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Vor 150 Jahren wurde in Berlin das erste informationsträchtige Straßenmöbel aufgestellt

Die Säulen des Herrn Litfaß

Berlin, 1855: Ein Werbeblatt für die neuen Anschlagsäulen des Herrn Litfaß.  Abb.: Archiv Payer

Berlin, 1855: Ein Werbeblatt für die neuen Anschlagsäulen des Herrn Litfaß. Abb.: Archiv Payer

Von Peter Payer

Sein Name ist eng verbunden mit einem Straßenmöbel, das heute aus keiner Stadt mehr wegzudenken ist: Ernst Litfaß, Buchdrucker und Verleger in Berlin, gilt als Erfinder der Anschlagsäule. Unermüdlich propagierte er die Verbreitung des von ihm entwickelten Mediums, das die Kommunikation im urbanen Alltag entscheidend prägte.

Ernst Litfaß (1816 bis 1874) war eine schillernde Persönlichkeit. Einer alten Buchdruckerfamilie entstammend, absolvierte er zunächst eine solide Ausbildung als Buchhändler. Er unternahm mehrere ausgedehnte Reisen in die führenden Metropolen Europas, von wo er zahlreiche Ideen und Anregungen für den elterlichen Betrieb mitbrachte. Nach dem Tod des Stiefvaters übernahm er 1845 die Druckerei und den Verlag und brachte, wie bisher, neben diversen Schriften auch regelmäßig Theaterzettel für alle Berliner Bühnen heraus. Außerdem präsentierte Litfaß der Öffentlichkeit ein neues satirisches Wochenblatt namens " Berliner Krakehler", das aber schon nach kurzer Zeit der Zensur zum Opfer fiel. Eine seiner Lieblingsideen war die Gründung einer "Central-Kanzlei", einer Art Theateragentur zur Vermittlung von Schauspielern in ganz Europa – ein Projekt, das er allerdings nie in die Tat umsetzen konnte.

Höchst erfindungsreich

Weit erfolgreicher waren andere seiner Projekte: Angesichts der Schwierigkeiten mit politischen Schriften konzentrierte sich Litfaß künftig auf neutrale Inhalte und verlegte ab 1851 den " Berliner Tagesstelegraph", einen Ratgeber für Theater, Konzerte und Unterhaltungen aller Art nebst ausführlicher Reklame. Die Nachfrage nach derartigen Informationen erwies sich als so groß, dass seine Buchdruckerei sich immer mehr zu einem Reklameunternehmen entwickelte. In diese Richtung ging auch ein neues Projekt, das schon bald sein volles Engagement erforderte – die Errichtung und Propagierung von Anschlagsäulen.

Auf seinen Reisen hatte Litfaß mehrere Typen von Anschlagsäulen kennengelernt. In London standen so genannte "Harrissäulen", benannt nach George Samuel Harris, der sie 1824 zum Patent angemeldet hatte. Es waren dies achteckige Säulen aus Metall und Holz, die mehrere Reihen mit Fächern enthielten, in die Plakate gesteckt werden konnten. Jede Säule war auf einem transportablen Wagen befestigt, in der Nacht konnte sie innwendig mit Lampen oder Kerzen beleuchtet werden.

In Paris wiederum waren schon in den 1830er Jahren völlig andere Plakatsäulen zu sehen: Die so genannten " colonnes des boulevards" dienten neben der Affichierung von Anschlägen auch der Verrichtung der Notdurft, enthielten sie doch in ihrem Inneren ein geräumiges Pissoir. Der Volksmund bezeichnete sie als "Rambuteau’s", nach dem Präfekten Rambuteau, während dessen Amtszeit sie aufgestellt worden waren.

Als neue Werbeträger waren derartige Konstruktionen sichtbarer Ausdruck des gestiegenen Konkurrenzkampfes der frühkapitalistischen Ökonomie. Vor allem in den rapide wachsenden Städten intensivierte sich die Warenzirkulation beträchtlich. Informationen über neue Produkte, aber auch über Theater- und Konzertveranstaltungen sowie andere Unterhaltungsmöglichkeiten wurden zu einem wesentlichen Faktor im bürgerlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsleben. Ihre geordnete Ankündigung traf sich zudem mit dem Interesse der Herrschenden, offizielle Verlautbarungen gezielt steuern und kontrollieren zu können. Insbesondere in Preußen, wo man in den Jahren nach der Revolution von 1848 Zensurmöglichkeiten suchte, um das wilde Plakatieren an Straßenecken, Zäunen und Hausmauern zu unterbinden.

