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Mühsamer Weg ins Meer

Auf griechischen Stränden belegen Schildkröten und Touristen dieselben Plätze
Von Christian Pinter

6.30 Uhr: Sonnenaufgang an Kretas Nordküste. Die ersten Touristen taumeln schlaftrunken aus den Hotelzimmern, um sich schattige Liegeplätze zu reservieren. Der Tag verspricht heiß zu
werden. Drei junge Leuten marschieren am Meeresufer entlang. Mit an den Boden geheftetem Blick steuern sie eines der seltsamen Metallgestelle an, die am Rande des schmalen Strands aufragen. Sie
scheinen etwas zu überprüfen, machen Notizen.

Plötzlich taucht vor ihren Augen ein schwarzer Punkt im Sand auf: ein kleiner Kopf mit langem Hals, eine Flosse, noch eine Flosse, ein herzförmig zugespitzter Panzer. Die winzige Schildkröte
strampelt sich frei, drängt sofort Richtung Meer. Ihr folgt eine zweite, eine dritte. Immer mehr quellen hervor.

Mit sandverklebten Augen und tolpatschigen Bewegungen schleift das kaum 5 cm kleine Junge den dunklen Panzer über den Boden. Die Flossen reichen nicht, ihn hochzustemmen. So wird das Krabbeln
beschwerlich. Jede Unebenheit ist ein Massiv, das erklommen werden muß, jeder Fußabdruck ein Abgrund, in den das Tier hineinstürzt. Still verfolgen die Betrachter sein mühsames Tun.

7 m sind zurückgelegt. Die erste Schildkröte erreicht das Wasser, kämpft gegen die Fluten. Zunächst schwimmt sie auf der Wellenkrone, wird aber brutal ans Land zurückgeschleudert. Irritiert hebt sie
den Kopf, beginnt den zweiten Versuch. Auch dieser scheitert. Endlich taucht sie unter den Wellen durch. Ab und zu lugen noch Haupt oder Flossen aus der Gischt, dann ist der Aufbruch ins Meer und
somit ins Leben geschafft. Ohne vom Muttertier begleitet zu werden, müssen Meeresschildkröten in wenigen Minuten unendlich viel lernen.

Elf kleine Kinder sind aus dem Blickfeld verschwunden. Von jetzt an ist Wasser ihr einziger Lebensraum. Es deckt den Tisch mit Quallen, Seeigeln, Krabben, Schwämmen und Seegras. Caretta caretta
ist die einzige Schildkröte, die an griechischen Stränden nistet. Am Ende ihrer Jugendtage mißt sie 80 cm und wiegt soviel wie ein erwachsener Mensch. Die rotbraunen Vorderflossen sind kräftiger
Antrieb, die Hinterflossen dienen als Ruder. Der stromlinienförmige, enge Panzer bietet wenig Widerstand, hemmt aber auch die Atmung. Zum Glück verkraftet das Blut viel Kohlendioxid und erlaubt lange
Tauchgänge. Sinkt die Temperatur unter 14 Grad Celsius, gräbt sich das Tier im Meeresboden ein.

Einst verschüttete Pallas Athene etwas vom Göttertrunk Ambrosia. Eine Schildkröte trank davon und wurde unsterblich. Die alte Legende spiegelt das Staunen der Menschen früherer Zeiten über
die hohe Lebenserwartung der Tiere wider. Sie übertraf die eigene deutlich.

Heute wissen wir, daß die Caretta 80 Jahre alt werden kann. Doch sie ist verwundbar geworden. Bei stürmischem Nordwind treibt Teer auf die Strände. Erbost scheren sich Touristen das klebrige Zeug von
den Füßen. Rasch versichern Einheimische, daß der Dreck nicht von griechischen Tankschiffen stamme. Die empfindlichen Meeresbewohner kümmert die Urheberschaft nicht - für sie können die Ölrückstände
tödlich sein.

