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BSE: Resultat und Metapher der modernen Hygienekultur

Vom Schlachtfest zum Schnelltest

Von Bernhard Kathan

Ins Jahr 1850, mitten in die Diskussion um Frankreichs erstes Tierschutzgesetz, fiel ein Zeitungsbericht über einen Jungen auf dem Land, der seine kleine Schwester mit einem Messer tötete, nachdem er zugesehen hatte, wie ein Schwein geschlachtet wurde. Offensichtlich spielte er Schlachten, wobei er seiner Schwester die Rolle des Schweins zuwies. Die damaligen Tierschützer argumentierten, wer beim Schlachten zusähe, gewöhne sich an den Anblick des Blutes und an das Leid der Tiere. Dies mache ihn zu einem unbeherrschten, grausamen Menschen. Das Motiv des Jungen, der seine Schwester tötet, nachdem er beim Schlachten zugesehen hat, findet sich auch im Grimmschen Märchen "Wie Kinder Schlachtens miteinander gespielt haben". In dieser Version stirbt nicht nur das Kind, welches das Schwein spielen muss. In einer absurden Kettenreaktion folgt ein Tod dem anderen. Die Mutter, die gerade ihr jüngstes Kind badet, läuft aus dem Haus, als sie das Geschrei hört. Sie sieht das Unglück, zieht das Messer aus dem Hals des getroffenen Kindes und sticht es dem tief ins Herz, welches Metzger gespielt hat. In der Zwischenzeit ertrinkt das jüngste Kind im Bad. In ihrer Verzweiflung erhängt sich die Frau. Der heimkehrende Mann stirbt aus Gram.

Solche Geschichten dienten einem bürgerlichen Publikum zur Erbauung. Es ging weniger um Tierliebe als um Affektkontrolle wie um neue Regeln des Verhaltens im öffentlichen Raum. Mit Hilfe des anderen ließ sich nicht nur das eigene Verhalten als richtig behaupten, sondern über die zunehmenden Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft hinwegsehen, die jedem Menschen dieselben Rechte zugestand, während die Einkommensschere zunehmend auseinander klaffte. Nicht zufällig sollten Marx und Engels im "Kommunistischen Manifest" auch gegen die "Abschaffer der Tierquälerei" polemisieren. Dieser Widerspruch kommt in den ersten Schlachthöfen besonders gut zum Ausdruck. Im 19. Jahrhundert setzten sich zunehmend gesetzliche Regelungen durch, die bestimmten, dass das Schlachten von Tieren in geschlossenen Räumen vorzunehmen sei. Was damals aus Gründen der Sittlichkeit wie der Hygiene behauptet wurde, hatte seine eigentliche Zielsetzung darin, Bewegungsabläufe in den Bereichen der Produktion wie des Handels zu beschleunigen.

BSE wird als Erkrankung gesehen, die unvermittelt über die europäischen Konsumenten gekommen ist. Als Ursache wird die Verfütterung von Tiermehl an Rinder angenommen. Die eigentlichen Ursachen der Verbreitung von BSE sind paradoxerweise das Ergebnis einer Hygienekultur, vielleicht der umfassendsten und extremsten, die es je gegeben hat. Wer immer an Schlachtabfälle und Tiermehl denkt, assoziiert dies mit Schmutz. Trotz des unbestreitbaren Gestanks in Tierkörperverwertungsanlagen ist diese Vorstellung falsch. Von BSE versteht man vielleicht nur dann etwas, wenn man in das 19. Jahrhundert zurückkehrt und sich mit dem Kampf gegen schlechte Ausdünstungen, mit Psychiatrien, dem Kanalsystem oder Schlachthöfen befasst, die an der Peripherie großer Städte errichtet wurden.