In Berlin amtierte seit November 1848 Polizeipräsident Karl Ludwig Friedrich von Hinckeldey, der mit starker Hand für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung sorgte. Als Litfaß an ihn mit der Bitte herantrat, Anschlagsäulen in der Stadt aufstellen zu dürfen, erkannte dieser darin sogleich ein geeignetes Mittel zur Lenkung der öffentlichen Meinung. Im Dezember 1854 wurden die Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen. Litfaß erhielt die Konzession zur "Errichtung einer Anzahl von Anschlagsäulen auf fiskalischem Straßenterrain zwecks unentgeltlicher Aufnahme der Plakate öffentlicher Behörden und gewerbsmäßiger Veröffentlichungen von Privatanzeigen". Einzige Bedingung war, neben den hundert neu zu errichtenden Säulen auch fünfzig bereits existierende Brunnen und Pissoirs mit Holz zu verkleiden, sodass sie ebenfalls als Anschlagflächen benutzt werden konnten.

Zwar gab es heftigen politischen Widerstand gegen diese Vereinbarung, letztlich behielt Litfaß jedoch seine Monopolstellung in der Stadt. Geschickt verstand er es, Werbung für sein neuestes Projekt zu machen. In den Zeitungen berichtete er laufend über den Stand der Vorbereitungsarbeiten, großflächige Ankündigungsinserate wurden geschalten, und darin die nunmehr genormten Plakatformate und deren Anschlagpreise veröffentlicht. Am 1. Juli 1855 war es schließlich soweit. Die erste Anschlagsäule, aufgestellt vor dem Haus des Reklamemeisters, wurde in einem Festakt ihrer Bestimmung übergeben. Das Publikum bestaunte das neue Straßenmöbel und lauschte der "Ernst-Litfaß-Annoncir-Polka", die beim ungarischen Komponisten Kéler Béla in Auftrag gegeben worden war.

Wenngleich es mitunter auch Kritik ob der ästhetischen Beeinträchtigung des Straßenbildes gab, so waren die meisten Reaktionen auf die Plakatsäulen doch überwiegend positiv. Auch die "Berliner Morgenpost" kommentierte das Ereignis so: " Gestern, Sonntag, verrichteten die Litfaß’schen Säulen zum erstenmal ihren Dienst und versammelten Scharen von Bewunderern im Schatten ihrer Kapitäle. Wenn die Kenner der klassischen Monumente freilich durch die Mischgattung von Kunst und Industriewerk nicht befriedrigt wurden, so ist für mäßige Ansprüche ihr Anblick doch kein unangenehmer."

Zugleich mit der Inbetriebnahme der ersten Säule hatte Litfaß das "Institut für Anschlagsäulen" gegründet, für das er intensiv um Kunden warb. Auf geniale Weise verstand er es, sein Produkt zu vermarkten. Er ließ Miniaturnachbildungen der Säulen zum Verkauf anfertigen und Texte für Straßenmusiker schreiben, die seine Erfindung in alle Teile der Stadt verbreiteten. "Litfaß’ 150 Kinder" wurde zu einem der beliebtesten Gassenhauer jener Zeit, dessen Textvorlage – gekrönt von einem Porträt des Reklamekönigs – man ebenfalls käuflich erwerben konnte.

Auch in den folgenden Jahren sollte Litfaß im Gespräch bleiben. Ganz treuer Untertan, veranstaltete er regelmäßig wohltätige Feste und Vergnügungsveranstaltungen und stellte seine Säulen in patriotischer Manier für wichtige politische und militärische Ankündigungen zur Verfügung. Zu einem der populärsten Männer Berlins avanciert, erhielt er für seine Verdienste im Juni 1863 den Titel "Königlicher Hof-Buchdrucker".

