder, Savannen, unverseuchtes Wasser.

Den Vierbeinern aber, denen das Schicksal Haus, Hof oder einen Kral zugewiesen hatte, standen eine Weide oder ein Auslauf, zumindest jedoch eine individuelle Existenz zu. Sie stellten - unabhängig vom theologischen Status - noch Geschöpfe dar. Massenhaltung und mechanisierte Massentötung, die Kennzeichen der Moderne, lagen in weiter Ferne. Übrigens ging die protestantische Konkurrenz ein knappes Vierteljahrtausend nach dem sittenstrengen Thomas von Aquin mit der Tierwelt wesentlich demokratischer um. Martin Luther sah selbst für die Insekten Nischen im Paradies. Freilich sollte ihr Auftreten, den geläuterten menschlichen Seelen entsprechend, ein wenig appetitlicher sein.

Der Löwe kann alles

Die apokryphen Schriften des Christentums, die häufig erst nach 1945 entdeckt wurden, bezogen die tierischen Begleiter der Gotteskinder in geradezu üppiger Weise in ihre Heilslehre ein. In den Acta Pauli etwa tauft sich die Jungfrau Thekla in der Tierkampfarena. Und der Gefangene Paulus wird von einem grimmig brüllenden Löwen beim Gebet aufgeschreckt. In der Arena kommt es zum biblischen Showdown: Paulus und Löwe blicken einander in die Augen. "Löwe, warst Du der, den ich getauft habe?" Womöglich scheiterte an dieser allzu belletristischen Fabuliererei die Aufnahme der "Paulustaten" in den offiziellen Kirchenkanon - als potentieller Dritter Korintherbrief, wie Hans Blumenberg zugleich entsetzt und amüsiert erörtert. Doch der altehrwürdige Philosoph kann beruhigt aufatmen: "Im Ganzen hat der gute Geschmack, der Takt fürs Erträgliche ziemlich treffsicher" über die theologische Verwertung "entschieden".

Überhaupt trauen Religion und Dichtung dem Löwen so gut wie alles zu. So soll er mit offenen Augen schlafen, gleich dem um seine Schöpfung besorgten Gott. Der Wiedererweckung des gekreuzigten Jesus durch Gottvater vergleichbar, soll Pierre von Beauvais' Bestiarium zufolge der Löwenvater sogar seinem totgeboren Kind nach drei Tagen Leben einhauchen. Andererseits lässt sich nicht leugnen, dass sich Löwen im Kolosseum des alten Rom über die ihnen zum Fraß vorgeworfenen Christen hermachten, zweifellos also Teufelswerk verrichteten. Apollinaire dagegen wusste bereits, wo es für den modernen Löwen langgeht. Seine Zoologie in Versen erlaubt Löwen die Fortpflanzung nur noch im Käfig, und zwar in Hamburg bei den Deutschen, eine Anspielung auf Hagenbecks Tierpark, der damals wegen der Errichtung gitterloser Freianlagen in aller Munde war.

Das Tier als Bestie, als Nahrungsmittel, als Tieropfer, das Tier als gerade noch geduldeter Vermarktungsgegenstand, das Tier als ebenbürtiger Teil der Zivilgesellschaft, wie es die Bewegung für Tierrechte fordert, das ist ein weiter Weg mit vielen Facetten. Vielleicht suchte der Mensch im Tieropfer an die Gottheiten seine Schuld gegenüber den unterlegenen Mitgeschöpfen auf die übersinnlichen Mächte abzuwälzen, sich der eigenen Verantwortung zu entledigen. Mit ihrem Anspruch auf einen Tribut aus Fleisch und Blut zeichneten die Himmelsherren verantwortlich für das Schlachten der tierlichen Kreatur. Es ist das alte, bequeme Lied des Menschen: Flucht aus dem selbst angerichteten Schlachtfeld, Verdrängung, wie es zeitgemäß heißt.

Genau an diesem Punkt unterscheiden sich Mensch und Tier. Die Fähigkeit zur Verantwortung ist dem Menschen nämlich nicht gewissermaßen als nette, wahlweise anwendbare Möglichkeit beigegeben, vielmehr ergibt sie sich zwangsläufig aus seinem Potential zur Erkenntnis. Sie ist also - biologisches Faktum - der Menschengattung obligatorisch eingepflanzt.

Ob wir wollen oder nicht: Intellekt und Urteilsvermögen, die Abschätzung in der Zukunft liegender Folgen, die Reflexion über Vergangenheit, Gegenwart und Künftiges, über Empfindungen und Denken, das Abwägen widerstreitender Gesichtspunkte verdammen uns zu Entscheidungen, in denen wir zu Tätern werden, zum Beispiel Übel- oder Wohltätern. Demgegenüber würde es keinem Zeitgenossen, nicht einmal dem versierten Erkenntnistheoretiker je in den Sinn kommen, etwa einen Hyänenhund wegen der Beteiligung an einem Gemetzel in einer Gnuherde zur Verantwortung zu ziehen.

