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In den Pyrenäen sollen wieder Braunbären angesiedelt werden

Der Kampf des Bärenvaters Rigoni

Von Thomas Veser

Von Neugierde getrieben, lief der zottlige Bewohner des Kocejve-Waldes am Maifeiertag 1997 direkt in die Schlingenfalle, die französische Biologen in den frühen Morgenstunden auf dem Boden ausgelegt hatten. Nachdem die Häscher ihren Gefangenen betäubt hatten, verfrachteten sie den 235 kg schweren Braunbären hinter die Gitter eines Stahlkäfigs und starteten mit ihrem Transportfahrzeug in Richtung Südwestfrankreich. Am Rand der Ortschaft Melles fand die Entführung 25 Stunden später ihr Ende. Von der Reise noch benommen, rappelte sich Pyros, wie der unfreiwillige Einwanderer aus Mitteleuropa später getauft wurde, schließlich auf, versetzte der Tür des Fahrzeugs ein paar wuchtige Prankenhiebe und trollte sich mit wütendem Brummen in Richtung Wald. Das etwa sechsjährige Braunbärenmännchen, nach Darstellung der Biologen "nicht angriffslustig und sehr menschenscheu", ist nicht der erste seiner Art. Die zwei Braunbärinnen Mellba und Ziva waren bereits im Sommer des vergangenen Jahres auf gleiche Weise von Slowenien in die dichten Pyrenäenwälder des Départements Haute-Garonne verfrachtet worden.

In diesem Gebirgsabschnitt, in dessen Wälder der Pyrenäenbraunbär wahrscheinlich schon seit 1980 nicht mehr vorkommt, sollten Pyros und seine Artgenossinnen den harten Kern einer lebensfähigen Bärenpopulation bilden. Zwar leben im westlichen Teil der Pyrenäen - im Nationalparks Vallée d'Aspe - noch etwa fünf bis sechs Vertreter der Bärenart "Ursos Arctos", jedoch nicht einmal ihr Bestand scheint langfristig gesichert. Denn seit 1980 hat in den gesamten Pyrenäen die Zahl der Sohlengänger, wie der Bär in der Biologie genannt wird, jährlich im Schnitt um ein Tier abgenommen.

Daß im oberen Abschnitt der Haute-Garonne drei Braunbären heimisch werden konnten, ist dem Bürgermeister von Melles zu verdanken. André Rigoni (65), seit 1971 Gemeindeoberhaupt des Bergdorfes an der Grenze zu Spanien, engagiert sich seit Ende der achtziger Jahre für die Wiedereinführung der Petze. Damals leisteten sich die Pyrenäendörfer zur Ankurbelung des Tourismus oft eigene Skistationen, die sich heute zunehmend als finanzielles Desaster erweisen.

Das Sinnbild der Pyrenäen

"Der Braunbär ist nicht nur das sinnbildliche Tier unseres Gebirges und damit fester Bestandteil unseres natürlichen Erbes", bekräftigt Rigoni, den man rund um Melles anerkennend "P_re des ours" (Bärenvater) nennt. "Er gibt eine Antwort auf die Frage, ob unsere Flora und Fauna in den Pyrenäen tatsächlich noch so unversehrt ist, wie wir nur allzu gerne glauben." Er ist fest entschlossen, den Beweis zu erbringen, daß - ähnlich wie in den italienischen Abruzzen - die Koexistenz von Mensch und Bär miteinander vereinbar ist.

Rigoni wußte von Anfang an, daß er für dieses Projekt einen langen Atem braucht. Seit einem Jahrzehnt wirbt er um Sympathien für ein als bösartig eingestuftes Raubtier, "das bei den Bergbewohnern nach wie vor irrationale Ängste auslöst." Je weiter die Ortschaften vom Ansiedelungsgebiet entfernt liegen, desto positiver fiel die Reaktion der Menschen aus. In den Grundschulen des Umlands wetteiferten begeisterte Schüler um die originellsten Namen für die neuen Gäste, die ehemalige französische Umweltministerin Corinne Lepage ließ sich gar für eine Bärenpatenschaft gewinnen.

Zuvor hatte Rigoni das traurige Schicksal der Pyrenäenbraunbären, die noch um die Jahrhundertwende einen Bestand von 100 bis 150 Exemplaren aufwiesen, im Ausstellungsraum seines Rathauses mit aufrüttelnden Fotos und Schriftstücken dokumentiert. Üblicherweise boten die Besitzer von Schafherden professionellen Bärenjägern für jeden erlegten Petz Naturalien, die Behörden zahlten ihnen sogar Prämien. Nicht wenige der Bärentöter brachten es während ihrer Aktivzeit auf bis zu 50 Tiere.