Der bürgerlichen Hygienekultur des 19. Jahrhunderts verdanken wir vor allem die Prinzipien der Diskretion und Entmischung. Wir begegnen diesen Prinzipien im privaten Leben ebenso wie in den Bereichen der Produktion. Die vielfältigsten Regeln, die für die Tafel galten, hatten ihre Entsprechungen in der Organisation der Produktionsbetriebe. Auf den ersten Blick hätten etwa die Gegensätze zwischen bürgerlicher Esskultur, am dichtesten in der bürgerlichen Tafel inszeniert, und den Schlachthöfen nicht größer sein können. In jener Zeit, die benötigt wurde, an der Tafel einen Kapaun kunstgerecht zu tranchieren, töteten und zerlegten in den Schlachthöfen schweißgebadete Körper eine Unzahl von Schweinen. Während es da duftete, machte sich dort Gestank breit, während dort alles im Schmutz versank, wurde da jede noch so kleine Unordnung schon nach kürzester Zeit in Ordnung verwandelt. Dennoch lassen sich beide Orte nicht isoliert voneinander denken. Den Überfluss an Bratenstücken, der zumindest in Kochbüchern und der Benimm-Dich-Literatur behauptet wurde, gab es nur, weil er andernorts abgeschöpft wurde. Die Tafel konnte sich endlos in die Länge ziehen, weil andere einem strikten Zeitreglement unterworfen wurden. Die bürgerliche Tafel ist nichts als eine Spiegelung der industriellen Produktion.

Zirkulation als Prinzip

Das Bürgertum kannte eine besondere Vorliebe für naturwissenschaftliche Bücher und technologische Entwicklungen. An die Stelle des symbolischen Tauschs, wie ihn im 19. Jahrhundert die kleinbäuerliche Kultur noch kannte, traten Vorstellungen einer ständigen Kreislaufbewegung, eines Prozesses der Organisation und des Zerfalls: Wird ein organischer Körper nach seinem Tod durch kleinste Organismen zersetzt, geht er entweder als Kohlensäure und Wasserdampf in die Atmosphäre über oder verbleibt aufgelöst in kleinste Substanzen im Erdreich. So dient er Pflanzen, diese wiederum mit ihren Fetten und Kohlenhydraten oder ihrem Eiweiß den Tieren als Nahrung. Dieser Kreislauf zwischen Pflanzen und Tieren wird nur dort unterbrochen, wo die Pflanzen für ihre Fotosynthese Sonnenlicht benötigen.

Solche Erkenntnisse wurden gleichsam zum Modell einer Gesellschaft, die durch die Zirkulation von Geld und Waren bestimmt wurde. In den Fabrikationsprozessen fanden sie ihre unmittelbare Anwendung. Mit Hilfe mechanischer und chemischer Verfahren ließen sich nahezu alle Stoffe in ihre Bestandteile zerlegen und zu neuen Substanzen zusammenfügen. Auch Schlachtabfälle wurden nahezu restlos verarbeitet. Messerhefte, Klebestoffe, Leim, Schuhcreme, Kerzen, Seife oder andere Reinigungsmittel wie Dünger zählten zu den ersten Produkten. Das Blut geschlachteter Tiere diente zur Zuckerraffinierung, zur Herstellung "tierischer Kohle" oder zur Erzeugung von Farbe. Aus Fetten ließ sich später der Butterersatz "Margarine" herstellen. Schlachtabfälle wurden bereits sehr früh zu Futtermitteln verarbeitet, die nicht nur an Hühner oder Schweine, sondern auch an Rinder verfüttert wurden. Verständlicherweise setzte dieser Prozess in den riesigen Schlachthöfen von Chicago früher als in Europa ein.

Auch die kleinbäuerliche Kultur verwertete die geschlachteten Tiere nahezu vollkommen. Dies war jedoch nicht nur Ausdruck von Armut, es entsprach einer grundlegenden Verpflichtung gegenüber dem getöteten Tier. Die Verpflichtung, den ganzen Tierkörper zu verzehren, nichts davon wegzuwerfen, lässt an Opferkulte denken, die in ähnlicher Weise den Verzehr des ganzen Körpers verlangten.