Viele Schildkröten verfangen sich außerdem in den Netzen der Fischer, reißen sich Flossen ab und ertrinken jämmerlich. Küstenfischer, durch industriell arbeitende Flotten unter Druck geraten, machen
sie für beschädigte Fanggeräte verantwortlich. Manche erschlagen verletzte Tiere.

Gefahr aus Plastik

Schildkröten existieren seit 200 Millionen Jahren. Sie haben zugesehen, wie Säugetiere und Vögel entstanden. Sie überlebten das Massensterben vor 65 Millionen Jahren, das zahlreiche Tier- und
Pflanzenarten auslöschte. Die Natur hat es gut mit ihnen gemeint. Die Entwicklung der Kunststoffindustrie konnte sie aber nicht vorhersehen: helle, im Meer treibende Plastiksäcke ähneln Quallen. Sie
werden verschluckt und verstopfen die Gedärme.

In den letzten Jahrzehnten ist der Bestand der Caretta deutlich geschrumpft. 1981 wurde sie zur bedrohten Art erklärt und unter Schutz gestellt. Fangen und töten darf man sie seither nicht. Für den
Erhalt ihres Lebensraum gibt es jedoch keine Garantie.

Im Alter von etwa 30 Jahren erreicht die Caretta Geschlechtsreife. Sie erinnert sich genau an den Weg, der sie einst ins Meer führte. Zum Nisten sucht sie stets den Strand ihrer Geburt auf. Die
Eiablage geschieht nur alle zwei bis vier Jahre und findet in den Monaten Juni bis September statt. Im Schutz der Nacht schleift die Caretta ihren 80 kg schweren Körper ein paar Meter weit ins
Landesinnere. Raubtiere hätten leichtes Spiel, denn schnelle Flucht ist unmöglich. Der schmale Panzer erlaubt es nicht, Kopf oder Flossen einzuziehen.

Über 100 Eier werden vom Weibchen ein paar Dezimeter tief im Sand vergraben. Gleich danach taucht es zurück ins Meer. Wenn Menschen oder Lichter nicht stören, kommt es im Abstand mehrerer
Nächte wieder, um weitere Nester anzulegen. Acht Wochen lang brütet nur die Wärme des Sands die tennisballgroßen Eier aus. Dann schlüpfen die Jungen. Es dauert einige Tage, bis sie sich durch den
Sand nach oben gestrampelt haben. Dicht unter der Oberfläche halten sie inne, um auf das abendliche Absinken der Temperatur zu warten. Sengende Hitze würden die Kleinen nicht verkraften. In der Nacht
sind sie vor Raubvögeln außerdem sicherer. Die Überlebenschancen steigen nochmals, wenn sie sich gemeinsam auf den Weg machen. Daher versuchen sie, die Bewegungen ihrer Geschwister zu erahnen. Die
Erschütterungen von Fahrzeugen oder Menschen können den Fahrplan durcheinanderbringen und zum vorschnellen Auftauchen aus dem Sand verleiten.

Eier unter Sonnenliegen

Sand ist unbedingte Voraussetzung zur Eiablage. Doch auf Kreta ist er rar. In den Sommermonaten zählt man eineinhalb Millionen Touristen. Auch sie zieht es vor allem zum Sandstrand. Im Gegensatz
zu den Schildkröten spielen sie eine wichtige Rolle für die kretische Wirtschaft. "Jeder sechste Bewohner", betont Eleni, die für ein lokales Reisebüro arbeitet, "lebt von den Gästen". Sie bringen
die Inselökonomie vier Monate lang in Schwung. Mit dem jetzt erworbenen Lohn müssen viele Kreter das ganze Jahr lang auskommen.