Straffreiheit für Schimpansen

Dass sich Schimpansen, immerhin die dem Homo sapiens am nächsten stehenden rezenten Menschenaffen, an den kleineren Vettern, den Roten Colobusaffen, gütlich tun, hat zumindest bislang weder eine Aktion "Wider die Kannibalen des Waldes" noch eine Plattform "Straffreiheit für Schimpansen" auf den Plan gerufen. Bei aller seelenlosen und bemüht objektivierenden Betrachtungsweise im heutigen Diskursbetrieb scheint es offenkundig doch grundlegende Differenzen zwischen Menschen und anderen Großsäugern zu geben.

So handelt die in Mode gekommene Tierethik ja auch nicht vom mehr oder weniger freundlichen Umgang von Tieren miteinander, sondern von Haltung und Verhalten der Krone der Schöpfung zu dem Heer artfremder Angehöriger aus dem Regnum animale.

Biblisch gesprochen sollte der Rest der belebten Natur dem Menschen untertan sein, an die säkularisierten Bedürfnisse angeglichen, seinen Interessen dienen. Womit der gedankenlose - religionsfreie bis religionsfeindliche - Mainstream der heutigen Praxis prächtig zu gedeihen vermag.

BSE und Massenkeulung

Millionen in EU-genormten Stallsilos und Legebatterien eingezwängte Tierkohorten zeugen davon. Erst wenn Maul- und Klauenseuche, BSE und Separatorenfleisch an den Verbraucherinteressen, vielleicht sogar an einer - rudimentär vorhandenen - Ästhetik rührt, wenn Massenkeulung und Kadaverfraß ins öffentliche Bewusstsein rücken, beginnt der Zweifel des Konsumenten an der selbstherrlichen Verwertung der Tiere und ihrer Produkte.

Dann findet auf einmal Hans Wollschlägers Fastnachtspredigt zum unserer Kultur innewohnenden "Potential Mengele" selbst in wirtschaftsnahen Blättern Gehör. Auch andere Größen unseres Geistesleben wie Durs Grünbein oder der Südafrikaner J. M. Coetzee wagen den politisch "unkorrekten" Tabubruch. Freilich ist gerade Coetzee vor plumper Verdächtigung gefeit - dank unangreifbarer Vergangenheit im Apartheids-Südafrika und dank glaubwürdiger Literatur.

Coetzee wählt in seinem Buch "Das Leben der Tiere" nicht die für diesen Stoff naheliegende Gattung des Essays, vielmehr ein literarisches Zwischending, eine Mischung aus Erzählung, Vorlesung und Streitgespräch. Der argumentative Teil nimmt unmittelbar Bezug auf Kafkas Parabel "Ein Bericht für eine Akademie" über den Schimpansen Rotpeter, der von der Goldküste zu den Menschen gelangte und zu einem der ihren gewandelt werden sollte.

Die Protagonistin verkörpert eine alternde feministische Tieraktivistin und zugleich Verfasserin berühmter Romane. Die Dame ist auf einer Vortragsreise bei ihrem Sohn und dessen Familie zu Besuch und hält an der örtlichen Universität zwei Vorlesungen über das bewusste Thema. Als engagierte Schriftstellerin darf sie subjektiv ihren Standpunkt pro Tiere, vegetarische Ernährung, gegen die Gefangenschaft hinter Zoomauern und Laborglas formulieren - man wird es einer mit dem Herzen sprechenden Autorin kaum verübeln.

In den praktischen und zwischenmenschlichen Episoden, etwa beim Vollzug von Familienmahl und Kolloquiums-Schmaus, treten amüsante Komplikationen auf, die den gedanklichen Kern der Geschichte herrlich illustrieren. Der freundliche Sohn, Dozent für Physik und Astronomie, versucht zwischen Hühnchen essenden Kindern, gereizter Ehefrau und der exzentrischen Mutter zu vermitteln, die ihrem Sohn auch im öffentlichen Seminar keine Peinlichkeit erspart. Ungeniert pendelt ihre Rede zwischen Descartes, Kafka, dem Gestaltpsychologen und Schimpansenforscher Wolfgang Köhler oder der Frage nach der Innen- und Außenwelt der Tiere: "Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?" Freilich gibt Mrs. Costello damit nur ihre Antwort auf einen tatsächlich abgefassten philosophischen Aufsatz unter ebendiesem Titel.

Die eigentliche erzählerische Raffinesse besteht darin, dass die von den verschiedenen Kombattanten vorgebrachten Argumente durchaus ernst zu nehmen sind, sich nicht einfach abschütteln lassen oder sogar eine gewisse Faszina-

tion ausstrahlen. Coetzee ergreift also nicht selbst unmittelbar Partei, sondern lässt den pluralistischen Disput zu. Auch indem und wie Coetzee einen jüdischen Briefschreiber den Auschwitzvergleich der Protagonistin als billigen Argumentationsmissbrauch zurückweisen lässt, ist diese Assoziation eben nicht billig (selbst wenn sie sich letzten Endes als unhaltbar erweisen sollte).

