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Dicker Bursche mit großem Maul

Kabeljau: Nahrungsmittel, Industrieprodukt, umkämpfte Spezies
Von Peter F. N. Hörz

In vielen Wiener Beisln wird sein paniertes und gebackenes Filet freitags mit Erdäpfelsalat serviert. Bei einer großen Fastfood-Kette geht er, in kompakter Form, ebenfalls gebacken, darüber hinaus aber eingeklemmt zwischen die zwei Hälften einer supersoften Semmel täglich tausendfach über die Theke. Und überhaupt: Er ist in unseren Küchen allgegenwärtig. Aber eigentlich ist Kabeljau das Letzte. Nur der Seelachs, der zu Recht meist weniger als die Hälfte kostet, ist noch schlimmer. Da ist Kabeljau dann immer noch das kleinere Übel. Und im Kartoffelmantel gebacken, wie etwa im Hamburger Hafen-Restaurant Rive, wird der Kabeljau sogar noch zu einem sehr ansprechenden Gaumenkitzel. Und im Vergleich zu manch feistgefüttertem Billiglachs aus der maritimen Großmastanstalt will der glückliche, weil in Freiheit aufgewachsene Kabeljau dann doch noch zum erfreulichen Ereignis werden. Ein stets erfreuliches Ereignis ist auch die Leber des Kabeljau, die übrigens identisch ist mit Dorschleber, denn Dorsch und Kabeljau sind synonyme Begriffe für die mitunter recht dicken Burschen. Unerfreulich indessen ist die in der Regel biographisch erste Bekanntschaft mit diesem Fisch, denn der ach so entwicklungsförderliche Lebertran wird aus der Leber dieser Tiere erzeugt.

Ja, der Kabeljau ist in der Tat ein Allerweltsfisch. In vielen Meeren heimisch, vielseitig nutzbar und auf Angelausflügen an Nord- und Ostsee sogar einigermaßen leicht zu fangen. Dafür aber ist er, zumindest im Sommerhalbjahr, nicht unbedingt delikat. Im Winter ist das anders, denn da setzt der Kabeljau Fett an, weil er im Jänner und Februar fit sein muss für das anstrengende Laichgeschäft. Ach ja, Tante Erna, die Fischerstochter, die in dem schleswig-holsteinischen Hafenstädtchen Eckernförde in einem kleinen Lädchen gebrauchte Armeekleidung und Bootsausrüstungen verkaufte, liebte den Kabeljau vor allem in Senfsauce. Besonders aber liebte Erna dessen Augen; die waren für sie das Größte am Kabeljau . . .

Kein Edelfisch

Der Kabeljau, ein Fisch also, der in unseren Breiten noch immer häufig auf den Tisch kommt. Nicht besonders teuer, aber auch nicht mehr gerade billig. Kein Edelfisch, den man in Nobelhotels auf silberner Platte serviert bekäme. Und dennoch: Ein ansehnliches Tier, das mit seiner rotbraun bis olivgrün marmorierten Haut recht hübsch aussieht und dessen großer Kopf mit dem weit aufgerissenen Maul durchaus beeindruckend wirkt.

Und sonst? So harmlos der Kabeljau auch wirken mag, so aufregend ist seine Geschichte. Nicht seine Evolutionsgeschichte, nein, sondern die Kulturgeschichte, die sich um des Fisches willen entwickelt hat. Denn um den Kabeljau wurden Kriege geführt und wegen des Kabeljaus sind ganze Städte in unwirtlichen Weltgegenden erbaut worden. In schlechten Zeiten - die VertreterInnen der älteren Generation, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt hat, können ein Lied davon singen - war es der eingesalzene Kabeljau, der zum Überleben beitrug. Und noch heute sind es die Fangquoten für diesen Fisch, die auf dem internationalen Parkett die Gemüter erhitzen.

