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Ein Rufer in vielen Wüsten

Solschenizyn, Alexander

Von Michael Martens

I m Treppenhaus eines gewöhnlichen Moskauer Mietshauses in der Ulitza Sadowaja 302 b, kann man eine seltsame Inschrift lesen: „Voland! Komm zurück! Zu viel Dreck hat sich angesammelt!". Voland ist der Teufel, der in Michail Bulgakows Roman „Der Meister und
Margarita"unvermittelt im Moskau der dreißiger Jahre auftaucht und mit seinen kruden Scherzen den Alltag der verlogenen Metropole eines verlogenen Staates fast zum Stillstand bringt. Das Haus, in
dessen Treppenaufgang ein Eingweihter den Hilferuf an die Hölle hinterließ, ist jenes, in dem Michail Bulgakow 1940 starb. Jahrelang hatte der konservative Autor gegen die Unterdrückung seiner Werke
gekämpft und in einem Brief an Stalin den Mut besessen, die Pressefreiheit zu verteidigen. Das seltsame dabei: Es geschah ihm nichts. Wie in einigen anderen Fällen zeigte sich, daß Stalin, dem
Menschenleben Ziffern waren, persönlichen Mut manchmal zu schätzen wußte.

Während Bulgakow in Moskau im Sterben liegt, bereitet sich in der 500 km südlich gelegenen Hafenstadt Rostow ein junger Mann auf seine Hochzeit vor. Dieser Mann hat mit der zaristischen Vergangenheit
Rußlands nichts mehr zu tun. Er ist Komsomolze, verehrt Lenin und liest Marx · kurz, er gehört zur neuen Generation, zu jenen entschlossenen und rücksichtslosen Kämpfern für den Kommunismus, denen
ganz zweifellos die Zukunft gehören wird. Alexander Issajewitsch Solschenizyn scheint eine große Karriere vor sich zu haben: Als einer von sieben Studenten der Rostower Universität hat er das
begehrte Stalinstipendium erhalten.

Der Dissident und Emigrant Solschenizyn hat sich oft gefragt, warum sich der junge Solschenizyn, der doch ein kluger und aufgeweckter Mensch war, so sehr hat hineinziehen lassen in das System, dessen
Todfeind er später wurde. Als Heranwachsender hatte er doch erlebt, wie Menschen aus einer Umgebung „abgeholt" wurden, hatte gesehen, wie sich das Alltagsleben in Rostow von den „Prawda"-
Reportagen über den ständig steigenden Lebensstandard unterschied. Wieso waren diese Beweise für die Lügen des Systems nicht in der Lage, den jungen Leninisten Solschenizyn skeptisch zu machen?

Später hat er vermutet, daß ein junger Mensch in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, als die Menschen einer allumfassenden Propaganda ausgesetzt waren, kaum anders hätte reagieren können als mit
Hingabe an ein System, zu dem er keine Alternative kannte. In dieser Hinsicht ist Solschenizyns Lebensweg typisch für den eines Intellektuellen im 20. Jahrhundert. Dem unbedingten Glauben an eine
Idee folgen Zweifel, Ernüchterung, Abkehr. Untypisch ist die rücksichtslose Konsequenz der Solschenizynschen Abkehr.

Eine Jugend wie viele

Alexander Solschenizyn wird am 11. Dezember 1918 in Kislowodsk geboren. Ein halbes Jahr vor seiner Geburt stirbt der Vater bei einem Jagdunfall. Die Mutter zieht, um Arbeit zu suchen, nach Rostow,
läßt den Sohn in der Obhut der Großeltern. Bei denen haben sich noch Relikte der Zarenzeit gehalten. Im Kinderzimmer hängt eine Ikone, vor der kniend Solschenizyn morgens auf Geheiß der Großmutter
betet. Viele Jahre später, frierend und gedemütigt, im Lager, wird er sich daran erinnern.

Seine Schulzeit verbringt Solschenizyn bei der Mutter in Rostow. Sein Leben unterscheidet sich kaum von dem vieler Altersgenossen. Klassenprimus. Schreibversuche. Idole Lenin, Tolstoi und Gorki. Will
Schriftsteller oder Schauspieler werden. Träumt von einem Literaturstudium in Moskau, was sich aber zerschlägt, weil er seine kranke Mutter nicht verlassen kann. Statt dessen Mathematikstudium in
Rostow. Krieg. Hauptmann Solschenizyn bekennt in Briefen an seine Frau, daß er für Lenin zu sterben bereit sei. In einem anderen Brief äußert er kritische Gedanken über Stalin. Das ist das Ende des
ersten Lebens von Alexander Solschenizyn. Verhaftung in Ostpreußen.