Wenn die Caretta zum ersten Nisten an Land kommt, erkennt sie ihre Kinderstube kaum wieder. In den sechziger Jahren waren die Strände leer und einsam. Heute reiht sich Hotelkomplex an Hotelkomplex.
Umsiedeln kann man die Tiere schon wegen ihrer Heimattreue nicht. Touristen von den Nistplätzen auszusperren, würde die Wirtschaft schlecht vertragen. Also vergraben die Weibchen ihre Eier nächtens
auch zwischen Sonnenliegen und Schirmen. Ihre Jungen bahnen sich den Weg durch Fahrzeugspuren oder Reste zerfallener Sandburgen. Die bevorzugte Uhrzeit trennt die Strandbenützer noch. Doch auch der
Tag-Nacht-Rhythmus wird zunehmend durchbrochen.

Der Legende nach war es Merkur, der aus dem Panzer einer Schildkröte die erste Leier formte. Orpheus wagte sich damit in die Unterwelt. Nach seinem Tod wurde die Leier ans Firmament versetzt. Alte
Namen des Sternbilds wie "Dem Meer Entstiegene" oder "Wassertier" erinnern noch an die Geschichte. Der gleißende Hauptstern, Wega, zählt zu den hellsten des Sommerhimmels. Die meisten anderen
Gestirne sucht man von Kretas Touristenorten aus vergeblich. Die grellen Strahler der Hotelanlagen machen die Urlaubsnacht zum Tag. Hotels, Bars, Tavernen und Diskos sind oft direkt an den
schmalen Strand gesetzt. Ihre Lichter geraten zur tödlichen Falle. Auf dem Weg ins Meer orientiert sich das Junge auch an der Reflexion des Mondes oder der ersten Dämmerung in den Fluten. Kunstlicht
leitet es irre. Die Odyssee endet nach Tagesanbruch. Das Kleine stirbt vor Erschöpfung oder vertrocknet in der Sonne.

Unzählige in den Sand gesteckte, fast kniehohe Palisaden sollen das Streulicht fernhalten. Die aneinandergereihten Strohmatten bilden Korridore zwischen jeweils ein oder zwei Nestern und der
Flutlinie. Sie helfen den Jungen, rascher ins rettende Meer zu finden. Da man nicht weiß, in welchen Nächten die Kleinen schlüpfen werden, müssen die Palisaden täglich neu auf- und abgebaut werden.
Ehrenamtliche Mitarbeiter der Sea Turtle Protection Society of Greece, kurz "STPS", kümmern sich darum.

Bekannt wurde die Organisation für ihr Engagement auf der Insel Zakynthos, dem wichtigsten Nistgebiet. Ende der achtziger Jahre gelang es dort, Schutzzonen durchzusetzen. Verbauung, Strandzugang,
Beleuchtung und Motorbootbenützung wurden in bestimmen Gebieten limitiert, in anderen sogar verboten.

Auf Kreta mußte man solche Pläne rasch aufgegeben. Der Fremdenverkehr ist zu wichtig. Hier soll ein Miteinander von Tourismus und Tierschutz erreicht werden: Während die Urlauber in der Sonne
schmoren, reift ein paar Zentimeter unter ihnen die nächste Generation Meeresschildkröten heran.

Die STPS überwacht auf Kreta rund 30 km Strand im Hauptnistgebiet östlich von Rethimnon, bei Hania und Matala. Dort zählt und kennzeichnet man jedes Jahr 500 bis 800 Nester. Sie werden mit Steinen
und runden Metallgestellen markiert. So will man ein versehentliches Ausgraben durch spielende Kinder verhindern. Außerdem vereiteln die sogenannten "Käfige", daß Sonnenliegen die Brut dauerhaft
abschatten.

Doch auch der langsam wandernde Schatten der Sonnenschirme könnte Folgen haben. "Die Zahl der Weibchen geht zurück. Es scheint, als würden bei geringer Sandwärme vorwiegend Männchen schlüpfen", meint
Aliki. Zusammen mit der Deutschen Daniela und dem Kanadier Ralph mustert sie auch an diesem Morgen den zugewiesenen Strandsektor. Man sucht nach neuen Nestern und zählt die Spuren geschlüpfter
Jungtiere. Während Daniela die Palisaden einrollt, hält Aliki jede Beobachtung in ihrem Büchlein fest. Später setzt man diese Daten mit der Dichte touristischer Einrichtungen in Beziehung, um
den Einfluß des Fremdenverkehrs erforschen zu können. Um Mitternacht werden die jungen Leute wiederkommen, die Strohmatten erneut aufstellen und Nachtschwärmer bitten, den Strand zu verlassen. An
Land kriechende Muttertiere sollen sich bei der Eiablage nicht gestört fühlen.