Dass dieses Tier, mit der Fähigkeit, Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Bewegung zu setzen, heute überhaupt noch in den Weltmeeren vorkommt, ist der geradezu unverschämten Überlebensfähigkeit seiner Art zu verdanken. Zunächst wäre da die legendäre Fruchtbarkeit von Gadus morrhua: Ein Kabeljau-Rogner von einem Meter Länge produziert gegen drei Millionen Eier. Wird das Tier noch einige Zentimeter länger, so können es auch dreimal soviel sein. Schwindelerregende Dimensionen, die Alexandre Dumas in seinem "Grand Dictionnaire de cuisine" von 1873 zu einer denkwürdigen Betrachtung veranlassten: "Wenn aus allen Eiern ungehindert Jungfische schlüpfen und (. . .) heranwachsen würden, so bräuchte es (. . .) nur drei Jahre, um das Meer so anzufüllen, dass man auf dem Rücken von Kabeljauen trockenen Fußes über den Antlantik wandeln könnte."

Große Widerstandskraft

Freilich, wir alle wissen es: Bei keiner Fischart werden alle Eier zu ausgewachsenen Tieren. Mit seiner erstaunlichen Widerstandsfähigkeit gegen allerhand Krankheiten und Parasiten jedoch ist der Kabeljau selbst in Zeiten verdreckter Meere noch einigermaßen überlebensfähig. Und weil er mit seinem scheunentorgroßen Maul alles verschlingt, was ihm begegnet, kommt dieser Fisch auch dann noch zurecht, wenn sich andere Arten - mangels bevorzugter Nahrung - längst verdünnisiert haben. Gierig wie er ist, schwimmt er, offenen Mauls, durch die Meere und schluckt dabei mehr als ihm selbst lieb sein kann: In seinem Magen findet man Wattwürmer, Krebse und Fische aller Art - einschließlich der eigenen -, aber auch Plastikbecher und Kronkorken. Was immer auch ein bisschen Licht reflektiert und somit an einen Beutefisch erinnern mag, der Kabeljau wird es inhalieren.

Doch diese draufgängerische Gier macht das Tier auch anfällig für einen lebensgefährlichen Betrug: Weil der Kabeljau nicht lange fragt, was ihm vor die Linse treibt, schnappt er allzu gerne zu, wenn ihm Gummiwürmer und silbrige Blechstücke mit Drillingshaken angeboten werden. Und wenn er einmal hängt, dann hängt er. Wie einen nassen Sack darf ihn der Hochseeangler dann aus dreißig Meter Tiefe heraufpumpen. Kein aufgeregtes Schütteln, kein panisches Umsichschlagen. Sportfischer, die gerne mit der Beute kämpfen, kaltblütige Menschen

also, die den Adrenalinstoß beim Fischen suchen, haben deshalb auch nicht allzu viel Freude am Kabeljau . . .

Sehr viel Freude an diesem Tier hatten indessen die weniger am Sport und vielmehr am Erfolg orientierten Erwerbsfischer. Und das schon von alters her und jahrhundertelang: Ende des 15. Jahrhunderts meldete der Mailänder Gesandte in London seiner Herrschaft beglückt: "Das Meer dort wimmelt von Fischen, für deren Fang man keine Netze braucht, sondern bloß Körbe, die man mit einem Stein hinablässt, damit sie sinken." Ganz vom kolonialen Beuterausch benebelt, berichteten Engländer im 18. Jahrhundert von der amerikanischen Ostküste selig über Kabeljaue, "so groß wie ein Mann". Der wilde Westen erlebte den Goldrausch, Neufundland dagegen einen rauschhaften Fischzug nach dem anderen.