Das zweite Leben

Das zweite Leben von Alexander Solschenizyn beginnt in der Lubjanka. Selbst dort bleibt er zunächst Leninist. Die Empfehlung eines Mithäftlings, wie Descartes alles in Frage zu stellen, also auch
den Kommunismus, weist er empört zurück.

Dennoch beginnt in der Lubjanka Solschenizyns geistige Wanderschaft. Die Bibliothek der Lubjanka enthält Bücher, für deren Besitz außerhalb ihrer Mauern man schnell innerhalb davon verschwinden kann.
Solschenizyn liest erstmals John Dos Passos, später auch Jessenin und Pasternak. Wäre er nie verhaftet und somit zu einer Umwertung aller Werte gezwungen worden · vielleicht wäre er statt dessen ein
zweiter Scholochow geworden, hätte getrunken und geangelt, statt in Lagern zu sitzen. Im Schuldeingeständnis, das Solschenizyn nach den Kellerverhören schnell unterschreibt, bekennt er sich,
„antisowjetische Propaganda" betrieben zu haben. Das Urteil: Acht Jahre „Arbeits- und Besserungslager" · fast ein Todesurteil. Viele überlebten kein halbes Jahr in solchen Lagern. Zunächst kommt er
in ein Sonderlager, in dem Wissenschaftler beschäftigt sind. Dort lernt er Lew Kopelew kennen, der wegen „bourgeoisem Humanismus" und „Mitleid mit dem Feind" einsitzt. Noch immer glaubt Solschenizyn
an Marx und Engels. Wegen widerspenstigen Verhaltens wird er dann aus dem Sonderlager in ein „normales" Straflager überführt. In den Lagerkomplex Ekibastus, Kasachstan, Gebiet Karaganda. 6.000
Gefangene. Eine Existenz am Rande des Todes. Das Dasein von Alexander Solschenizyn hört auf. Jenes von Schtsch-854 beginnt. Ein kleiner Rest von Solschenizyn existiert noch in Schtsch-854.
Dieser Rest beginnt zu beten.

Entgegen der Wahrscheinlichkeit überlebt Solschenizyn acht Jahre Kälte und Hunger. Im Februar 1953 öffnen sich ihm die Lagertore. Aber in der Sowjetunion Stalins, in der es keine Freiheit, nur
unterschiedliche Grade der Unfreiheit gibt, bedeutet ein Ende der Lagerhaft nicht den Beginn eines normalen Lebens. Solschenizyn ist verbannt bis ans Lebensende. Der ihm zugewiesene Verbannungsort
heißt Kok-Terek, ein staubiges Nest in der kasachischen Steppe. Dort erfährt Solschenizyn von Stalins Tod und muß sich Mühe geben, ein betrübtes Gesicht zur Schau zu stellen. Stalins Untertanen
weinen. Und nicht alle weinen Krokodilstränen. Abgesehen von der frohen Botschaft aus dem Kreml ist Solschenizyns Leben trostlos. Seine Frau hatte sich während der Haftzeit von ihm scheiden lassen,
die Heimat liegt unerreichbar fern, ein Leben weit. Dann diagnostiziert ein Arzt, den Solschenizyn wegen ständiger Magenschmerzen aufsucht, eine weit fortgeschrittene Krebserkrankung. Zwei, höchstens
drei Wochen habe er noch zu leben. Verzweiflung. Wozu noch weiter? Wohin? Warum? Solschenizyn durchlebt die abgrundtiefe Verzweiflung, die einen Menschen zum Menschen macht. Rückblickend schrieb er
später: „Ich fühlte mich betrogen". Solschenizyn ist 35 Jahre alt. Aber zieht man die acht verlorenen Jahre im Lager ab, ist er erst 27.