Der Plan, Pissoirs und Brunnen zu Plakatierungsobjekten zu machen, wurde bald aufgegeben, die Anzahl der ausschließlich für Werbezwecke genutzten Säulen stieg in der Folge kontinuierlich. So gab es im Jahre 1880 bereits über 200 Litfaßsäulen in der Stadt. Dass sich das neue Straßenmöbel so erfolgreich durchsetzte, dafür war neben der intensiven Promotion durch ihren Erfinder auch anderes maßgebend. Die geometrische Grundform war einfach und effektiv, die runde Säule brauchte nur eine geringe Stellfläche, bot aber gleichzeitig ein Maximum an Werbefläche, die zudem bequem von allen Seiten betrachtet werden konnte. Kleinere Anschläge hatten darauf ebenso Platz wie die neuen großformatigen Plakate.

Neben der ordnungspolitischen Funktion bot ihre Errichtung auch für die Rezipienten unübersehbare Vorteile. Waren Ankündigungen bis dahin in der ganzen Stadt verstreut gewesen, so konnte man sich nun immer an denselben, leicht erkennbaren Orten über Neuigkeiten informieren.

Litfaßsäulen waren zudem Orientierungspunkte im immer hektischer werdenden Leben der Großstadt. Den Bedürfnissen der sich meist zu Fuß bewegenden Massen entsprechend wurde die Straße als " Wohnung des Kollektivs" (Walter Benjamin) sukzessive mit neuen Einrichtungen ausgestattet. Würstelbuden, Sodawasserhütten, öffentliche Waagen und Uhren, Bänke, Bedürfnisanstalten oder eben Anschlagsäulen gehörten fortan zum Mobiliar des öffentlichen Raumes, der völlig neu gestaltet und geordnet wurde.

Treffpunkt und Leitobjekt

Den rasch wechselnden Reizen der Großstadt entsprach die Litfaßsäule in perfekter Weise. Sie wurde zu einem Ort der flüchtigen Kommunikation, der von allen Menschen ohne soziale, finanzielle oder sonstige Einschränkungen aufgesucht werden konnte. Eine 1880 veröffentlichte Schrift sprach vom endlich befriedigten "geistigen Bedürfniß des großen Publikums", das durch die Anschlagsäulen "in bequemer Weise von Bekanntmachungen der Behörden, von Vergnügungs-, Konzert- und Theateranzeigen Kenntniß erhalte". Ein Leitobjekt der Metropole war geboren, das die Tendenz zur Verschriftlichung des öffentlichen Raumes ebenso zum Ausdruck brachte wie den Beginn des modernen Informationszeitalters.

Information, Werbung, Propaganda – damit sollte das neue Stadtmöbel, das im Nu zu einem beliebten Treffpunkt für Verabredungen geworden war, in Hinkunft assoziiert werden. Schon zu Litfaß’ Lebezeiten waren die Säulen mit ihren Mitteilungen und Botschaften zu literarischen Ehren gekommen, später ließ Ivan Goll in einem grotesken Zweiakter gleich mehrere singende und schreiende Litfaßsäulen auftreten.

Rasch hatte sich die neue Errungenschaft auch außerhalb Berlins verbreitet. Im Jahre 1913 standen rund 20.000 Säulen in 700 deutschen Städten. Auch in Wien waren sie mittlerweile heimisch geworden. Hier hatte sich vor allem der liberale Gemeinderat Josef Klemm – wie Litfaß Buchhändler und Verleger – für deren Verwendung eingesetzt. Ausgestattet mit Giebel und Wiener Wappen, wurden die sechs Meter hohen Säulen insbesondere an frequentierten Plätzen der Innenstadt und entlang der Ringstraße aufgestellt.

Noch heute stehen dort rund 200 Exemplare, allerdings nur Repliken im Design der vorletzten Jahrhundertwende. Sie wurden Mitte der 1980er Jahre errichtet, als die Fin-de-Siècle-Nostalgie auch der Litfaßsäule neue Aufmerksamkeit bescherte. Insgesamt gibt es heute in Wien rund 1.600 Anschlagsäulen, und zwar in verschiedenen Varianten: manche selbstdrehend mit Solarantrieb, andere des Nachts beleuchtet, einige interaktiv mit Internetanschluss. Als "Infopoints" sind sie nach wie vor wichtige Anlaufstellen im Getriebe der Großstadt.

Peter Payer, geboren 1962, ist Historiker und Stadtforscher in Wien.

Freitag, 01. Juli 2005

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