Anfang des 16. Jahrhunderts machte neufundländischer Salzkabeljau 10 Prozent des Fischhandels in portugiesischen Häfen aus. Auf dem Markt von Rouon wurde Kabeljau zur hauptsächlichen Handelsware. Und bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts war Kabeljau zum meistverzehrten Fisch Europas geworden. In einer beispiellosen Jagd wetteiferten die europäischen Nationen und ihre Kolonien fortan um den Kabeljaufang. Des Fisches wegen wurden Schiffe gebaut, Hafenanlagen errichtet oder erweitert und in Salzgewinnung und Fischtrocknung investiert. Das Wachstum schien unendlich. In der "Cyclopedia of Commerce and Commercial Navigation" des Jahres 1858 ist zu lesen: "Kabeljau - eine Fischart, die so allgemein bekannt ist, dass sie keiner Beschreibung bedarf. Sie ist unvorstellbar fruchtbar. Leewenhoek zählte in einem Kabeljau 9,384.000 Eier - eine Anzahl, die alle Bemühungen des Menschen vereiteln wird, den Fisch auszurotten." Und gut 30 Jahre später erklärte das kanadische Landwirtschaftsministerium: "Wenn die Naturordnung nicht von Grund auf umgestürzt wird, werden unsere Fischgründe noch Jahrhunderte lang reiche Erträge bringen."

Nun, der Kabeljau ist noch nicht ausgerottet. Insofern waren die Prognosen aus dem 19. Jahrhundert nicht verkehrt. Aber sie waren auch nicht völlig richtig, denn die schönen Vorstellungen von einem unermesslichen Fischreichtum waren illusionär, denn es gelang dem Menschen tatsächlich, die Naturordnung umzustürzen. Vielleicht nicht gerade von Grund auf, aber doch nachhaltig genug, dass selbst der scheinbar unermessliche Reichtum an Kabeljau spürbar abgenommen hat. Solange die harten Männer in ihren Booten gegen Wind und Wetter ankämpfen und nebenbei mit der Handleine Kabeljaue angelten, musste der Begriff Überfischung nicht erfunden werden. In dem Maße jedoch, wie die Fangmethoden verfeinert und die Fischverarbeitung industrialisiert wurde, schwanden die unüberblickbaren Kabeljauschwärme dahin. Und in dem Maße, wie die Bestände schrumpften, mussten die Fangmethoden optimiert und die Verarbeitung rationalisiert werden.

Führend auf diesem Gebiet waren stets die europäischen Küstenländer, da dort die Fischgründe länger befischt wurden und schneller ausgedünnt waren als etwa in Nordamerika. Und es war gerade die Nordsee, in der die neuen Fangtechnologien stets als erstes zum Einsatz kamen, weil hier acht europäische Fischfangflotten miteinander wetteiferten. Dampftechnik und Verbrennungsmotoren schufen die Voraussetzung für immer leistungsfähigere Trawler, die mit immer größeren Schleppnetzen die Fluten durchpflügten und immer mehr Fisch an Land brachten. Der Fang vervielfachte sich binnen weniger Jahrzehnte. Seefisch wurde ein billiges Nahrungsmittel und gelangte, dank der Eisenbahn, bis weit in die Binnenregionen hinein.

Effiziente Vermarktung

Doch je billiger der Fisch wurde, desto mehr mussten die Fischer liefern, um einigermaßen rentabel wirtschaften zu können. Der periodisch wiederkehrende Preisverfall führte immer wieder zum Chaos auf dem Fischmarkt und schon 1902 hatte der britische Konsul in Genua erkannt: "Es wäre weit besser, zu dem alten System der Segelfrachtschiffe zurückzukehren."

Doch Technik und Wirtschaft wiesen eine andere Route: Zu der im 20. Jahrhundert ständig verbesserten Kühltechnologie trat die Filetiermaschine und beide Techniken miteinander schufen die Voraussetzung für das tiefgefrorene Kablejaufilet und - schlimmer noch - für das Fischstäbchen.

Weil die Nachfrage nach den Filets wuchs und beim Filetieren gut ein Drittel vom Kabeljau übrig bleibt, etablierte sich neben der Fischindustrie eine Fischabfallindustrie, welche die Kabeljaureste zu Viehfutter und Düngemittel verarbeitete. Doch, man ahnt es schon: Die immer perfekteren Ortungs-, Fang- und Verarbeitungsmethoden, die neuen Distributionsformen für Seefisch, eine mitunter gezielte Gammelfischerei, welche schon die Kabeljau-Kinderstuben leerfegte, all dies blieb nicht ohne Folgen. Schon 1949 musste sich eine internationale Kommission mit Strategien gegen die Überfischung der Kabeljaubestände auseinandersetzen. Und dieser Kabeljau-Kommission sollten viele weitere folgen.