Ambivalenzen: Derselbe Staat, der ihn ins Lager gesperrt und fast umgebracht hatte, läßt ihm, dem armen Schullehrer, der kaum eine Kopeke besitzt, jetzt kostenlos die bestmögliche Behandlung zuteil
werden, welche die Medizin zu bieten hat. Eines von vielen Wundern in seinem Leben geschieht · er übersteht die Strahlentherapie in einem Taschkenter Krankenhaus und kann, offenbar geheilt, in seinen
Verbannungsort zurückkehren. Dort lebt er in absoluter Genügsamkeit das Leben eines Eremiten. Solschenizyns Hütte ist die letzte am Rande des Dorfes. Dahinter ein paar tausend Kilometer Steppe. Ein
Koffer auf den Knien ist Schreibtisch. Tags unterrichtet er in der Dorfschule, nachts schreibt er · ohne die Aussicht, jemals eine seiner Zeilen veröffentlicht zu sehen. Vor einem russischen
Ingenieursehepaar, das ebenfalls in der Verbannung lebt, und den einzigen Umgang darstellt, den Solschenizyn in dieser auch geistigen Einöde pflegt, liest er manchmal abends aus seinen Werken. Die
beiden sind die einzigen, die von Solschenizyns literarischer Arbeit wissen. Man muß sich das Bild ausmalen, um die verzweifelte Situation zu verstehen: Viele tausend Kilometer von Moskau sitzen drei
Europäer in einer kleinen Hütte unter dem nächtlichen Sternenhimmel Zentralasiens und berauschen sich an der Wirkung von Worten. Wenigstens das hat man ihnen nicht nehmen können. Die beiden Zuhörer
haben diese Leseabende noch nach Jahren als Höhepunkte ihres Lebens bezeichnet.

Der Durchbruch

„Man sagt, die russische Literatur sei tot · verdammt noch mal, hier ist sie, hier, in diesem Aktendeckel!"Alexander Twardowski, Dichter, Chefredakteur der Literaturzeitschrift „Nowi Mir"
, der fortschrittlichsten Publikation in der UdSSR, ist schon am frühen Morgen betrunken. Aber das ist gut so, denn er hat ein Genie entdeckt. Eher gleichgültig hatte er am Abend zuvor, schon im
Bett liegend, in einem Manuskript mit dem seltsamen Titel „Schtsch-854" zu lesen begonnen. Autor war ein gewisser A. Rjasanski. Nachdem Twardowski die ersten Seiten gelesen hatte, stand er
wieder auf und zog sich an. Alles andere wäre ihm als eine Respektlosigkeit jenem Unbekannten gegenüber erschienen, dessen Erzählung grandios begann. Twardowski las mit zunehmender Erregung die ganze
Nacht. Am nächsten Morgen fuhr er wie im Fieber in die Redaktion, um mit jemandem über seine Entdeckung zu sprechen. Viktor Nekrassow lief ihm an diesem Dezembermorgen des Jahres 1961 als erster über
den Weg, und so mußte er sich nun mit Twardowski betrinken und hören, daß da ein großer Schriftsteller erschienen sei · kein Mensch wußte, um wen es sich bei diesem Rjasanski eigentlich handelte.
Durch Kopelews Vermittlung wird Kontakt zu jenem Rjasanski hergestellt. Solschenizyn, der das Pseudonym aus Sicherheitsgründen gewählt hat, lebt inzwischen, nach Aufhebung seiner Verbannung, als
Lehrer in Rjasan. Auf Einladung von „Nowi Mir" fährt er nach Moskau, wo ihn die ganze Redaktion erwartet. Verhandlungen. Der Mann aus Rjasan ist bescheiden, aber unerbittlich. Änderungen an
seinem Manuskript will er nicht zulassen. Schließlich stimmt er immerhin einer Änderung des Titels zu: „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch."

Chruschtschows Datscha am Schwarzen Meer, im September 1962. Der Führer der Sowjetunion hat sich Dichter eingeladen. Die Dichter beginnen über Solschenizyns Erzählung zu diskutieren, die schon
seit Monaten im Samisdat zirkuliert. Chruschtschow will wissen, worum es geht. Man klärt ihn auf und er befiehlt, das Manuskript sofort aus Moskau einfliegen zu lassen. Man liest ihm eine Szene
daraus vor. Der sentimentale Ukrainer ist von der Geschichte des Häftlings Iwan Denissowitsch angeblich zu Tränen gerührt, jedenfalls erlaubt er die Veröffentlichung · gegen die Bedenken einiger ZK-
Mitglieder. Am Jahresende erscheint die Erzählung als Buch und in Zeitungen in einer Auflage von fast einer Million. Sie ist binnen Stunden vergriffen. Solschenizyn wird zu einem Galadiner nach
Moskau eingeladen und Chruschtschow vorgestellt. Händeschütteln. Der Verbannte aus der kasachischen Steppe ist eine Berühmtheit geworden. Doch der Frieden hält nicht lange. Chruschtschow wird
gestürzt, Solschenizyn läßt Mikrofilme von seinem Roman „Im ersten Kreis" anfertigen und außer Landes schmuggeln. Eine weise Entscheidung, denn im September 1965 beschlagnahmt der KGB das
Originalmanuskript. Andropow erklärt auf einer Politbürositzung, auf Solschenizyn und dessen „antisowjetische Haltung" müsse Einfluß genommen werden. Solschenizyn versteckt sich bei einem ehemaligen
Mithäftling im Estland und arbeitet am „Archipel Gulag". Auf einer Reise in den Kaukasus verübt der KGB mittels einer Giftinjektion einen Anschlag auf ihn. Solschenizyn erkrankt schwer,
überlebt aber. Im April 1973, Solschenizyn ist schon Nobelpreisträger, entdeckt der KGB eine der versteckten Abschriften vom „Archipel Gulag" in der Datscha eines ehemaligen Wlassow-Soldaten.
Im Februar 1974 wird Solschenizyn verhaftet und ausgewiesen.