Franz Fischler, der nur zu gerne anführt, Rinder seien zu Kannibalen herabgewürdigt worden (ich habe keinen Zweifel, dass Rinder mit Tiermehl durchsetztes Getreide besonders mögen), ist zu raten, sich genauer mit der Frage des Kannibalismus zu beschäftigen. Er sollte etwa Jean de Lérys "Brasilianisches Tagebuch" aus dem Jahr 1557 lesen. Würde er dies tun, seine nächste Rede würde wohl anders klingen. Léry, dessen Beschreibungen der menschenverzehrenden Tupinamba auch heute noch ein bemerkenswertes ethnologisches Dokument darstellen, nicht zuletzt deshalb, weil es ihm gelang, den schwierigen Spagat zwischen eigener und fremder Kultur zu ertragen, erklärte den Kannibalismus als "Rachegelüste". Die Tupinamba bedürften des Tötungsaktes, um sich für künftige Auseinandersetzungen anzustacheln. Er dachte also nicht an ein Opfer. Dabei konnte er ohne Mühe den Kannibalismus der Tupinamba wie andere Calvinisten mit den Vorstellungen der Katholiken vom Abendmahl vergleichen.

In dieser für Léry fremden Gesellschaft war die Tötung wie der Verzehr der Gefangenen höchst ritualisiert und basierte auf einem komplexen System wechselseitiger Abhängigkeiten. Der Verzehr des Opfers verlangte und billigte wiederum Opfer der feindlichen Stämme. Das Opfer willigte nicht nur in seinen Tod ein, der Tötungsakt fand im Zentrum des Dorfes, unter Anwesenheit der Dorfbewohner statt. Der Leichnam des Opfers musste, bevor er zerlegt und auf die Bratroste gelegt wurde, entsprechend gereinigt werden, und natürlich sollten alle der Anwesenden vom Fleisch essen können. Es ging nicht darum, Hunger zu stillen, sondern um einen symbolischen Akt.

Das verbindet die Tupinamba mit der kleinbäuerlichen Kultur. Das Schlachtessen ließ weder vergessen, dass getötet, noch, welches Tier getötet wurde. Der Tötungsakt erforderte, dass zumindest bei größeren Tieren bestimmte Teile davon an andere abgegeben wurden oder andere am gemeinsamen Essen teilnehmen mussten. Beim Blutwurstessen konnte der Metzger im Mittelpunkt stehen. Man war ihm dankbar, hatte er einem doch die traurige Arbeit abgenommen. Ihm wurde meist als erstem die Schüssel gereicht. Besonders beim Schwein erwies sich das erste Essen als Totenmahl für das Tier. Die Blutwürste lagen in der Mitte des Tisches. Meist wurde das Fleisch gelobt.

Geschlachtet konnte erst werden, wenn sich das Schwein schuldig gemacht hatte. Das hört sich eigenartig an, aber man sagte, dieses oder jenes Schwein tue nicht mehr recht oder es sei böse - man müsse es schlachten. Dabei wurde das Schwein einzig deshalb gemästet, um getötet und verzehrt zu werden. Wurden Kühe oder Stiere geschlachtet, so fing man das Blut mit einem Kübel auf und leerte es in den Trog der Schweine, die das warme Blut mit solcher Gier tranken, dass die ausgestoßenen Luftblasen das Blut aufkochen ließen. Nach diesem lustvollen Sättigungsvorgang waren die Köpfe der Schweine bis über die Ohren rot bespritzt. Den Schweinen stand dieses Blut zu. Wurde ein Tier geschlachtet, so forderte der Stall seinen Teil.

Wissen um die Herkunft

Besorgte Konsumenten fragen sich heute, ob sich Bestandteile vom Rind auch in Medikamenten, in Kosmetikartikeln, in Gummibärchen befänden. Die Tupinamba hatten solche Probleme ebenso wenig wie die kleinbäuerliche Kultur. Sie wussten genau, wann sie Menschenfleisch aßen, mehr noch, sie wussten, welchem Gefangenen, welchem Ereignis es zuzuordnen war. Wie wichtig diese Gewissheit war, zeigen andere kannibalische Riten. Auf den Fidschi-Inseln wurde üblicherweise mit den Fingern gegessen, wurde jedoch Menschenfleisch verzehrt, so benutzte man mehrzackige hölzerne Spießchen, ähnlich unseren Gabeln. Der außerordentliche Verzehr wollte bezeichnet sein.