Zwar hatte man schon Anfang des 20. Jahrhunderts zur Kenntnis genommen, dass der Kabeljau in der Nordsee allmählich selten geworden war, richtig ernst genommen hatte man dieses Wissen allerdings nicht. Hektische diplomatische Betriebsamkeit und langwierige Konferenzen führten letztlich zu nichts anderem als zu immer schärferen Auseinandersetzungen um den Fisch. Von Kriegsschiffen eskortierte Fischdampfer, Kollisionen auf hoher See, Schießereien beim Fischfang und gekappte Netze, solche Meldungen gehörten in den sechziger und siebziger Jahren zum Alltag. Besonders in den Gewässern rund um die Fischerinsel Island. Die Lust auf Fisch hatte einen unerwarteten Krieg ausgelöst: den Kabeljaukrieg.

Und heute?

Der Niedergang der Fischerei ist in vielen Küstenregionen spürbar. Wo dank Kabeljau einst das Wirtschaftsleben pulsierte, grassiert heute die Arbeitslosigkeit. Wer an Nord- oder Ostsee Fisch isst, bekommt oft russische Ware, die in Norwegen verarbeitet worden ist. Wo sich auch nur eine Rückenflosse zeigt, sind hochtechnisierte Flotten zur Stelle und die Bestände rasch verbraucht. Nicht nur im Falle des Kabeljaus. Der dicke Bursche mit dem großen Maul und dem Bartfaden am Unterkiefer ist in vielen Gegenden rar geworden.

Mancherorts dürfen selbst die Einheimischen nur mehr an wenigen Tagen im Jahr beschränkte Mengen Kabeljau für den Eigenbedarf anlanden. Einst ein Arme-Leute-Essen ist der Kabeljau heute in gutbürgerlichen Häusern durchaus speisekartenwürdig, und mitunter preisen Wirte selbst den Seelachs (der übrigens alles andere ist als ein Lachs!) als Freitagsspezialität an.

Im Verlauf von einem Jahrhundert haben technische und wirtschaftliche Entwicklungen eine Tierart an den Rand des Verschwindens gebracht. Kein anderer Wirtschaftszweig verweist deutlicher auf die Endlichkeit irdischer Ressourcen als die Fischerei. Doch die Kabeljaugeschichte ist zugleich Spiegel der Menschheitsgeschichte: Ihn zu fangen bedeutete zunächst nur Überleben, später Sattwerden, allmählich Vollversorgung und Wohlstand, schließlich aber Preisverfall und ruinösen Wettbewerb. Natürlich lässt sich auch der Kabeljau künstlich vermehren, doch die Kabeljauzucht hat ihre Tücken: Einerseits muss die Nahrung der Zuchttiere aus gefangenen Meerestieren gewonnen werden. Andererseits führt das Leben in der Fischfarm zu einer Verkümmerung der Kabeljauinstinkte und zum Verlust wichtiger physiologischer Funktionen. Wie schon im Falle der Lachse ist zu befürchten, dass davonschwimmende Zucht-Kabeljaue ihre Haustier-Eigenschaften in wildlebende Populationen einführen. Was aber wäre ein Kabeljau, der sich nicht mehr benimmt wie ein Kabeljau? Was wäre, wenn die Biester, weil an Proteinkekse gewöhnt, nicht mehr mit weit aufgerissenem Maul durch die Eckernförder Bucht schwimmen würden? Dann würden sie am Ende Blinker und Gummiwürmer ignorieren.

Zum Weiterlesen empfohlen: Mark Kurlansky: Kabeljau. Der Fisch, der die Welt veränderte. Claassen-Verlag, München.1999

Freitag, 16. Februar 2001

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