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"Israel ist kein jüdischer Staat"

Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Yoram Kaniuk
Von Evelyn Adunka

Yoram Kaniuk ist weltweit einer der bekanntesten israelischen Schriftsteller, der auch immer wieder engagiert zu den politischen und religiösen Fragen Stellung bezieht und sich für eine Versöhnung mit den Palästinensern einsetzt. Seine Bücher wurden in 14 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Aus Anlass des 10-jährigen Jubiläums der jüdisch liberalen Gemeinde Or Chadasch war Kaniuk heuer erstmals in Wien zu hören. Er sprach im Wiener Jüdischen Museum über "A Jewish Renaissance or a Renaissance of Judaism in Israel" und stellte in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur sein literarisches Werk vor. Vor allem präsentierte er sein letztes Buch "Und das Meer teilte sich. Der Kommandant der Exodus".

W. Z.: In Ihrem Buch "Das zweifach verheißene Land", das Sie zusammen mit dem arabischen Schriftsteller und Journalisten Emil Habibi publizierten, beschreiben Sie einen Solidaritätsmarsch in den siebziger Jahren für die Rückkehr vertriebener Palästinenser aus den beiden Dörfern Ikrit und Biram. Daran war auch der fast 90jährige Prager Philosoph Hugo Schmuel Bergman, der frühere Direktor der Hebräischen Nationalbibliothek und Rektor der Hebräischen Universitä, beteiligt. Bergman stand für eine Reihe mitteleuropäischer Intellektueller, die in zahlreichen Komitees und Publikationen ihre Vision des humanistischen Zionismus zu verwirklichen versuchten. Welche Bedeutung hatten diese Persönlichkeiten für Ihre Generation?

Kaniuk: Sie waren sehr wichtig für mich; ich hörte zum Beispiel die Vorlesungen von Gershom Scholem über Sabbatai Zwi und den Sohar. Aber sie waren Teil eines anderen Milieus; sie waren kein Teil des pionierhaften Israel. Ihre Wohnungen waren europäisch; es war ein anderer Lebensstil; sie waren sehr humanistisch und unschuldig. Sie lebten nicht in der Realität des Mittleren Ostens, der arabischen Welt; sie ignorierten sie. Aber wir, die jüngeren, waren ein Teil dieser Welt, aber wussten auch, wo wir waren.

Bevor Menschen wie Bergman oder Scholem kamen, war Israel ein Land der Pioniere, der Kibbuzim und Landarbeiter, die sich dem jüdischen Schicksal entgegenstellten, und sich nicht um Kultur kümmerten. In Israel begannen sie, ein modernes Leben zu führen.

Die neue Generation war im erwähnten Sinn weniger jüdisch. Sie kannte keine Diskriminierungen und Israel produziert heute sehr viele kreative Menschen, aber nicht mehr im humanistischen Sinn. Das ist verloren. Stefan Zweig beging Selbstmord, weil seine Kultur vernichtet wurde und er nicht ohne sie leben konnte.

Eine Periode, die so viele Genies produzierte, kann es nicht mehr geben und sie hing mit der abnormen jüdischen Situation zusammen. Der Holocaust hat nicht nur das Leben von sechs Millionen Juden vernichtet, sondern die vielleicht größte Epoche der jüdischen Kreativität seit der Renaissance. Wenn ich die Wahl hätte zwischen einem Leben als Jude im heutigen Israel oder als Jude in Wien vor 60 Jahren, ich würde das Leben in Wien wählen.

W. Z.: Andererseits gibt es jedoch auch heute noch die Kreativität der jüdischen Diaspora.

Kaniuk: Aber sie ist nicht vergleichbar, auch nicht in Amerika. Es gibt nicht mehr die Herausforderung wie früher. Die gesamte kulturelle Tradition war nicht amerikanisch, sie war europäisch. In Israel sind wir zum ersten Mal seit 2.000 Jahren souverän, und das ist ein Unterschied.

Ich verstehe mich als ein jüdischer Autor in Israel, nicht als ein israelischer Autor, wie Amos Oz oder A. B. Jehoshua. In meiner Jugend verstand sich niemand von uns als Jude. Ich bin viel jüdischer geworden in den letzten Jahren.

Wenn Hugo Bergman heute nach Israel kommen und leben würde und er sich mit zehn Schriftstellern treffen würde, wäre ich sicher einer der ersten, die er auswählen würde. Wir würden uns gegenseitig besser verstehen als andere.

W. Z.: Wie erklären sie sich die Diskrepanz, die Sie in dem Roman "Das Glück im Exil" beschreiben, zwischen der Arbeit ihres Vaters als Sekretär des legendären Tel Aviver Bürgermeisters Meir Dizengoff und Kurator des Kunstmuseums einerseits, und seinem Gefühl der Fremdheit, des Exils in Palästina/Israel andererseits?

Kaniuk: Mein Vater verstand sich als Österreicher, er liebte Berlin, aber er besuchte nach dem Krieg nie mehr Deutschland oder Österreich. Er war ein intellektueller Snob; er liebte es, Deutsch zu sprechen und las nur deutsche Bücher, die viel wichtiger für ihn waren als Herzl. Ich weiß nicht, ob er ein Zionist war. Für ihn war die Kultur in Israel sehr dünn, nicht sehr interessant. Er liebte alles, was tot ist, die Literatur, die Malerei, die Musik, die Archäologie.