Der Kritiker des Westens

Während seiner Jahre im kanadischen Exil, die arm sind an äußerlichen Ereignissen, treten die weltanschaulichen Positionen Solschenizyns deutlicher hervor. Im Westen ist man überrascht und
konsterniert, als Solschenizyn wiederholt antiliberale Gedanken äußert. Solschenizyn bemerkt, es gebe zwar keine offenkundige Zensur im Westen, aber es würden „modische Gedanken säuberlich von
nichtmodischen getrennt". Je bewegter das politische Leben eines Landes verlaufe, „. . . desto mehr büßt das Geistig-Seelische ein". Er plädiert für eine autoritäre Demokratie, welche die
Menschenrechte achtet, aber jene von ihm als Auswüchse westlicher Freiheiten betrachteten Erscheinungen der Demokratie · Pornographie und sogar Popmusik rechnet er dazu · unterbindet. Die Demokratie
westlicher, vor allem amerikanischer Prägung bezeichnet er wiederholt als untaugliches Modell für Rußland. Mit seinen Zweifeln an den westlichen Demokratien und den Werten der Aufklärung, mit seiner
Weigerung, den Rationalismus als Maß aller Dinge anzuerkennen, handelt er sich schnell Feindschaften ein. Genauso, wie sich der junge Solschenizyn selbst in der Lubjanka nicht vorstellen konnte, daß
es zum Kommunismus eine Alternative geben könne, war es für westliche Intellektuelle unvorstellbar, daß jemand an den Werten der Aufklärung zweifeln könne. Descartes' Übung gilt natürlich immer nur
für die anderen . . .

Die Rückkehr des Dichters

Ein Historienmaler hätte sicherlich ein Bild aus der Szene gemacht: Solschenizyn in Magadan, nach 20 Jahren wieder in der Heimat. Der Dichter im Gespräch mit Marktfrauen und Arbeitern. Die
Kulisse: verrottende Fabriken, verfallende Plattenbauten, ausgeträumte Fortschrittsträume in rostrot. Das Rußland, in welches Solschenizyn 1994 zurückkehrt, liegt am Boden wie nie zuvor in seiner
Geschichte. All die Übel, vor denen Solschenizyn gewarnt hatte, sind eingetreten. Auf den Straßen gilt das Faustrecht, das Land hat sich zu einer wirtschaftlichen Oligarchie gewandelt. Und was
schwerer wiegt für ihn: die Position des Schriftstellers hat · zum ersten Mal in der russischen Geschichte · ihre Bedeutung verloren. Der Autor ist keine moralische Instanz mehr. Das Verlagswesen ist
weitgehend zusammengebrochen, anspruchsvolle Literatur wird kaum noch gelesen. Die Intellektuellen von einst verkaufen neben den

U-Bahn-Ausgängen türkische Unterwäsche. Solschenizyn mischt sich zwar von seinem Wohnsitz in Troize-Lykowo bei Moskau weiterhin vehement ein, aber seine Reden, Artikel und Pamphlete werden im Westen
mit größerem Interesse aufgenommen als in seiner Heimat. Er ist ein Rufer, der die Wüste braucht, um gehört zu werden.

Solschenizyns Beitrag zum Säkulum Nummer 20 nach Golgatha ist die Demaskierung einer der beiden großen Diktaturen dieses Jahrhunderts. Ob literarischer Nachruhm bleibt, wird sich zeigen, wenn das
politische Element seiner Werke endgültig Geschichte geworden ist.

Freitag, 11. Dezember 1998

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