Die kleinbäuerliche Kultur hat nie geleugnet, dass es sich beim Töten eines Tieres um einen Akt der Gewalt handelt. Im Gegensatz dazu betont die bürgerliche Hygienekultur die Diskretion des Produkts im Sinne einer neutralen und letztlich unberührten Ware. Im Idealfall vermag diese nicht länger daran zu erinnern, dass die Arbeit vieler Menschen, die oft unter erbärmlichen Bedingungen leben, für ihre Fertigung erforderlich war, dass - auf Fleisch bezogen - Tiere wie Industrieprodukte hergestellt werden. BSE erinnert uns auch eindringlich daran, dass Fleisch eine Geschichte hat, die keineswegs neutral ist.

Wird, um weitere BSE-Fälle zu vermeiden, eine genaue Herkunfts- wie Identitätskontrolle gefordert, dann geht es um den Versuch, dem "Produkt" wieder eine Geschichte zuzugestehen. Mag sich das einzelne Tier mittels konservierter Gewebeproben gentechnisch eindeutig bestimmen lassen, es wird nach wie vor ein industrielles Produkt bleiben. Seine Geschichtlichkeit wird sich für den Konsumenten - abgesehen von Bildern, die er allgemein mit Rindfleisch in Verbindung bringt - einzig auf den Kaufakt, die Zubereitung wie den Verzehr beziehen.

Auch wenn wir wissen, dass der Verzehr von Fleisch den Tod eines oder vieler Tiere voraussetzt - kaum jemand weiß um den harten Fall eines Rindes, um sein kurzes Innehalten, bevor es in sich zusammenstürzt, um das unverwechselbare Schreien von Schweinen, welches diese nur angesichts größter Lebensgefahr von sich geben. Das muss man allerdings sinnlich erleben; da genügen Bilder von Gehirnschnitten, Schlachthöfen oder Schweineställen nicht.

Es ist zwar traurig, entbehrt allerdings nicht einer gewissen Ironie: Nachdem die kleinbäuerliche Kultur innerhalb weniger Jahrzehnte in einem für viele bäuerliche Familien dramatischen Prozess ihren Niedergang erlebt hat, wird die alte Landwirtschaft von jenen eingeklagt, die maßgeblich zu ihrer Zerstörung beigetragen haben. Natürlich ist dieser Niedergang auch in der kleinbäuerlichen Kultur selbst begründet. Sie konnte sich über Jahrhunderte hinweg gegen alle Katastrophen behaupten, Hungersnöte ebenso überdauern wie Kriege, Ausbeutung, Epidemien oder Naturkatastrophen, der Mechanisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft wie den damit verbundenen Versprechen hatte sie jedoch nichts entgegenzusetzen. Das Leben der Bauern war alles andere als ein ländliches Idyll. Sie verdanken der Technik Einkommenssicherheit, die Möglichkeit, sich für oder gegen die Landwirtschaft zu entscheiden. Mit ihrer Hilfe gelang es, sich aus den Zwängen einer schwierigen Gemeinschaft zu emanzipieren. Allerdings haben die Bauern damit auch ihren Stolz verloren, ihre narrative Kultur aufgegeben.

Werden Landwirtschaftsminister zu Ministern für Verbraucherschutz, dann bestätigt dies, dass das Bild des Bauern längst hinfällig ist. Renate Künast zeigte sich anlässlich ihres Ganges durch die Grüne Woche tierfreundlich. Sie ging in die Hocke, nahm etwas Heu und hielt es vor die Schnauze eines Rindes. Das Rind zeigte nicht die geringste Lust. Wie sollte es auch, stand es doch inmitten von Heu. Der Versuch zum Tieridyll steht keineswegs im Widerspruch zur Ausbeutung von Tieren, im Gegenteil, beides bedingt sich. Was sich im 19. Jahrhundert abzuzeichnen begann, ist heute an einen vorläufigen Endpunkt gelangt. BSE wird die bürgerliche Hygienekultur des 19. Jahrhunderts zu einer beängstigenden Perfektion führen. Den "Schnelltests" an Tieren werden solche an Menschen folgen. Das Wort "Schnelltest" wirkt so mächtig wie ein Schlussstein in einem mittelalterlichen Deckengewölbe. Es absorbiert alle Widersprüche unserer Gesellschaft und macht alle gleich.

Freitag, 16. Februar 2001

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