Strandmanagement

Oft werden die Tierschützer bei der Arbeit von neugierigen Zaungästen angesprochen. "Das ist gut," erläutert Aliki, "denn so werden viele Touristen zum ersten Mal mit dem Problem konfrontiert".
Direkter Kontakt am Strand, abendliche Diavorträge und Flugblätter sollen helfen, möglichst vielen Besuchern Verhaltenstips mitzugeben. Wichtig ist dabei die Zusammenarbeit mit den Strandbetreibern.
Einige Hotelketten haben mittlerweile sogar Nester adoptiert.

"Die Großen kooperieren eher", bestätigt Thanos Belalidis, der Projektkoordinator der STPS auf Kreta. "Wir machen ihnen klar, daß die Gäste nach Kreta kommen, um eine gesunde Umwelt zu erleben. Und
die Schildkröten sind ja auch ein sichtbarer Beweis für die Wasserqualität." Dann erzählt er weiter: "Die größte Gefahr ist die Unwissenheit der Leute. Früher wußten die örtlichen Behörden nicht
einmal, daß es Schildkröten gibt, heute zeigen sie an ihrem Schutz Interesse. Das zu sehen ist eine große Ermutigung."

Allerdings setzen viele Hotels bei der Strandreinigung noch immer auf schwere Maschinen, die für Jungtiere unüberwindlich tiefe Rillen in den Sand schneiden. Noch schlimmer steht es um die
"Lichtverschmutzung". Dabei wäre das Streulicht durch Abschirmungen an den Beleuchtungskörpern leicht vermeidbar. Auch die Sonnenliegen verbleiben nachts meist am Strand, wo sie Muttertiere beim
Graben der Nester behindern. Die freiwillige Zusammenarbeit der Hotels hat offensichtlich Grenzen. Daher überreichte die STPS der Europäischen Union und den griechischen Behörden jetzt einen
detaillierten Managementplan, der das Verhalten von Strandbetreibern und -benützern verbindlich regeln und den Schildkrötenschutz auch finanziell absichern soll. Immer wieder unterstreicht man die
Dringlichkeit: Sind die Meeresschildkröten erst einmal vom Strand verschwunden, kehren sie nicht mehr wieder zurück.

Wir treffen Ralph an einem der sieben hölzernen Infostände der STPS in Rethimnon. "Über 100 Junge sind heute Nacht allein an unserem Strand geschlüpft", berichtet er mit zufriedenem Gesicht. Er wohnt
mit anderen unbezahlten Helfern aus Griechenland, Großbritannien, Deutschland, Schweden, Schweiz oder üsterreich in einem einfachen Camp mit Fließwasser und Duschen. "Kampieren ist gratis", lacht der
Kanadier. Für alle anderen Kosten wie Anreise und Verpflegung kommt er selbst auf. Morgen wird Ralph vielleicht erneut flache Gräben durch die Unebenheiten des Sands ziehen, um einem besonders
schwachen Nachzügler ein wenig zu helfen. Die Jungen selbst werden niemals berührt - selbst dann nicht, wenn sie stundenlang vergeblich gegen die stürmische Brandung ankämpfen und immer wieder an
Land gespült werden. Man ebnet ihnen den Weg, mehr nicht.

Freilich ist es auch ein Weg ins Ungewisse. Jene Winzlinge, die es diesen Sommer ins Meer geschafft haben, kehren erst in den zwanziger Jahren des nächsten Jahrhunderts zurück, um dann selbst ihre
ersten Eier zu vergraben. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie Kretas Strände dann aussehen werden.

Freitag, 10. Juli 1998

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