Zusammen mit ihren Trophäen ließen sich die Helden nach der Hatz stolz ablichten. Besonders hoch im Kurs waren mutterlose Junge, die in den Bergdörfern von Bärenführern noch bis Anfang der fünfziger Jahre als touristische Attraktion vermarktet wurden und meist nach kurzer Zeit starben.

Als die Zahl der Pyrenäenbraunbären damals auf schätzungsweise 70 Exemplare zusammengeschmolzen war, erließen die französischen Behörden ein Jagdverbot. Ein Zeitgenosse, der sich 1965 für den offiziell bisher letzten Abschuß eines Bären vor Gericht verantworten mußte, verteidigte sich mit dem Argument, er habe aus "Notwehr" gehandelt. Im Gespräch mit den älteren Bergbewohnern stieß André Rigoni auf den stärksten Widerstand: Nun habe man doch so lange gebraucht, um den "Erbfeind" auszurotten, habe man ihm zu bedenken gegeben, warum sollte man die Bestie jetzt wieder einführen? Rigoni ließ sich nicht beirren und ergriff zunächst Maßnahmen, die seine Beliebtheit nicht unbedingt steigerten: Er setzte durch, daß die Anzahl der Jagdscheine verringert wurde, verbot den Einsatz von Geländewagen im geplanten Wiederansiedlungsgebiet und ließ dort den Holzeinschlag für einen unbestimmten Zeitraum einstellen.

Dann überzeugte Rigoni die Nachbargemeinden Boutx, Arlos und Fos von seinem Vorhaben. Zusammen gründete man den interkommunalen und gemeinnützigen Zweckverband ADET (Association pour le développement économique et touristique) und wandte sich an die Behörden, die ihn bei den Bemühungen unterstützten, die Europäischen Gemeinschaft (EU) für die Wiederansiedelung des Braunbären auf einer Fläche von 13.000 ha in die Pflicht zu nehmen.

Dank "Life", wie Brüssel eines seiner Umweltschutzprogramme taufte, wird seit 1993 die Wiedereinführung des Pyrenäenbraunbärs über einen Zeitraum von vier Jahren mit 7,5 Mill. Francs bezuschußt. Bis 1999 beteiligt sich Brüssel mit annähernd 140 Mill. Schilling an der Wiedereinführung bestimmter Tierarten. Weitere Beiträge leisten Paris und Madrid, da "Life" als grenzübergreifendes Programm zwischen Nationalstaaten angelegt ist. Zu den Partnern zählen neben der ökologischen Vereinigung ARTUS, die im Vorfeld die ersten wissenschaftlichen Studien erstellt hatte, inzwischen sogar der Jägerbund sowie die Forst- und Jagdbehörden des Departements. Seit sich das slowenische Trio an die Gebirgswelt zwischen Frankreich und Spanien gewöhnt, stehen sie unter permanenter Überwachung. Da jedes Tier ein Halsband mit Sender trägt, lassen sich die ausgedehnten Wanderrouten von Pyros, Ziva und Mellba - die Bärinnen haben inzwischen zusammen drei noch im slowenischen Bärenwald gezeugte Jungbären zur Welt gebracht - ziemlich exakt nachvollziehen. Ausscheidungen und Spuren an Bäumen geben weitere Aufschlüsse über ihre Ernährungsgewohnheiten, die sie im neuen Lebensraum gewaltig umstellen mußten. Erhielten die zu 20 Prozent fleischfressenden und zu 80 Prozent auf pflanzliche Nahrung angewiesenen Tiere in Slowenien täglich Viehkadaver auf einem Futterplatz, müssen sie sich in den Pyrenäen ihre Mahlzeiten selbst besorgen.

Und damit standen dem Bärenvater neue Probleme ins Haus: Hielten sich die inzwischen ausgerotteten Pyrenäenbraunbären aus gutem Grund von den Menschen und ihren Schafherden stets fern, zeigen die slowenischen "Immigranten" zum Leidwesen der Schafherdenbesitzer keine Berührungsängste: Vermutlich geht der überwiegende Teil der 23 getöteten Mutterschafe, die man 1996 registrierte, auf Mellbas Konto.

Der Schrecken der Schafe Die weniger menschenscheuen Bären aus Slowenien haben in der Tat leichtes Spiel: Betreuten vor einem Jahrhundert noch drei bis vier Schäfer eine hundertköpfige Herde, steht heute für 500 und mehr Tiere aus Kostengründen meist nur noch ein Hirte zur Verfügung. Wenn Sachverständige zweifelsfrei abgeklärt haben, daß Tiere von Bären gerissen wurden, erhalten die Betroffenen aus der Kasse des interkommunalen Zweckverbands zwar lukrative Entschädigungen, die den Verkaufspreis eines Schafes auf dem lokalen Markt leicht um das Dreifache übersteigen. Für die Gegner der Bären-Wiedereinführung, die vor allem im katalanischen Val d'Aran jenseits der Staatsgrenze leben, sind diese Zwischenfälle jedoch immer wieder Wasser auf ihre Mühlen.