Ein weiteres Stil- und Konstruktionsmittel, das der mehrfach ausgezeichnete Essayist und Romancier meisterhaft verwendet, sind die eingeschalteten Fußnoten, die wie in einer wissenschaftstheoretischen Abhandlung gewichtigen Quellen und seriösen Studien entstammen. Obendrein darf das editorische Drumherum als Ausweis gelten: Der Erstabdruck der knappen 80 Seiten "Belletristik" erfolgt ausgerechnet in der renommierten Princeton University Press, die für das Publikationsniveau in den exakten Wissenschaftsdisziplinen Maßstäbe setzt.

Federleicht wird der Behaviorismus aus den Angeln gehoben, was im Rückblick kaum verwundert. Diese Lerntheorie folgte auf die Psychologengeneration, die noch an den Reiz-Reaktions-Mechanismus geglaubt hatte. In der neuen Lehre wurde das tierliche Wesen von vornherein zur bloßen Reaktions-Verstärkungs-Lernmaschine degradiert. Hebel, Farbbirnen und Pellets für die Ratte, Signalleuchten, Pickstelle und Körner für die Taube: Legionen dieser Labortiere arbeiteten sich in der berühmten Skinner-Box ab. Doktrinär beharrte die mächtige Wissenschaftsschule darauf, die gesamte Vielfalt und Komplexität des Verhaltens mit einem einzigen Prinzip erklären zu können. Sie hatte sich ihre bequeme, widerspruchsfreie Welt geschaffen, indem sie alles ausblendete, was kognitive Fähigkeiten, Gefühle und Bewusstsein betrifft, in der Gewissheit, dem Forscherdrang blieben innere Denkkonstrukte und Psyche auf alle Zeiten hermetisch verschlossen. Doch ihr verkrusteter Totalitätsanspruch geriet angesichts der dynamischen Entwicklung in den theoretischen und Naturwissenschaften ins Wanken.

Durchdachte, ausgeklügelte Versuchsanordnungen, in denen Vertreter des Affengeschlechts mit Problemlöse-Situationen konfrontiert wurden, deuten tatsächlich auf mentale Zustände, zumindest aber auf komplexe Vorgänge unter der Schädeldecke, obgleich die Art und Weise ihres Wirkens einschließlich der psychischen Korrelate noch völlig im Dunkeln liegt.

Tierische Intelligenz

Was ging in der Schimpansin "Julia" vor, als sie ein Brettlabyrinth, offensichtlich planend und abwägend, bis zu 75 Sekunden musterte, bis sie "endlich" den Eisenring vom Startpunkt auf der richtigen Spur zum Ziel zog? Wissen beispielsweise Schimpansen über das Wissen ihrer Artgenossen oder ihres Pflegers Bescheid? Fragen dieser Art sind nicht mehr Wissenschafts-Parias vorbehalten, sondern werden heute in führenden Fachjournalen diskutiert. Weiterhin offenbarten in den letzten Jahren luzide Experimente an ganz verschiedenen Spezies, etwa auch Tauben, diffizile Leistungen der Begriffsbildung.

Eher als manche gestandenen Exponenten der exakten Wissenschaften mit objektivem Anspruch, aber bereits abgeschlossenem Weltbild, scheinen gelegentlich von Zweifeln geplagte Dichter zu kritischer Betrachtung fähig. Wohl deshalb kommt der Leser von Coetzees Streitschrift in den Genuss der Erörterung, ob Menschenaffen zu Verbrechen und ähnlichen Kleinigkeiten in der Lage sind. "So intelligent Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans auch sind, es lässt sich nicht nachweisen, dass sie Verbrechen begehen, und in diesem Sinne müssen sie wie Kinder oder geistig nicht kompetente Menschen behandelt werden", lautet die Antwort aus dem Lager der Vorkämpfer für die Menschenrechte für die großen Menschenaffen.

Gefürchteter Repräsentant ist der in Australien lehrende Philosoph Peter Singer. Auf Betreiben dieser Bewegung gestand in Neuseeland kürzlich das Parlament eines Staates den höchstentwickelten Primaten zum ersten Mal grundlegende Menschenrechte zu. Das Ringen zwischen zorniger Vermenschlichung und unterkühlter Sachlichkeit um Rotpeter geht weiter. Vielleicht sind es die Erfahrungen aus dem Apartheid-Regime und die Umgebung der afrikanischen Wildnis mit ihren zurückgedrängten Bewohnern, die den Literaturprofessor J. M. Coetzee dazu prädestinierten, Kafkas äffisches Alter Ego Rotpeter in einen aktuellen Stoff so überzeugend einzuschmelzen.

J. M. Coetzee: Das Leben der Tiere. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag 2000, 95 Seiten.

H. Blumenberg: Löwen. Bibliothek Suhrkamp 2001, 117 Seiten.

Freitag, 05. Oktober 2001

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