Mein Vater war ein sehr enger Freund von Bialik. Aber auch Bialik mochte Israel nicht, es war eine Wüste für ihn. Er war vielleicht der größte Kenner der modernen hebräischen Sprache. Aber mit meinem Vater sprach er Deutsch. Er fuhr immer wieder nach Berlin zurück und starb 1934 in Wien. Mein Vater war nicht unglücklich, er war der humorvollste Mensch, den ich kannte, aber er fühlte sich im Exil. Er suchte "Goetheismus" und ich erinnere mich, dass das einzige Mal, wo er mir ein Kompliment gab, war, als "Adam Hundesohn" erschien.

W. Z.: Was brachte Sie auf die Idee, den Roman "Der letzte Jude" über einen Holocaust-Überlebenden, der glaubte, er sei der letzte Jude, zu schreiben?

Kaniuk: Die Holocaust-Überlebenden trauten niemandem. Sie wurden die erfolgreichsten Israelis; sie warteten nicht, dass man ihnen etwas gab, und ihre Kinder wurden Ärzte und Rechtsanwälte. Am Anfang hasste ich die Überlebenden; sie sahen furchtbar aus. Ich sprach mit Hunderten von ihnen und ihre Erzählungen verfolgten mich.

Ich lebte damals in einem sehr armen Bezirk in Tel Aviv und mein unmittelbarer Nachbar war ein polnischer Überlebender namens Gelbard. Er überlebte als einer der besten Möbellackierer in Auschwitz. Er glaubte wirklich, der letzte Überlebende zu sein. Er wusste nicht, was in der Welt passierte oder ob Amerika nicht auch erobert wurde. Er war ein sehr lieber Mensch und ich glaube, er war einer der einflussreichsten Menschen in meinem Leben. Aber er hat das Buch nicht mehr erlebt.

W. Z.: In welchem Sinn ist Israel noch kein jüdischer Staat?

Kaniuk: Israel ist noch kein jüdischer Staat. Die Juden kamen Jahrhunderte lang aus den Ghettos nach Berlin, Wien, Leipzig. Innerhalb von 50 Jahren wurden die europäischen Juden zur bewegenden Kraft der europäischen Kultur, Kunst und Wissenschaft, man braucht nur an Franz Kafka, Walter Benjamin, Albert Einstein oder Alexander Granach denken.

Sie alle waren in einem gewissen Sinn sehr jüdisch, obwohl sie sich zuerst als Deutsche oder Österreicher, und nicht als Juden fühlten. Sie waren Juden nicht nur durch ihr Schicksal, sondern auch, wegen ihrer talmudisch geschulten Denkweise, ihrer Art, Fragen zu stellen. Sie waren Erfinder, sie wurden zur Kreativität gezwungen, weil sie von vielen Berufen ausgeschlossen waren.

Ein jüdischer Staat hat nie existiert und als die Juden Palästina verließen, nahmen sie das Land und gaben es in ein Buch. Die Nation Israel wurde eine Religion. Als der Zionismus begann, musste eine Nation aus der Religion heraus geschaffen werden. Ein jüdischer Staat bedeutet ein religiöser Staat, aber kein demokratischer Staat.

Ich sehe es sehr einfach: Israel ist ein Staat für jeden, der Jude werden oder das Schicksal der Juden teilen will, sei es durch Konversion oder Heirat. Aber Israel ist nicht der Staat aller Juden in der Welt. Israel ist das Land jener Juden, die im Land leben wollen.

Die Juden wurden 2.000 Jahre lang verfolgt, und jetzt leben sie wieder in Deutschland. Das einzige Land, das nie Juden verfolgt hat, ist Dänemark. Das wichtige am Zionismus ist, dass er eine Bewegung ist, die es Nichtzionisten ermöglichte, eine Heimat zu finden. Kein einziger der russischen Juden kam als Zionist. Deswegen war der Zionismus von allen modernen ideologischen Bewegungen am erfolgreichsten.

W. Z.: In Ihrem Essay über Isidor Kaufmann schrieben Sie: "Nach 2.000 Jahren der Versuche, seine Juden loszuwerden, ist es Europa gelungen, sich meines Vaters zu entledigen, eines österreichisch-ungarischen Galizianers, des europäischsten Menschen, den ich je gekannt habe."

Kaniuk: Ich glaube, dass der Antisemitismus ein Teil der europäischen Tradition ist; ob er es wegen des Christentums ist, weiß ich nicht. Die Juden stören. So lange sie existieren, kann das Christentum nicht gewinnen. Weil die Juden Christus nicht akzeptiert haben, mussten sie bestraft werden; heute heißt es nur mehr, sie müssen getauft werden.

W. Z.: Aber heute gibt es in Deutschland zum Beispiel einen Boom an jüdischen Studien und sehr viel Interesse am Judentum.

Kaniuk: Ja, aber das ist wie das Lernen über Dinosaurier oder über etwas, das ausgestorben ist. Heute gibt es kaum mehr Juden in Europa. Ihre Zahl nimmt kontinuierlich ab; in 50 Jahren wird es vielleicht nur mehr eine halbe Million geben.

W. Z.: War die Resonanz auf Ihre Bücher in Israel und in Europa sehr unterschiedlich?

Kaniuk: Für lange Jahre waren meine Bücher in Europa und in den USA erfolgreicher als in Israel. Aber jetzt korrigiert sich dieses Bild. Es hat lange gedauert, aber jetzt akzeptieren mich die Israelis. Früher war ich zu seltsam, zu anders für sie. Im Gegensatz zu den anderen Ländern wollen die Israelis das Gleiche. Ich war immer ein Schriftsteller, der entweder Hass oder Liebe provoziert hat, und ich war froh darüber.

Yoram Kaniuks Roman "Und das Meer teilte sich. Der Kommandant der Exodus" ist heuer im List Verlag auf Deutsch erschienen.

Freitag, 16. Juni 2000

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