Gelang es André Rigoni, seine schafzüchtenden Landsleute bei öffentlichen Versammlungen zu beschwichtigen, laufen die aranesischen Herdenbesitzer inzwischen Sturm. Auch sie luden zu öffentlichen Veranstaltungen und konfrontierten die Generalitad in Barcelona (Kataloniens Regierung) mit dem Vorwurf, sie hätte die Wiedereinführung der Bären über ihren Kopf hinweg verordnet. Nachdem einige Schafzüchter, die im Wirtschaftsleben des Val d'Aran eine bedeutendere Rolle spielen als in den angrenzenden Gebieten Frankreichs, wutentbrannt den Griff zur Schrotflinte angedroht und damit die massive Kritik der spanischen Ökobewegung auf sich gezogen hatten, richtete ihr Verband ein Ultimatum an die französischen Partner. Bis Ende August seien Vorkehrungen zu treffen, damit das Trio nicht mehr die Staatsgrenze überschreitet - ein Ansinnen, das von allerhöchstem Witz zeugt, erinnert doch das verwaiste Gemeinschaftszollgebäude am Grenzübergang tief unten im Tal daran, daß der Personenverkehr auf der im Sommer hoffnungslos überlasteten Verbindungsstraße zwischen Spanien und Frankreich dank Schengener Vertrag schon seit Jahren nicht mehr kontrolliert wird.

Ein Wirtschaftsfaktor

In der Hoffnung, daß dieses "südländische Strohfeuer" bald der Vergangenheit angehört, setzen Rigoni und seine Kollegen über die Bärenansiedlung auf einen angemessenen Wirtschaftsaufschwung, das etwa ein Dutzend Arbeitsplätze bringen könnte. In Melles, das um die Jahrhundertwende über 900 Einwohner zählte, leben heute nur noch 109 vornehmlich ältere Menschen, die jungen Leute wandern meist nach Toulouse ab. Allmählich verwandelt sich die Gemeinde mit ihren zum Verkauf stehenden Gebäuden in einen Zweitwohnsitz für Großstädter, die an den Wochenenden und während der Ferien die Ruhe der Bergwelt und die gesunde Luft genießen.

Sollte der Wiedereinführung der Braunbären Erfolg beschieden sein, so wird nach Rigonis Einschätzung auch der "Entdeckungs-Tourismus" davon profitieren. Einige Zukunftsprojekte hat der Maire von Melles mit seinen Kollegen bereits erarbeitet. In Arlos sollen Ferienwohnungen entstehen, Melles kommt als Standort für Kunsthandwerkerateliers in Frage und in Fos ist der Ausbau des Campingplatzes vorgesehen.

Des Bärenvaters liebstes Kind ist jedoch ein "Parc de vision animali_re", der den Bewohnern des Dorfes Boutx eine zusätzliche Einnahmequelle eröffnen könnte. Dazu benötigt die Gegend ein geschütztes Tourismusmarkenzeichen, das die Bürgermeister bereits entworfen und den Behörden zur Genehmigung vorgelegt haben. Wenn Rigonis Pläne aufgehen, könnten die Besucher in diesem Park die Vertreter verschiedener Bärenarten näher kennenlernen, aus Sicherheitsgründen allerdings durch solide Gitterstäbe voneinander getrennt.

Daß Besucher, die sich im unwegsamen Ansiedelungsgebiet aufhalten, die frei lebenden Braunbären nie zu Gesicht bekommen, hat sich Ende September als Irrtum mit fatalen Folgen erwiesen: Mit Beginn der Jagdsaison verfolgte ein junger Jäger nach eigenen Angaben ein Wildschwein und stand, wie er später der Polizei versicherte, plötzlich der nur einen Meter entfernten Bärin Mellba gegenüber. Da die Bärin, um ihre drei Jungen besorgt, auf den Eindringling losgestürzt sei, habe er aus Notwehr auf Mellba geschossen und das Tier, das sein Halsband nicht mehr trug, mit seiner großkalibrigen Jagdwaffe getötet. Alle Versuche, die Jungbären einzufangen, sind bisher gescheitert. "Ohne fremde Hilfe", so Bärenvater Rigoni, "werden sie jedoch den strengen Pyrenäenwinter nicht überleben."

Mittwoch, 20. Mai 1998

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